Ideologie / Entideologisierung
»Der Wind verstreut den Samen des Lebens über den Planeten. Er lässt Gras und Wälder wachsen. Die ewigen Winde des Weltalls sausen dahin. Was tragen sie? Niemand weiß es. Aber ich bin überzeugt, dass die Natur uns geschaffen und mit Vernunft begabt hat, damit wir — wie ihre Diener, die Winde — Leben in die unübersehbaren, unendlichen Welten des Universums tragen. Die Vernunft des Guten muss siegen, auf der Erde und danach im ganzen Weltall.« (1) (2)
Der vorstehende Satz beschreibt keine Ideologie. Selbst wenn die schnelle Rezeption ebenso schnell an die Ideologie des Guten oder die Ideologie der Vernunft denken ließe. Nun betreiben wir hier nicht das Geschäft eines Lukács. Daher vermittelt der Satz eher etwas wie Hoffnung. Aber auch Einsicht in Notwendigkeit. Von alleine werden sich die Dinge nicht zum Guten wenden. Vielleicht erst in einer vom Menschen verlassenen Welt. Wenn die Natur wieder aufatmet. Ohne schädliche und lästige Eingriffe. Doch den schädlichen Prinzipien und ihrer Mechanismen ist entgegenzuwirken. So versteht sich die Einlassung auf Vernunft. Und damit sind wir sowohl auf eine subjektive wie objektive Ebene hingewiesen.
In gleicher Weise fungiert Ideologie auf subjektiver wie objektiver Ebene. Vernunft kann nur solange ihr Widerpart bleiben, wie sie selbst nicht vergiftet ist, sich an sich selbst hält. Und dabei nicht den Fehler begeht, in Relativismus zu verfallen. Ideologie wird an dieser Stelle (überwiegend) als schädliches Prinzip verstanden, zuerst in der Möglichkeitsform. Folgende Gedanken werden zeigen, dass es kein eindeutiges Verständnis vom Wort Ideologie gibt. Und dass dies in gewisser Weise auch nicht schlimm ist.
Auf das Denken kann man sowieso nicht verzichten. Es gibt auch in diesem Bereich keinen gebrauchsfertigen Begriff, den wir eindeutig und unmissverständlich anwenden können.
Ideologie
Per se ist Ideologie in einem diskursiven Feld jedoch schlecht. Sie fordert für sich, Ausnahme von den verbindlichen Regeln zu sein. Oder selbst die Gesamtheit oder Verbindlichkeit geltender Regeln darzustellen. Doch Recht und Diskurs sind zweierlei: das hat seine guten Gründe. Verbindliche Regeln können natürlich strittig sein, ebenso graduiert, different bis differenziert. Die Hypothese Recht als Ideologie und das Geschäft einer Diskurs-Ethik werden an dieser Stelle jedoch ebenfalls nicht betrieben. Der Text fragt weder nach dem idealen Diskurs und seinen Bedingungen, noch geht es um Appelle zu einem richtigen Leben und Handeln. Der Text versucht, ausgehend von einfachen Zitaten, auf den Kern einer inzwischen obsoleten Selbstverständlichkeit zu treffen, die wir ohne schlechtes Gewissen und ohne viel Umstand als falsches Denken und falsches Handeln begreifen und beschreiben können. Nämlich wenn es ideologisch (geleitet) ist oder wird. Und das hebt sich in diesem Sinne deutlich von der Frage ab, ob etwas rechtlich (geleitet) ist oder wird. Allerdings, und das kennen wir aus sozialer und anderer Praxis, ist mit der Berufung auf Recht oder Gesetz nicht immer zugleich auch ihr Tatsächliches getroffen. Aber das fördert andere Gedanken zutage, die hier erstmal ausgespart bleiben.
»Der Begriff » Ideologie « (von franz.: Lehre von den Ideen) ist Gegenstand kontroverser, teils unvereinbarer Interpretationen vornehmlich in den modernen Sozialwissenschaften. Belastet ist er von Beginn an durch eine unklare Bedeutung und zweifache Nutzung als politisch-alltagssprachlicher Kampfbegriff und als wissenschaftlicher Analysebegriff.« (3)
Fangen wir bei einem positiven also verbal affirmativen Verständnis von Ideologie an. Man wird sehen, dass dieses Verständnis seine Berechtigung daraus zieht, dass eine Ideologie gegen eine andere steht, dass also über das Wort Ideologie eine gewisse geistige und praktische Größe behauptet wird, wie sie sich historisch entweder erwiesen hat oder noch erweisen soll. Im Berliner Treptower Park ist innerhalb einer Gedenkstätte folgender Satz in Stein gehauen, also lapidar im wörtlichsten Sinne:
»Die in unserem Lande verankerte Ideologie der Gleichberechtigung aller Rassen und Nationen, die Ideologie der Völkerfreundschaft hat den vollen Sieg über die Hitlerfaschistische Ideologie des bestialischen Nationalismus und Rassenhasses errungen.« (4)
Der Satz stammt aus den Tagesbefehlen von Stalin. Seinerzeit der absolute Oberbefehlshaber der Sowjetischen Armee. Und man darf, selbst als (absolut) kritisch eingestellter Mensch, zumindest zwei Dinge zugestehen: Er wird gewusst haben, wovon er spricht. Und jener vermittelt eine historische Tatsache. Dadurch wird das Wort Ideologie in diesem Zusammenhang unstrittig. Es wirkt nicht nur als Aufschrei der Vernunft, als Hoffnung, wie bspw. viele Werke von Kollwitz zu deuten wären. Prekär mit Ideologie ist ja ihr Fortbestehen unabhängig konkreter Personen. Das ist wohl auch im Ursprunge des Wortes gemeint, dass in einer Ideologie nicht nur Taten und Worte verinnerlicht sind, sondern Ideen, ganze Komplexe und Systeme von Ideen.
»Ideologien werden zudem als unvermeidbare und ubiquitär verbreitete direktive und ordnende Maßgaben kultureller Symbole und politischer Begriffe dargestellt, die man kennen muss, um ihre Macht für die Bildung kollektiver Überzeugungen zu verstehen.« (3)
Wäre dies nicht so, spräche man in Folge von Stalin nicht von Neofaschismus bzw. Stalinismus etc, je nach dem, wie man die Betrachtung wendet. Insofern ist der errungene Sieg ein in beiden Sinnen historischer. Er hatte etwas gezeitigt, damit aber den Prozess einer überindividuellen Ideen- und Gedankengemeinschaft nicht vollständig aufheben können. Das Wort historisch meint daher auch ein (geschichtliches) Durchgangsstadium, nicht nur ein Geschichtszeichen. Insbesondere Aufhebung ist ein kritisches (problematisches) Vorgehen, hebt es doch Gedanken etc genau nach dorthin auf, wo die Ideologien urtümlich vermutet werden. Nämlich in die Gefilde einer überindividuellen Rationalität oder eben Irrationalität. Man darf dennoch anfügen: bloß keine Angst vor Ideen haben!
»Die Entstehungsgeschichte des Begriffs reflektiert die aus der Aufklärung hervorgegangene Idee einer neuen empirischen Wissenschaft der Sozialtechnologie, die über das moderne Bildungssystem weitere Teile der entstehenden politischen Öffentlichkeit erreichte. In diesem Kontext konnten Ideensysteme bzw. Ideologien jetzt als wichtige Elemente zur Mobilisierung zunehmend aktiver politischer Bürger dienen und den Überzeugungskern sozialer Bewegungen bilden« (3)
Die gesamte Wissenschaft ab Stalin und in seinen Fußstapfen irrte wohl erheblich, wenn sie den Teufel im Detail der Ideen vermutete. Bis heute ist bspw. ein Verständnis vom deutschen Idealismus dadurch deutlich verbogen und verbeult worden. Man wird verstehen können, dass deutsches Gedankengut auch ohne großartige Prüfung der Einzellage und Gedanken schnell mit dem identifiziert werden konnte, was historisch dann der angesprochene Faschismus wurde. Und diese Engführung scheint nicht richtig. Einen weiteren Diskurs zum Gegensatz Materialismus und Idealismus bietet dieser Text hier kaum noch an.
Materialismus / Common Sense
Auch der Materialismus ist ideologisch geworden, in vielfältigen Ausprägungen, sofern damit mal unschuldig noch vor der Antike quasi begonnen wurde. Jedoch war auch der materielle Atomismus (Leukipp, Demokrit) von Anfang an eigentlich mit ideologischen Gehalten aufgeladen. Das Atom war in diesem Sinne eine geistige Konzeption, eine Schöpfung, eine Idee. Selbst wenn es seine Bestätigung in der späteren Naturwissenschaft fand.
Der politische Überzeugungskern, was ja schon als Wort ein hübsches Pendant zum Atom ist, fußt natürlich auf alle möglichen Gebilde, seien sie gedanklich, seien sie erfahrbar oder erfahren, seien sie den Wünschen nach Anderem, nach Besserem abgerungen. Und es gibt hier auch die Tradition als Schmiede von Überzeugungskernen. Wie leicht scheint es doch zu sein, etwas für richtig zu halten, weil andere und womöglich bedeutsam Nahestehende es für richtig hielten oder dies immer noch tun. Tradierung wird über die Form der Kommunikation immer auch ein Teil des Diskurses. Keine Aktualität hebt den tradierenden Charakter von Inhalten einfach auf. Die gegenteilige Annahme verklärt das Jetzt, die Spontaneität selbst zu ideologischen Größen.
»Der heutige Gebrauch des Begriffs » Ideologie « schließt an die Überlegungen bei Marx und Engels an, die ihn auf verschiedene Weise verwenden, dabei aber immer das Problem des Verhältnisses von Interessen und Ideen, Basis und Überbau behandeln. … Über die noch erkennbare subjekttheoretische Vorstellung führt die Überlegung hinaus, ob nicht die sozialen Bedingungen selbst notwendig ideologisches Denken produzieren. … Weitergehend bestimmt Marx den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Ursache der ideologischen Vorstellungen, da die »juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen kurz, ideologischen Formen« das Medium sind, »worin sich die Menschen dieses Konflikt bewußt werden und ihn ausfechten« (Zur Kritik der Politischen Ökonomie)« (3)
Wir sind in einer gewissen offenen Lage insofern ständig von Ideologien und ideologischen Gehalten umgeben. Dazu, um es zu erkennen, müssen wir keinen großen Exkurs zu Konsum und Werbung veranstalten. Es sind psychologische Gedanken, die uns verraten, dass wir Dinge haben wollen, weil wir dahinter zu vermutende Ideensysteme mit Präferenz wahrnehmen.
Und, die Frage, warum jemand bspw. ein silbernes kleines Auto als Schlüsselanhänger hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten, nicht aus dieser Perspektive. Es ist nicht notwendiger Weise die Ideologie oder Utopie einer freien Fahrt für freie Menschen auf den endlosen Highways dieser Welt, nicht die Erinnerung an den Rausch des Immer Schneller Immer Weiter. Es wäre also voreilig, hierbei auf die Ideologie des Blutvergießens für Erdöl zu schließen. Vielleicht ist es nur die praktische Form plus Gewicht, die dem Objekt einen Sinn gibt. Evtl. die Erinnerung an die Freundin, die ein jeweiliges mich in einem ähnlichen Auto abholte, um gemeinsam die Obstgärten hinter dem Stadtrand zu erreichen. Wollen wir da ernsthaft von einer ideologischen Beeinflussung sprechen? Sinnvoll erreicht die Kritik am Ideologie-Begriff auch Grenzen.
Wer erkennt bspw. schon wirklich empirisch, dass die Welt / Erde, auf der wir leben, eine Kugel bzw. ein unregelmäßiger Raumkörper im Weltall ist?! Wir kommen kaum darum herum, es zu glauben. Damit machen wir eine Konzession zum ideologischen Denken, d .h. zu einem Denk-, Ideen- und Erklärsystem. Wir halten das dann für normal bis harmlos. Ja, nennen es common sense.
Gerade dies ist (aber womöglich) eine Anflugstelle für weitere Ideologien. Bauen sie doch nicht nur auf absurden Forderungen, auf irrationalen Momenten auf, sondern schleichen sich womöglich über die Tür des Plausiblen oder sogenannt Authentischen ein. Das klingt schon im Wort der empirischen Wissenschaft an. Und wer würde, in Folge von Marx oder Hegel bspw., nicht sagen, dass Bewusstwerdung eine notwendige bis vorzügliche Angelegenheit wäre.
Unterdrückung / Identität
Die Ideologie, die darin bestünde, auch subjektives Bewusstsein zu unterdrücken, weil ihr die Herkunft der Einsicht über das Medium ideologischer Formen suspekt wäre, handelte wohl im fortschreitenden Selbstwiderspruch. Genau dieser Selbstwiderspruch wird neben anderen Fragen der Herrschaft bzw. Macht über Menschen zum deutlichen Kennzeichen für Ideologie, gerade in ihrem Umkippen von einer sozial beschreibenden und hinterfragenden Funktion, hin zu ihrem Negativen. Und dieses Negative bildet der common sense dort ab, wo das gesellschaftliche, gemeinschaftliche, soziale Element, der eigentliche Gegenstand des common sense (sensus communis), zum Zwang wird, zur Zwangsgemeinschaft führt.
»Doch Ideologien als Weltanschauungswissen treten mit absoluten Wahrheitsansprüchen auf.« (3)
Das soziale Element ist insofern die soziale Form, der Kontext, in dem wir leben. Im Negativen dann, leben müssen. Und, dass eine / eines / einer etwas muss oder soll, weil alle anderen es auch müssen oder sollen, das lockert in keiner Weise die Lage auf, macht die Ideologie nicht automatisch klüger oder menschlicher oder was auch immer.
Zeichnet aber eben den Lebenszusammenhang als noch ideologisch aus. Und auch der Wegfall des Absoluten (absolute Wahrheitsansprüche) macht die Lage nicht durchsichtiger. Man steht einem System oder mehreren Systemen von Wahrheitsansprüchen gegenüber. Unterschlägt man auch die Wahrheit noch, bleiben greifbar übrig: die Ansprüche. Oder, was viel verteufelter ist, die Identität bzw. Identitätssetzung tritt an die Stelle des Wahrheitsanspruchs.
Hier verzweigt sich das daran anschließende Denken in Bedürfnisse, Interessen und Behauptungen; alles als Ansprüche. Wer würde nicht meinen, einen Anspruch im Leben zu haben, an das Leben und an sich selbst zu stellen, stellen zu können und stellen zu dürfen. Aber man sieht schnell ein, dass auch diese Vorstellungen, kommen sie doch aus der Mitte der Persönlichkeit, aus einem sozusagen ehrlichen Wollen, gewissen anderen Konstanten bzw. ideologischen Mustern (man habe Verständnis für das unpräzise Wort) verpflichtet, abgerungen oder entlehnt sind. Oder sein können. Auch dieses Können als Möglichkeitsform dreht sich problematisch um die Identität.
Wenn sich allein schon aus der Identität Forderungen ableiten lassen, handelt es sich fast notgedrungen um Ideologie. Die Konsequenz dieser Einsicht ist im derzeitigen Diskurs noch längst nicht verbindlich begriffen worden. Und das kann man so allgemein formulieren, da es in diversen Beispielfeldern zum Zuge käme.
Forderungen können auch Forderungen sein, die man an diese Identität heranträgt. Es wird schnell bewusst, dass Identität eine ideologische Verengung der komplexen Erscheinung bedeuten kann. Etwa wenn ein Mensch auf seinen sozialen Status verengt wird. Und die Liste der Beispiele nähme kein Ende. Das Klassenbewusstsein von Unten war ein Versuch, diese ideologische Komponente des politischen Lebens umzukehren. Sozusagen ein Nachteil in einen Vorteil zu verkehren. Dabei gelang bis heute nur in seltenen Fällen (auf das Gesamte der Gesellschaft bezogen gedacht) der letztendliche Aufbruch der ideologischen Gehäuse. Selbst die diversen Systeme des Sozialismus waren nie über eine Fixierung des Individuums anhand ideologischer Werte hinweggekommen.
Selbstbestimmung / Vernunft
Doch, wer nur von Ideologien spricht oder ausgeht, verkennt die Realität der Ideologen und Ideologinnen. Denn, dass sich eine Ideologie, ganz gleich welcher Natur und Ausrichtung, völlig alleine reproduziert, ist vermutlich der gleißende Irrtum von Denkern und Denkerinnen, die eine Welt freier Akteure und Akteurinnen als Gegebenheit annehmen. Die Freiheit macht nicht notwendig frei.
Selbstbestimmung und alles, was damit verbunden (zu denken) sein kann, ist per se ein klassisches Beispiel dafür. Und dies unterschlagen derzeitige Theorien zur Selbstbestimmung teilweise fundamental und radikal. Dagegen hilft nur ebenso radikales Denken, etwa in Gestalt radikaler Philosophie. Oder eine fundamentale Darlegung einer wahren Basis des Zusammenlebens, oder eben der Rekurs zum Fundament einer derzeitigen Lebensweise, wie es sich in den Grundrechten, den Menschenrechten manifestiert hat. Instrumentalisierung des Unrechts bleibt hingegen dem Unrecht verschwistert.
»Weil die bürgerliche Klasse ihre objektiv bereits überfällig gewordene Herrschaft erhalten will, muß sie, wie Marx erklärt, ihre partikularen Interessen als allgemeingültig ausgeben und kann deshalb nicht zur wahren Erkenntnis über sich selbst, wie sie sich in Phil, Recht, Politik u a äußert, gelangen; eine solche würde die Interessenbedingtheit des eigenen Denkens enthüllen und den eigenen Machtanspruch relativieren. Ihre Denkerzeugnisse sind deshalb Ideologie.« (5)
Die Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere dürfte allerdings nicht die einzige Funktion von Ideologie sein. Das Wort der Notwendigkeit eilt hier dem sozialen Halt unsinnig entgegen. Sicherlich ist aus dieser Perspektive Wahrheit ein Problembegriff. Allerdings löst der Verzicht auf Wahrheit das Problem in keiner Weise auf, macht nur die ideologische Grundvoraussetzung des Lebens und Denkens wesentlich uneinsichtiger. Womit wir wieder bei der einfachen Verschleierung von Tatsachen stünden. Ohne Wahrheit, ohne Wahrheitsbegriff legen wir also ein taugliches Werkzeug aus der Hand. Ohne dafür ein besseres oder anderes zu erhalten. Das ist eher närrisch. Und Wahrheit ist keine statische oder statistische Meßgröße – nur zur Erinnerung.
»Aufgabe einer Ideologiekritik als Teil einer Erkenntnistheorie wäre es, die Abhängigkeit philosophischen Denkens von geschichtlich-gesellschaftlichen Gegebenheiten und seine mögliche Funktion als Rechtfertigung des nur faktisch Gegebenen zu untersuchen und so gerade die kritische Funktion der Philosophie gegenüber einer sich als vollendet (gerecht, frei) ausgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit abzusichern.« (5)
Am einfachsten wäre natürlich, wir ersetzen das Müssen und Sollen durch ein Wollen. Und, wenn man all das Schönrednerische von Vernunft abzieht: auch dies kann vernünftig sein. Das wird das Problem der Vernunft bis zur Jetztzeit bleiben: (8) Dass das Individuum der Freiheit zuliebe auf Freiheit verzichtet. Aber zwischen dem Verzicht und dem ernötigten Verzicht liegt vielleicht mehr als eine Welt, mehr als Lichtjahre von Gedanken, mehr als eine verdammte soziale Kluft oder was auch immer. Dazwischen liegt die gesamte Frage nach der Willensfreiheit.
Darf man von Willensfreiheit ausgehen?
Und nur die Antwort auf diese Frage, die jeder für sich selbst zu erbringen hat, kann entscheidend etwas über Fortbestehen und Wirksamkeit bzw. Wirkungslosigkeit von Ideologien beitragen. Und wird ganz unterschiedliche Intelligenzen zutage fördern. Die Angst vor Intelligenz = Ideologie wird aber immer problematischer zur Rechtfertigung schon bestehender Ideologien benutzt. Man muß es nicht Angst nennen. Von Vorbehalt bis Aversion ist alles möglich. Auch ist das Insistieren innerhalb marxistischer oder materialistischer Denkformen auf das Zustreben oder Zufallen der leibhaften Intelligenz (Intelligenzija) in das Lager der sogenannten Ausbeuter mehr als banal / prekär bzw. weniger als das, und verkennt die eigentliche selbstbildende Mission einer zur Befreiung = Selbstbefreiung berufenen Gruppe von Menschen. In diesem Zusammenhang ist das Festhalten an sozialer Identität mehr als hinderlich, will heißen: ideologisch.
Dazu ist die Möglichkeit zu Diskurs, Kritik und Dialog schon viel zu weit verbreitet, als dass man eine Rückkehr in die nicht sozialisierten Tage anstreben könnte. Es mag Lebensbereiche geben, die nicht durch Massierung der Menschen ausgezeichnet sind, aber Kommunikation ist keine technische Stellgröße, die wir unbeschadet und unmerklich wieder unter den Tisch fallen lassen oder zurückdrehen (lassen) können.
Kommunikativität und Sozialität werden auszeichnende Merkmale einer gemeinsamen Lebensform sein können, die wir der Einfachheit zuliebe gerne immer noch insgesamt Staat nennen könnten, oder auch ganz anders, je nach Kontext, etwa auch Diskurs-Gemeinschaft, die im Weiteren keine ideologischen Definitionen mehr nötig hat. (7) Weder zur Selbstbestimmung, noch zur Fremdbestimmung. Damit entfielen die wesentlichen Kategorien der Freund- und Fremdgruppe im soziologischen Sinne folgerichtig.
Alles andere ist mehr oder weniger private Angelegenheit, und hat in der Gesellschaftstheorie wenig bis gar nichts verloren. Oder wir gehen weiterhin von einer gewissen Übermacht gewisser Freundes- oder Feindesgruppen aus. Aber ist dies zweckmäßig? Dann wäre die Form der Ideologie evtl. nur an den Rändern weicher formuliert. Sozusagen vermenschlicht, scheinbar domestiziert.
Dass Freundschaft ein ideologischer Begriff ist, wollen wir sicherlich nicht wahrhaben. Doch wo Freundschaft mit sozialer Identität korreliert, drängt sich der Verdacht auf. Und: im Übertragen privater Kategorien auf das Gesellschaftliche kann eine mögliche Form der Ideologisierung erkannt werden. Selbst wenn man dabei nicht auf eine böse Absicht schließen kann.
»Daß philosophische Erkenntnis den gesellschaftlichen Bedingungen verpflichtet ist, in denen sie vollzogen wird, ist nicht zu bestreiten; zugleich bleibt wahr, dass diese an Normen zu messen und auf sie hin zu verändern sind, die mit dem Faktischen noch nicht mitgegeben sind.« (5)
Heutzutage muss eine Rechtfertigung und Begründung politischer Tatsachen vor allem auch auf kommunikativen Wegen geschehen. Darin liegt der Einsatz einer Möglichkeit von Entideologisierung (Deideologisierung). Alles andere wäre quasi (nur) Dekretierung. Insofern ist Kommunikation auch eine praktische Intelligenz. Und wer sie unterbindet, machte sich (mit gewisser Wahrscheinlichkeit) schuldig am Abbau von Ideologie. Der Mensch ist keine Ideologie. Der gute Humanismus wusste dies, der schlechte hatte es genau verkehrt. (6)
Und es soll kein böser Einfall an dieser Stelle sein, dass von Humanismus die Rede ist. Trägt sich doch in dieser Konzeption, in dieser Begrifflichkeit von Anfang an ein Streit der Ideologie aus: der Mensch als Ideom, als Idee, als Idol. Der zerschnittene Mensch trägt heute viel zur Ideologie, zur Ideologisierung bei, sei es als Chauvinismus, sei es als Feminismus, in so vielen ihrer Spielarten. Das betrifft Fragen der Herstellung von Identität.
2014 © R A im Juni in Berlin.
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(1) Kosmonaut Jurij Glaskow
(2) Ernst R. Sandvoss, Space Philosophy, S.204
(3) De Gruyter / Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie
(4) live dokumentiert.
(5) Brugger / Herder, Philosophisches Wörterbuch
(6) das setzte sich in die Anthropologie fort.
(7) oder man bliebe bei der Kritik der Politischen Ökonomie stehen. Was vielleicht noch nicht bzw. nicht mehr der weite Horizont wäre, den man sich (zumindest analytisch) erhoffen wollte. Wie wäre es mit Arkadischen Gefühlen oder einem Philosophieren sprich Denken / Reden / Hören / Handeln unter freiem Himmel?! Außerhalb dem historischen Kabuff.
(8) Adorno, Probleme der Moralphilosophie, u. a. 12. Vorlesung. Das Motiv ist jedoch wie ein Roter Faden.
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