Im Schlaraffenlanddes Lesens

Hanns-Josef Ortheil, Lesehunger. Ein Bücher-Menü in 12 Gängen, Luchterhand Literaturverlag, München (März 2009, 240 Seiten, Taschenbuch, ISBN-10: 3630621538, ISBN-13: 978-3630621531,Preis: 8,00 EURO

Lesen ist eine der wichtigsten Kulturfertigkeiten, die wir Menschen uns zu Eigen gemacht haben. Es ist ein durchaus wichtiger Teil der Kommunikation und nimmt dabei einen hohen Stellenwert ein. Man reflektiert und überdenkt das Gelesene und gewinnt vielleicht sogar so etwas wie Erkenntnis bzw. sammelt durch das Hineinversetzen in andere Zeiten und Personen (z. Bsp. in der Belletristik) Erfahrungen aus zweiter Hand. Es geht nicht um ein eigenes „Mästen“ mit den Ideen und Gedanken anderer Leute, sondern – und darauf hat bereits Montaigne hingewiesen – um das eigene Denken anzuregen, um es in Fahrt und in Schwung zu bringen. Vielleicht sogar auf die Schwingungen einer inneren Erzählstimme zu reagieren, „sich in einem stimmlich-räumlichen Kosmos bewegen„.
Doch was für den einen beinahe eine Obsession sein kann, ist für den anderen Qual und Anstrengung. Vielleicht ist die Reduzierung des Lesens zu einem Verstehen-Wollen, wie es allerorts in der Schule praktiziert wird, der Grund für diese Aversionen. Hans-Josef Ortheil, der Autor dieses wunderbaren kleinen Lesemenüs, ist sich sicher, dass die Reduzierung des Lesens auf das „richtige Verstehen“ eines Textes „eine der grausamsten Disziplinierungen des Lesens überhaupt , sie ist der Grund dafür, dass Schülerinnen und Schüler mit den Jahren immer lustloser und schließlich überhaupt nicht mehr lesen.
Vielleicht wird sein „Büchermenü in 12 Gängen“ – wie es der Untertitel verrät – als kleine Appetitsanregung verstanden, doch wieder mal ein Buch in die Hand zu nehmen, Bilder und Bildzusammenhänge im Kopf herzustellen, ja, einzutauchen in eine bildliche Phantasiewelt. Empfehlungen gibt er jedenfalls en mass. Aber auch oder gerade für den Vielleser ist die Lektüre eine wahre Quelle und Fundgrube sich noch zu erschließender oder vielleicht wieder einmal zur Hand nehmender Literatur.
Der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim hat für sein Buch eine raffinierte Kredenzform gewählt. Angerichtet wie ein Zwölf-Gänge-Menü, das er jeweils an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit einer fiktiven Journalistin vorbereitet, serviert, einnimmt und genießt, gibt der obsessive Vielleser Ortheil Leseempfehlungen und -anregungen in Hülle und Fülle. Doch diese geballte Ladung an guter Literatur erschlägt den Leser keineswegs, denn der Autor „verkauft“ sie auf wunderbar lockere Art und Weise.
Aufgebaut ist das Buch als eine Art lockeres Gespräch.
Die Besucherin wird durch Ortheil in verschiedenste Bereiche seines Westerwald-Grundstücks, mit vielen kleinen Plateaus, Aussichtsterrassen und in seine „Lesekapseln“ – meist kleine, auf dem Grundstück verstreute Räumlichkeiten – geführt. Mal ist es ein kleines Gartenhäuschen, ein Pavillon oder ein Blockhütte, wo er seiner Gesprächspartnerin die unterschiedlichsten Literaturmenüs darreicht.
Das sind zum Beispiel allgemeine Gedanken über das Lesen im Allgemeinen oder in „Champagner“- und grandseigneurale Lektüren im Besonderen. Ortheil schwelgt in sogenannten Küchen-, Tee-, Reise- oder Fern-Lektüren, Essays und Kolumnen, aber gibt auch Lektüreempfehlungen für junge Schreiber. Alles in Allem eine großartige Mixtur aus verschiedensten Genres und literarischen Themengebieten, die man durchaus als eine Art Reise begreifen kann, „als eine Aufbruch in Neuland, ein Sich-Niederlassen hier und dort, als Aufbau von Wegstationen, als Verzehr von Proviant, als erneuten Aufbruch…„.
Ans Ende jedes Kapitels bzw. Menüs stellt er eine Zusammenfassung aller im vorangegangen Gespräch erwähnter Titel, so dass es ein Leichtes ist, sich seinen ganz persönlichen Favoriten in der nächsten Buchhandlung zu bestellen.
Warum diese ungewöhnliche Form? Hier soll Hanns-Josef Ortheil selbst zu Wort kommen: „Man kann das Lesen sehr gut mit Nahrungsaufnahme vergleichen, ja, man kann sagen: Das Lesen ist die Befriedigung einer bestimmten Form von elementarem Hunger. Und weiter: Lesen heißt, einen Appetit stillen. Ich meine das nicht in einem metaphorischen Sinn, sondern ich meine es konkret und wörtlich. Lesen ist die Zuführung einer bestimmten Speise, und diese Speise ist nicht nur 'geistiger Art', wie man oft sagt, sondern immer auch etwas Sinnliches.
Und vielleicht wird nach Abschluss dieser entzückenden Lektüre folgender Text Marcel Prousts aus „Tage des Lesens“ wieder eine besondere Bedeutung zukommen: „Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben …„. Lesen macht die Welt fühlbar und erlebbar und „lässt uns ihre von der Geburt an gegebene Kälte und Fremdheit überwinden„, ist sich der Autor sicher.

Fazit:

Keinen Kanon unbedingt zu lesender Bücher stimmt Hanns-Josef Ortheil in seinem „Lesehunger“ an, sondern er erzeugt durch die lockere, legere Art und Weise seines Buchaufbaus für große Appetitanregung und Freude an unvorhergesehenen Lektüre-Mixturen. Eine unbedingte Leseempfehlung für alle Bibliophilen wie auch für die, die das Lesen wieder neu für sich entdecken wollen.

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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