Sieht man den sensiblen Omer Meir Wellber, mag man ihm nicht abnehmen, dass er einen Historien-„Schinken“ wie Umberto Giordanos Oper über das leidvolle Schicksal des französischen Dichters André Chénier so draufgängerisch-resolut und affektgeladen dirigieren würde, wie ihm das an der Bayerischen Staatsoper gelang. Von dem jungen Israeli hätte man aufgrund ihm eher zugemuteter Affinität zu dem feinsinnig-scheuen Poeten Chénier ein zurückhaltendes Dirigat erwartet. Eine Überraschung bei der wohlgemerkt ersten Inszenierung des emotional aufgeladenen Werks an Münchens großem Opernhaus mit so hohem Pathos und oft ohrenbetäubender Phonstärke aus dem Orchestergraben aufsteigen zu hören!
Das von dem 50-jährigen Filmemacher Philipp Stölzl (unvergessen: seine aparte „Cavalleria Rusticana“ bei den Salzburger Osterfestspielen 2015) geschaffene knallhart realistische Szenario des „Dramma di ambiente storico“ zum (w)irren Treiben der Französischen Revolution mag den irritiert haben, der es gewohnt ist, das Bühnengeschehen erst enträtseln zu müssen. In ein Breitwand-Puppenhaus mit in einzelnen „Kammern“ blickte man: oben der überhebliche Adel (pars pro toto: Doris Soffels aufgetakelte Gräfin di Coigny), unten das Gewusel der Unterdrückten, die aus der Fron der unverdient Reichen und Faulen befreit werden müssen. Das wichtige Lehr-Stück europäischer Umwälzungs-Geschichte illustrierte Stölzl mit Kostümbildnerin Anke Winckler sehr unterhaltsam, manchmal auch ein wenig lächerlich und dröge. Es fehlte allerdings eine zweite „Lesart“.
Ihretwegen aber geht eh keiner in diese Oper. 1896 in Mailand uraufgeführt, gehört sie wie „Cavalleria Rusticana“ in den Verismus. Dieser strotzt bekanntlich vor Melodramatik, die, zu Herzen gehend von Streichern, Holz und Blech süffig begleitet, aus den geschmierten und versiert geführten Kehlen hochpotenter Sänger dringt. Man kennt mindestens drei Arien und Ariosi, dazu das fulminante Liebesduett der am Ende in den Tod durch die Guillotine gehenden Protagonisten. Dass München für dieses Spektakel, zum vierten Mal bereits, das „Traumpaar“ Anja Harteros (Maddalena) / Jonas Kaufmann (Titelrolle) aufbieten kann, ist ein solitäres Ereignis. Der Abend lohnte sich wegen der großartig aufeinander abgestimmten, alle Register ihres überragenden sängerischen und darstellerischen Könnens ziehenden Solisten. Publikumsliebling Jonas Kaufmann galten Mitgefühl und erleichterndes Aufatmen, ihn nach langer gesundheitsbedingter Vakanz wieder fit und energisch zu erleben. Seine ihm mindestens ebenbürtige Partnerin wurde mit Szenenapplaus und Beifallsgetrampel gefeiert.
Mit Verlaub: Es gab ernsthafte Konkurrenz für das gefeierte Gespann: den kräftig, aber edel auftrumpfenden Heldenbariton Luca Salsi. Der Italiener verkörperte gestisch überwältigend den Carlo Gérard. Teils Gegenspieler, teils Kombattant des Titelhelden ist er die interessantere, charakterlich ambivalente Figur dieser in vielem widersprüchlichen, mit Revolutionsspitzeln, Fahnenschwenkern, Konkubinen, Tribunal-Geplänkel und Kerkerszenen überladenen Revolutions-Geschichte. Luca Salsi ersang sich in München große Sympathien.
Exzellent war manche kleine Rolle besetzt. Nur zwei von zehn seien erwähnt: Der alten Madelon, die unter Tränen ihren geliebten Enkel der Revolution überließ, lieh Elena Zilio ihren noch immer warmen Mezzo. Dem stets erregten Mathieu, dem Sansculotte, der mit der Trikolore den gut zweistündigen stürmischen Opernabend, die Marseillaise anstimmend, eröffnete, gab Tim Kuypers Gestalt und Verve. Ein Hoch auf Stellario Fagones agilen Staatsopernchor, diesmal gan besonders auch auf den Dramaturgen: Benedikt Stampfli schenkte den (Nach-)Lesern ein textlich, illustrativ und pfiffig gemachtes Programmbuch.
Foto (HaG): Porträts von Anja Harteros und Jonas Kaufmann in der Nationaltheatergalerie,
Hintergrund: historische Grafik mit Szenen und Köpfen der Französischen Revolution
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