Ein Labyrinth aus bedrucktem Papier
„Der Anfang eines Textes ist eine Wurzel, die in die Zukunft wächst.“, stellte Ilija Trojanow in seiner Antrittsvorlesung zur Heiner-Müller-Gastprofessur in der Berliner Freien Universität fest. Der erste Satz seines jüngsten Werkes „Stadt der Bücher“ lautet: „College Street ist keine Straße, es ist kein Viertel und keine Hochschule; College Street ist das Versprechen, jedes Buch zu finden, das man begehrt.“
Bibliophilen dürfte diese Aussage einen enormen Adrenalinschub verpassen. Das „Versprechen, jedes Buch zu finden, das man begehrt.“ Wo bitteschön liegt diese College Street? Wie komme ich schnellstmöglich dahin? Zumal bereits das Cover, das einen bunten Stapel aufgeschichteter Bücher zeigt, jeden Bibliomanen ins Auge gefallen sein dürfte. Ein kurzes erstes Durchblättern des kleinformatigen Bandes offenbart weitere farbenfrohe Bucharrangements. Doch die anfängliche Euphorie weicht einem ungläubigen Erstaunen, wenn man den Ort dieses literarischen Offenbarungseides erfährt. Denn diese College Street liegt in… Kalkutta.
Der bulgarische Autor, dessen Roman „Der Weltensammler“ 2006 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und der selbst vier Jahre in Indien lebte, nimmt mit diesem ungewöhnlichen, einem Essay ähnelnden Text, den Leser in eine der wohl gegensätzlichsten Städte des tropischen Subkontinents mit. Fragend, suchend, zweifelnd, prüfend und neugierig herumirrend sinniert Trojanow in kurzen Sätzen über eine Straße, der scheinbar jegliches Maß fehlt. „Bescheidenheit oder Beschränkung sind Fremdworte, die in keinem der örtlichen Dialekte auftauchen. Wer sich hier verirren sollte, wird einer Überdosis Wissen erliegen.“, warnt er.
Auf Grund der detailreichen und farbenprächtigen Fotos von Anja Bohnhof, die den dortigen allseits präsenten Respekt vor dem gedruckten Buch anschaulich und liebevoll in Szene setzt,taucht man Seite für Seite in ein Labyrinth aus bedrucktem Papier ein. Unbeeindruckt von jeglichen Buchdruckuntergangsszenarien stapeln sich in Kalkuttas Universitätsviertel, in oft improvisiert anmutenden Verkaufsständen, „von den Bürgersteigen zu den Durchgängen, von Türen über Treppen bis hinauf zu vollgestopften Dachgeschossen (…) die Bücher zu Fassaden, Ecken und Erkern“, ergänzt Trojanow, der in seinem Text gleichfalls auf Historie sowie die politische und soziologische Gegenwart dieser „Stadt inmitten von Krankheit, Elend und Durcheinander“ eingeht und auch persönliche Kontakte mit Verlegern, Druckern oder aber dem sechzigjährigen Bücherträger und Straßenkehrer Ramlal, einflicht.
Doch Vorsicht mit vorschnellen Reisebuchungen in das vermeintliche Eldorado der Buchdruckerkunst. Die etwa fünftausend Verkaufsstände sind für den gewöhnlichen Literatur-Flanierer und -Stöberer nicht zugänglich. Wie bitte? Erneutes ungläubiges Stirnrunzeln. Aber wie verkauft der indische Buchhändler denn seine Ware? Ganz einfach: Man trägt einen konkreten Wunsch an ihn heran und dann stehen die Chancen verblüffend gut, dass das Buch innerhalb von zehn Minuten auftaucht, so Ilija Trojanow. Ein Selbsttest des Autors mit Nennung seines eigenen Autorennamens konnte dies tatsächlich bestätigen.
Der letzte Satz dieses liebevoll gestalteten Büchleins lautet übrigens: „An der Zukunft wird noch gebaut: An der Ecke der zwei größten Straßen, neben der Haltestelle der roten Tram, entsteht ein gewaltiges mehrstöckiges Gebäude, das bald vielen Verlegern und Buchhändlern zur Heimstatt werden soll, ein Bucheinkaufszentrum wie nur wenige auf der Welt, konzipiert von dem berühmten Architekten Hafeez Contractor, ein Ort, an dem alle Buchinteressierten zusammenkommen sollen, wo auf 100.000 Quadratmetern alles zu finden sein wird, was mit dem Buch zu tun hat.“ Also doch: Auf nach Kalkutta!
Ilija Trojanow, Anja Bohnhof
Stadt der Bücher
LangenMüller Verlag, München (April 2012)
128 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 378443293X
ISBN-13: 978-3784432939
Preis: 14,99 EURO
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