ImAnfang war nicht der Begriff – Zu Schellings Rekonstruktion desJohannesprologs

1. Einleitung

„Ein Wesen, das bloß es selbst wäre, als ein reines Eins (wenn nämlich ein solches, wie wir jetzt annehmen, gedacht werden könnte), wäre nothwendig ohne Offenbarung in ihm selbst; denn es hätte nichts, darin es sich offenbar würde, es könnte eben darum nicht als Eins seyn, denn das Seyn, das aktuelle wirkliche Seyn, ist eben die Selbstoffenbarung. Soll es als Eins seyn, so muß es sich offenbaren in ihm selbst; es offenbart sich aber nicht, wenn es bloß es selbst, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes, und in diesem Anderen sich selbst das Eine, also wenn es nicht überhaupt das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen ist.“ (VII, 54)[1]

Die zitierte Bemerkung stammt aus Schellings 1806 veröffentlichter Schrift 'Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre' (VII, 1-126) und formuliert als Kritik an Fichtes Konzeption des Absoluten seine eigene Position. Ein reines Eins, so lesen wir hier, ist nur als es selbst, wenn es in sich ein anderes ist. Worauf Schelling hier aufmerksam macht, ist der Sachverhalt, daß es nicht einerlei ist, ob der Gedanke des Absoluten nach Maßgabe eines Selbstbewußtseins gedacht wird. Wird es nämlich derart gedacht, dann können wir das Eine nur so denken, daß es sich in seinem Bilde verdoppelt, aber gerade so ist es nicht als es selbst. Als es selbst ist es nur, so will es das Zitat, in einem anderen als es selbst oder in dem lebendigen Band.

In der im Wintersemester 1831/32 in München erstmals vorgetragen Vorlesung über Philosophie der Offenbarung wiederholt Schelling diese Kritik an Fichte im Zusammenhang einer Erläuterung des Johannesprologes. Schelling schreibt hier:

„Auch in bezug auf die Klärung des Wortes 'logos' will ich noch etwas nachholen. Das Wahrscheinlichste wäre, darunter das 'Schöpfungswort' zu verstehen; allein dies Wort ist doch nur in seiner Äußerlichkeit Wort; es ist nur Wort, inwiefern es ausgesprochen ist. Wie sollten dann die Worte erklärt werden.

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Was wäre es, insofern es in Gott wäre? Etwa ein Gedanke – der höchste Begriff Gottes, der zuletzt im Menschen Jesus sich realisiert hat? – Ich zweifle nicht, daß die Berliner = Philosophen diese Erklärung sehr passend finden würden, wie einst Fichte den Anfang des Evangeliums Johannis zu seinem Vorteil benützte.“[2]

Versteht man den Logos als Äußerung oder als Offenbarung Gottes, so sieht man sich, so Schelling in dem Zitat, zumindest mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß der Text des Johannes von einer Differenz in Gott spricht. Doch wie ist diese interne Differenz in Gott zu verstehen? Nach Schelling jedenfalls nicht so, wie er eigens hervorhebt, daß man sich für diese Differenz an der Differenz von Denken und Gedanken orientiert. Unschwer erkennt man hier die Wiederaufnahme des Problems, wie es von Schelling in dem eingangs wiedergegebenen Zitat formuliert wurde.

Eine Erläuterung der von Schelling vorgeschlagenen und hier angedeuteten Lesart des Johannesprologes wird uns in der hier vorliegenden Untersuchung beschäftigen. Dazu ist es jedoch unerläßlich, auf einige Grundentscheidungen seiner Philosophie wenigstens stichpunktartig einzugehen, da nur vor diesem Hintergrund ein adäquates Verständnis seiner Interpretation möglich ist.

2. Schellings Interpretation des Johannesprologes

Daß Texte nur dann erfaßt sind, wenn man sie nach dem Geist und nicht nur nach dem Buchstaben versteht, ist eine Einsicht, die nicht nur für Schellings frühe Kantlektüre steht, sondern die er ausdrücklich auch als hermeneutische Maxime seiner Lektüre der biblischen Texte angibt.[3] Freilich bedeutet dies nicht, daß man das zu Erklärende aus dem Text hinwegschafft, um ihn dadurch zu erklären, wie er andernorts betont.4 Der Geist eines Textes ist gewissermaßen an seinem Buchstaben aufzusuchen. In diesem Sinne weist Schelling eigens darauf hin, „daß die Worte des Johannes […] nur der Text sind“ (XIV, 104), an dem die Geschichte des Logos in der „genauen Aufeinanderfolge ihrer Momente“ (ebd.) entwickelt wird.

Soll also die Geschichte, die Johannes erzählt, verstanden werden, so ist danach zu fragen, wie sich dies denken läßt. Zielt die Frage auf die Genesis des Faktums, so kann die Antwort nur in einer hypothetischen Rekonstruktion bestehen, die ihre Evidenz daraus bezieht, daß sie das Faktum der Offenbarung des Logos im Fleisch als möglich erweist. Diesen Status der Untersuchung als Hypothese spricht Schelling selbst an, wenn er in der Münchner Vorlesung über Philosophie der Offenbarung darauf hinweist und verspricht, sie „sogleich gegen jede zuverlässigere aufzugeben“ (UF, 474).

In dieser Exposition der Fragestellung spricht sich die philosophische Einsicht Schellings aus, daß die Wirklichkeit nur um den Preis ihrer Vergewaltigung im Gedanken vollends aufgeht. So gewiß diese Einsicht Resultat der Reflexion auf den Vollzug des Denkens ist, so sehr bewahrt sie andererseits das Denken vor einem kruden Empirismus, indem sie darum weiß, daß wir die Wirklichkeit nicht bloß und ohne die Zutat unserer strukturellen Verfaßtheit als Denkende erfahren. Bricht nämlich an der durch das Denken nicht zu inszenierenden Faktizität des Denkvollzuges die Ungesichertheit des Denkens auf, so äußert sich im Denken die nicht mehr durch es selbst zu vermittelnde und somit unhintergehbare Wirklichkeit. Das Denken ist so an die Erfahrung verwiesen, und zwar derart, daß etwas schon ist, bevor es dem Denken begegnet.5 Diese Option für die Priorität der Wirklichkeit ist nun keine Option für das Unbegreifliche oder Irrationale, wie man mitunter Schelling unterstellt.6 In die Erfahrung der Wirklichkeit geht vielmehr die Totalität der Vernunft selbst mit ein, insofern das, was erfahren wird, nur durch die Vernunft als möglich eingesehen wird oder daß die Bestimmungen einer Sache nur Bestimmungen qua Denken sein können. In diesem Sinne geht die Philosophie der Offenbarung in ihrer begrifflichen Rekonstruktion der Geschichte des Logos zwar von dem absoluten Geist aus, bleibt jedoch an das Faktum der Menschwerdung Christi rückgebunden.

„Wir werden also sagen: das Prius, dessen Begriff dieser und dieser (der des Ueberseyenden) ist, wird eine solche Folge haben können ([…] es kann eine solche Folge haben, wenn es will, die Folge ist eine von seinem Willen abhängige). Nun existirt aber diese Folge wirklich (dieser Satz ist nun der auf Erfahrung beruhende Satz; die Existenz einer solchen Folge ist ein Factum, eine Thatsache der Erfahrung). Also zeigt uns dieses Factum – die Existenz einer solchen Folge zeigt uns, daß auch das Prius selbst so existirt, wie wir es begriffen haben, d.h. daß Gott existirt.“ (XIII, 129)

Die Rekonstruktionshypothese bleibt demnach rückbezogen auf das Faktum der Offenbarung, wie es in dem Text des Johannes ausgesprochen ist. Dieses Faktum soll als Selbstvollzug des Absoluten verstanden werden, und dies bedeutet, die Rekonstruktionshypothese ist eine Hypothese über eine mögliche Folge des Absoluten. Soll also die Menschwerdung des Logos ein freier Selbstvollzug sein, so muß ein absolut freier Geist gedacht werden. Die erste Aufgabe der Philosophie der Offenbarung ist also die Untersuchung des Weges zu diesem Geist, welcher nach Schelling unter der Forderung steht, es soll ein absolut freier Geist als Anfang der Philosophie sein.[7] Der Weg zum Prinzip, wie ihn die Philosophie der Offenbarung ausführt, verläuft über eine Abstraktion von allem Sein, und d.h. über eine Abstraktion von der Vernunftstruktur der Subjektivität. Gedacht werden soll das, was vor dem Sein ist, wie Schelling immer wieder betont.8 Möglich ist dies freilich nur in der Relation zum Sein, und daher nennt Schelling das erste Moment des Aufstieges zum Geist auch sein Könnendes, um genau diese Relation anzudeuten. Um jedoch das, was vor dem Sein ist, als solches festzuhalten, d.h. um das Unbestimmte als Unbestimmtes zu denken, muß zunächst einmal das sein Könnende als solches festgehalten werden. Dieser Weg zum absoluten Geist, der sich über die aus Schellings Philosophie bekannte triplizitäre Potenzenstruktur (sein Könnendes; rein Seiendes; das, was als rein Seiendes nicht aufhört sein Könnendes und was als sein Könnendes nicht aufhört rein Seiendes zu sein) aufbaut, soll hier nicht genauer ausgeführt werden.9 Wichtig ist jedoch, daß dieser Weg selbst in den Geist mit eingeht, und zwar dergestalt, daß die Momente dieses Weges – sein Könnenendes; rein Seiendes; das, was als rein Seiendes nicht aufhört sein Könnendes und was als sein Könnendes nicht aufhört rein Seiendes zu sein – im Aufbau ihrer Struktur alle externen Relationen auflösen. Erst dann ist das Unbestimmte als Unbestimmtes festgehalten, eben weil die externen Relationen in die interne Bestimmung dessen eingeht, was vor dem Sein ist. Der Geist ist so, wie Schelling formuliert, vor seiner eigenen Zukunft sicher gestellt,10 womit ein Wendepunkt in der Untersuchung eintritt. Um diesen Wendepunkt, von dem Schelling hier spricht und der zu der Einsicht der Wirklichkeit dieses Geistes führt, deutlich zu machen, ist es ratsam, noch einmal die gesamte Operation zu reflektieren. Bisher wurde hypothetisch eine Konstruktion durchgeführt, die unter der Maßgabe stand, es soll ein absolut freier Geist als Anfang der Philosophie sein. Ein anderer als dieser hypothetische Weg steht uns beim Weg zum Geist nicht zur Verfügung. Nun tilgt die Konstruktion alle externen Relationen, so daß das hypothetische Soll gerade dadurch kategorisch wird. Der faktische Vollzug von Philosophie, der immer schon getätigt ist, sofern nach dem Geist gefragt wird, erweist daher die Wirklichkeit des Geistes11, und zwar derart, daß Vernunft faktisch da ist und dieses faktische Dasein der Vernunft nur Folge einer freien Tat des Geistes sein kann.

Diese Einsicht, die sich beim Aufbau der Struktur Geist einstellte, geht nun in den Abstieg mit ein. Alle möglichen Externrelationen des Geistes können nur als freie Tat des Geistes verstanden werden.

Auf diese hier skizzierte Struktur des Geistes nimmt Schelling mit seiner Rekonstruktion des Johannesprologes bezug, wenn er schreibt: „Im Anfang (dieser Ausdruck ist hier streng zu nehmen; er bedeutet: ohne daß irgend etwas vorausging) war der Logos.“ (XIV, 104) Der Geist nahm beim Aufbau seiner Struktur die externen Relationen als Bestimmungen seines Selbstseins in sich auf, so daß er als bestimmte Unbestimmtheit beschrieben werden kann. Unbestimmtheit insofern, als er sich als reine Sichselbstgleichheit darstellt, und da sich diese Sichselbstgleichheit nicht anders denken ließ als durch die Bestimmungen des Aufstiegs, ist er andererseits auch bestimmt. Mit diesem reinen Gedanken des Anfangs ist so eine Sichselbstgleichheit gedacht, die gleichwohl eine triplizitäre Struktur aufweist, so daß sich die Möglichkeit von Differenzen aus dem Selbstvollzug dieser Einheit rekonstruieren läßt. Der Logos war daher im Anfang als Moment der Sichselbstgleichheit des Geistes, nicht jedoch als Logos. Denn dies würde eine Differenz voraussetzen, die die Sichselbstgleichheit des Geistes bereits suspendiert.

Differenzen lassen sich jedoch nur dann denken, sofern diese Einheit durch eine Tat des Geistes suspendiert wird. Nach Schelling ist dies im zweiten Versteil des ersten Verses des Prologes angesprochen: „Die Rede schreitet aber von diesem Moment des unvordenklichen Seyns sogleich weiter zu dem, wo das, was im Anfang war, wo dieses reine Seyn bereits ex actu puro gesetzt, hypostasirt, potentialisirt, zu einem Seyenden gemacht ist, bei Gott […] ist.“ (XIV, 105) Schelling denkt hier nicht an eine Hypostasierung der bisher nur gedachten Struktur, wie man vielleicht aus dem Zitat schließen könnte. Vielmehr muß man sich daran orientieren, was mit diesem Schritt gewollt ist. Johannes will mit seinem Text die Geschichte des Logos von Anfang an erzählen, und Schelling folgt ihm darin. Bisher haben wir in unserer Rekonstruktion aber noch gar keinen Logos gedacht, sondern nur eine sich selbst gleiche Einheit. Damit der Logos als Logos sein kann, muß die bisherige Einheit als Vergangenheit gesetzt werden.

Nun würde sich dies nach Schelling nicht denken lassen, wenn der absolute Geist nach Maßgabe des Selbstbewußtseins gedacht wird. Denn dann könnte der Selbstvollzug dieser Struktur gerade nicht zu dem führen, was hier gefordert ist. Der Selbstvollzug von Selbstbewußtsein setzt immer nur sich selbst, hier kommt es jedoch darauf an, einen Vollzug zu denken, der gerade etwas anderes als sich selbst setzt.[12] Indem der Geist seine ununterschiedene Sichselbstgleichheit als Vergangenheit setzt, setzt er reale Differenzen seiner Momente.

Schelling hat diesen Vollzug unter dem Aspekt der internen Differenzierung des Absoluten als Zeugung des Sohnes namhaft gemacht13 und den externen Aspekt als Anfang der Schöpfung.14 Beides sind Aspekte des Selbstvollzuges des absoluen Geistes, der in diesem Vollzug seine ununterschiedene Gegenwart als Vergangenheit und damit Zeit überhaupt setzt.15 Durch die Zeugung ist der Sohn oder der Logos jedoch noch nicht als Logos bestimmt. Vielmehr ist er durch die Zeugung in die Notwendigkeit der Selbstverwirklichung gesetzt. Erst durch diese Selbstverwirklichung verwirklicht er sich als Sohn. Die Struktur dieses Gedankens baut darauf, daß der Selbstvollzug des Sohnes in seinem Selbstvollzug nicht sich selbst setzt, sondern die Einheit der Gottheit oder den Vater. Nur dadurch, daß der Sohn etwas anderes als er selbst setzt, ist er der Sohn. Hierfür steht Schellings Formel, der „Vater und der Sohn kommen daher miteinander zur Verwirklichung“ (XIII, 336).

Diese wechselseitige Bestimmung von Vater und Sohn in der Einheit des Geistes, die als diese Einheit die Differenz von Vater und Sohn voraussetzt, kommt nach Schelling im dritten Versteil des ersten Verses des Prologes zum Ausdruck: „Nun rückt der Apostel wieder um einen Moment weiter, indem er sagt: […] und dasselbe Subjekt war Gott, nämlich am Ende der Schöpfung, wo es ebenso Herr des Seyns ist, als es zuerst nur der Vater war, im Besitz der Gottheit, die es jedoch vorerst nicht als eine besondere, nicht für sich, nicht außer dem Vater (vom Vater unabhängig), sondern nur in dem Vater hat, daher es auch nur '[[tau]][[eta]][[epsilon]][[omicron]][[sigma]]' ist, nicht '[[eta]][[omicron]] [[tau]][[eta]][[epsilon]][[omicron]][[sigma]]', Gott selbst, welches nur der Vater ist.“ (XIV, 105f.)

Nach unserer bisherigen Rekonstruktion erzählt der erste Vers des johanneischen Prologes eine Geschichte vom absoluten Anfang bis zum Ende der Schöpfung im Menschen als freiem Wesen. Das Ende der Schöpfung fällt jedoch für Schelling mit dem Fall des Menschen insofern zusammen, als die Freiheit, die der Mensch in Gott hat, als vom Menschen selbst vollzogene Freiheit zur Unfreiheit führt.[16] Sobald der Mensch das, was er ist, auch selbst sein will, liefert er sich einem Prozeß aus, in dem er die Freiheit, die er eigentlich ist, immer verfehlt. Gott als der Grund seiner Freiheit erscheint ihm im Bewußtsein in Gestalt einer sukzessiven Göttergeschichte und damit nicht mehr als sein sollende Freiheit, sondern als seiende Götter. Diese Geschichte des mythologischen Bewußtseins, deren Vollzug im Bewußtsein als Resultat in Form von Göttern eintritt, spiegelt sich im Prolog des Johannes.

Der Logos geht in diesen Prozeß als das Movens dieses Prozesses ein, da er durch den Schöpfungsakt Gottes in die Möglichkeit der Selbständigkeit gesetzt ist. Nach Schelling wird dies im vierten Vers des Prologes angesprochen: „Mit den Worten: In ihm selbst war Leben, ist also die Erzählung wieder um einen Schritt weiter gerückt, es ist von dem Sohn die Rede, wie er nun schon außer dem Vater als selbständige Persönlichkeit ist, die Leben in sich selbst hat.“ (XIV, 113) Durch den Fall des Menschen ist die Einheit der Gottheit, wie sie sich am Ende der Schöpfung durch den Sohn restituiert hat, wieder suspendiert worden. Damit ist der Sohn, so Schelling, in Differenz zum Vater und mithin unabhängig gesetzt. Diese Unabhängigkeit, in die der Sohn durch den Fall des Menschen gekommen ist, kann er als Selbständigkeit gegenüber dem Vater behaupten, oder er kann sie verschmähen, wie Schelling gelegentlich sagt.[17] Daß er sie verschmähte, dies ist die Grundidee des Christentums und wird von Johannes im vierzehnten Vers seines Prologes als Fleischwerdung des Logos dargelegt. Schellings Formel hierfür ist die des Gehorsams des Sohnes, welcher eine Struktur von Subjektivität namhaft macht, die darin besteht, daß sie in ihrem Selbstvollzug anderes als sich selbst setzt. Denn indem der Sohn Mensch wird, vollzieht er den Willen des Vaters und nicht sein Selbstsein, das ihm durch den Fall des Menschen möglich geworden ist.

Die Identität von Gott und Logos vollzieht sich nach Schelling durch eine Geschichte, in der der Logos diese Identität durch seine Differenz zum Vater realisiert. Erst vom menschgewordenen Logos, der sich eben durch diese Menschwerdung zum Christus bestimmt, läßt sich sagen „wir sahen in ihm den, der mit dem Vater eins und in dem wahrhaftig nur der Vater selbst ist“ (XIV, 117). Schelling kommt es vor allem darauf an, diese Geschichte des Logos als einen freien Selbstvollzug auszulegen, indem sich dieser zum Christus bestimmt. Das letzte Faktum (XIV, 117) ist dabei als Wirklichkeit vorausgesetzt und soll in seiner Möglichkeit rekonstruiert werden.

1 Schellings Werke werden zitiert nach der von K.F.A. Schelling veranstalteten Gesamtausgabe in 14 (XIV) Bänden, Stuttgart und Augsburg 1856-1861. Die römischen Ziffern bezeichnen den entsprechenden Band, die arabischen die Seitenzahl.

2 F.W.J. Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hrsg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992 (im Folgenden zitiert als UF und Seitenangabe), S. 477f.

3 Siehe etwa XIV, 101.

4 XIV, 201.

5 Zu der hier angedeuteten Problematik von Daß und Was, bzw. von negativer und positiver Philosophie siehe Dietrich Korsch: Der Grund der Freiheit. Eine Untersuchung zur Problemgeschichte des positiven Philosophie und zur Systemfunktion des Christentums im Spätwerk F.W.J. Schellings, München 1980, S. 189-195 und Thomas Buchheim: Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992.

6 X, 405f.: „Der Unterschied unserer von der früheren scholastischen Zeit ist eben, daß es um die Sache selbst geht […], daß es sich um die reale Denkbarkeit handelt. Dieß ist der wahre Fortschritt, der nicht wieder zurückgenommen werden kann, die Forderung, die sich nicht abweisen läßt, welchen Vorwand man nehme, auch nicht mit dem gewöhnlichen, die Unbegreiflichkeit, oder wenigstens das Nichtbegreifen sey nothwendig zum Glauben; denn darin ist nur Mißverstand.“

7 Vor allem Walter E. Ehrhardt hat immer wieder darauf hingewiesen, daß Schellings Philosophie daran orientiert ist, die Wirklichkeit der Freiheit in allen Gebieten des menschlichen Wissens zur Darstellung zu bringen. Walter E. Ehrhardt: „F.W.J. Schelling: Die Wirklichkeit der Freiheit“. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit II, hrsg. v. Josef Speck, Göttingen 31988, S. 109-144.

8 Vgl. etwa UF, 24; XIII, 204.

9 Siehe hierzu UF; 25-76, XIII, 204-261. Zur sogenannten Potenzenlehre Schellings vgl. Thomas Buchheim (1992).

10 Vgl. hierzu UF, 63.

11 UF, 69: „Der Beweis dieses Geistes kann nicht von der Philosophie, sondern nur durch die Philosophie gegeben werden.“

12 Vgl. hierzu UF, 153f. und XIII, 315f.

13 Vgl. hierzu UF, 157; 164f. u.ö.

14 Vgl. XIV, 106.

15 Vgl. hierzu UF, 163: „Dieses Wollen, dieser actus, wodurch die Spannung wirklich gesetzt ist, ist zwar kein notwendiges, blindes, sondern schon ein vermitteltes , aber doch nicht zeitliches, Wollen, sondern da es das Zeit und Ewigkeit als solche scheidende Wollen ist, so muß es als Setzendes der Zeit über der Zeit sein. Eine Entstehung der Zeit läßt sich nur so denken, daß zugleich – in Einem actus – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt werden.“

16 Vgl. hierzu Dietrich Korsch (1980), S. 209f.

17 XIV, 39.

Finanzen

Über Danz Christian 21 Artikel
Prof. Dr. Christian Danz, geboren 1962 in Thüringen, hat seit 2002 eine Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien inne. Seit 2006 ist er Vorsitzender der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft.

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