Im Schatten der Konflikte – Endspurt auf der 56. Kunstbiennale von Venedig

Endspurt auf der 56. Kunstbiennale von Venedig, die sich seit Anfang Mai auf einem alle zwei Jahre größer werdenden Areal in der Lagunenstadt ausbreitet und – neben den traditionell genutzten nationalen Pavillons an den Giardini und am Arsenale – eine stets wachsende Anzahl von Räumen und Locations in Palästen, Kirchen und ehemaligen Werkstätten mit Exponaten und Installationen jeglicher Art füllt. Fast ausnahmslos neue Werke von 136 Künstlern aus 53 Ländern aller Kontinente sind bei dieser Edition vertreten, die angesichts der Ernennung von Okwui Enwezor als diesjährigen künstlerischen Leiter auch eine ganz besondere Verbindung zu München schafft, wo er seit 2011Direktor vom Haus der Kunst ist. Berufen wurde der gebürtige Nigerianer, der u.a. 1998-2002 die documenta 11 Kassel geleitet hatte, wegen seiner besonderen Sensibilität in der Ermittlung der inneren Impulse, der Empfindungen, die Künstler angesichts großer gesellschaftlichen Umwälzungen, politischer Krisen und einer allgemein verbreiteten Ungewissheit entwickeln. Ein „Parlament der Formen“, eine globale Ausstellung, in der die „Idee über die Ware“ gestellt wird, zu schaffen, war von Anfang an sein Bestreben: Eine globale Ausstellung, in der sich Künstler über unser „Age of Anxiety“ befragen und nach möglichen Antworten suchen. Und Raum für alle Trends und Tendenzen bietet die Schau gewiss als Reflex dessen, was sich heute auf der „besten aller möglichen Welten“ abspielt …! Jedes nationale Pavillon, jede staatliche Beteiligung irgendwo in der Stadt spiegeltauf eigene Weise die Besonderheit des Landes, das es repräsentiert: Die „Fabrik “steht stellvertretend für Deutschland als Ort, an dem sich über die Macht der Bilder nachdenken lässt, während sich auf dem Dach des Bauwerks eine Produktionsstättevon Bumerangs auf der Suche nach ihrer eigenen Flugbahn in einer mal sichtbaren, mal unsichtbaren Choreografie materialisiert, die die Zuschauer unten in Atem hält. Nicht anders in dem altmodisch-heruntergekommenen Lederwarenladen in Volos, wo es um das Spannungsfeld zwischen Tradition und Modernität im heutigen Griechenland geht und um den Umgang mit wilden Kleintieren, die sich nicht zähmen lassen. Der Schmelztiegel genannt Europa ist nicht jedermanns Sache und schon gar nicht für alte Völker wie das hellenische!
Einem Suk ähnelt ein zu Kunstobjekt stilisierter Second-Hand-Market im Pavillon der Arabischen Emirate, während der Geist der Archäologie souverän im Israelischen Pavillon schwebt. Frankreich – wie immer an Eleganz nicht zu überbieten! – versetzt den Betrachter noch im Außenbereich seines Pavillons ins Staunen. Dort befindet sich eine der dreiriesigen Meerespinien mit offen gelegten Wurzeln, die ihn langsam, mit kaum vernehmbaren Bewegungen ins Innere des Bauwerks befördern.
Im Zeichen der Politsatire der Zeitungskiosk im Spanischen Pavillon, der mit Sarah Lucasprovozierenden Exponaten in den gelben Tönen im Britischen Pavillon konkurriert. Politischer denn je offenbart sich Chile in seiner „Poetica de la Disidencia“ (Poetik des Widerstandes), indem es -auch sehr provokatorisch – Fotos psychisch Kranker und Transvestiten zur Schau stellt. Die Vorkommnisse in Chile, als der demokratisch gewählte Staatspräsident Salvador Allende 1973 mit einem blutigen Staatsstreich gestürzt wurde, hatten einen Niederschlag auf die Kunstbiennale von Venedig, der zu tiefgreifenden Veränderung deren Satzung und Programme führte. Die Solidaritätsaktionen von Künstlern unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung auf dem gesamten Stadtgebiet brachten eine radikale Wendung ins Politische mit sich, die bis heute in Venedig nachwirkt. Daran knüpft Enwezor im verstärkten Ausmaß in seinem Konzept der diesjährigen Kunstbiennale, die sich vor einem sich gefährlich zuspitzenden Krisenszenario abspielt. An den Fingern brennende Themen, viel Zeitgeschehen, Konflikte noch und noch und für jeden Geschmack, die sich plastisch vor dem Hauptpavillon ankündigen, wo die Besucher an eine Mauer von Migranten-Koffern gestoßen werden. Aktualitätpur. Wie das wie ein Vulkan ausbrechende Boot im Japanischen Pavillon, das unweigerlich auch an das endlose Flüchtlingsdrama im Mittelmeer denken lässt. Die bedrohliche Ansammlung von Messern und Säbeln des Algerier Adel Abdessemed und die von der Decke hängenden Motorsägenbündel der Italo-Berlinerin Monica Bonvicini lassen keine Zweifeln über die Richtung dieser größten Kunstschau der Welt aufkommen. Afrika ist überall präsent, mehr als jedes andere Land ist es aber China, das auch den Platz von Ländern wie Kenia und Nigeria einnimmt, die notgedrungen waren, sich aus finanziellen Gründen zurückzuziehen. China zeigt sich in all seiner Vielfalt in einem bunten Mix aus Kunst, Choreographie, Underground Music und New Media. Am Spektakulärsten die zwei fliegenden Riesendrachen von XU BING im Arsenale, die auf den Phönix-Mythos zurückgreifen. Zahlreich die flankierenden, hochkarätigen Initiativen, die die Ausstellung begleiten, allen voran das interdisziplinäre Programm ARENA im Hauptpavillon, wo u.a. aus dem „Kapital“ von Karl Mark vorgelesen wird. Neben den 89 offiziell vertretenen Ländern tritt zum zweiten Mal auch der Heilige Stuhl mit einer eigenen Schau im Waffensaal vom Arsenal auf. In dem vom Präsidenten des Päpstlichen Kulturrats Kardinal Gianfranco Ravasi ins Leben gerufene und von der Leiterin der Sammlung Zeitgenössischer Kunst der Vatikanischen Museen Micol Forti kuratierten Pavillon lässt sich die vertikal-traszendentale Dimension mit der immanent-horizontalen in einem Ganzen ohne Zäsuren durchkreuzen, indem sich langsam projizierte Bilder, Klänge und Gerüche vermengen und jedes einzelne Werk der drei aus Kolumbien, Mazedonien und Mozambique stammenden Künstler eine Art „Reinkarnation“ darstellt. Zusätzliche Akzente auch im Sinne einer historischen Perspektive fügt die Präsentation einer Auswahl von Werken namhafter älteren oder nicht mehr lebenden Künstler, die einen Bogen von der Fotografie (Walker Evans), Installation (Isa Genzken, Hans Haacke), Skulptur (Melvin Edwards, Ricardo Brey), Film (Sergej Ejzensteijn, Alexander Kluge), Multimedia (Chris Marker), Konzept-Kunst (Teresa Burga, Adrian Piper)bis hin zur Malerei mit Tetsuya Ishida und Georg Baselitz spannt. 44 die vielen, oft hochinteressanten, überall in der Stadtverstreuten „Collateral Events“, die auch mit ihren technologischen Innovationen die 56. Kunstbiennale bereichern. Darunter„Inverso Mundus“ in den Magazzini del Sale,Grisha Bruskins „Reise durch die Ruinen der Sowjetunion“ in der ehemaligen Kirche S.Caterina, „Never say Goodbye“ im Palazzo delle Prigioni, „Highway to Hell“ in Palazzo Michiel, „ Learn from Masters“ in Palazzo Bembo und die eindrucksvolle „Land Sea“, die die ruhmreiche „Fondazione Volume!“ aus Rom- Trastevere dem Wahlmünchner Sean Scully im Palazzo Falier gewidmet hat. Die Schau ist eine Hommage anVenedig und an einen für die Stadt prägenden Stil in der Malerei von Tintoretto und Bellini bis hin zu Tizian, in dem die Farbe – vom Licht und Glanz Venedigs verstärkt – zum unangefochtenen Protagonist auserkoren wird.

Noch bis zum 22. November 2015
www.labiennale.org

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Über Anna Zanco-Prestel 178 Artikel
Dr. Anna Zanco-Prestel, hat Literaturwissenschaften (Deutsch, Französisch und Italienisch) und Kunstgeschichte in Venedig, Heidelberg und München studiert. Publizistin und Herausgeberin mit Schwerpunkt Exilforschung. U.d. Publikationen: Erika Mann, Briefe und Antworten 1922 – 69 (Ellermann/DTV/Mondadori). Seit 1990 auch als Kulturkoordinatorin tätig und ab 2000 Vorsitzende des von ihr in München gegründeten Kulturvereins Pro Arte e.V.

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