„Wo bleibt der Aufschrei?“, hieß es am 1. Januar, als erste Details davon bekannt wurden, dass in der Silvesternacht dutzende von Frauen am Kölner Hauptbahnhof sexuell belästigt und ausgeraubt worden waren. Die Täter wurden als eine Gruppe von Männern nordafrikanischer oderarabischer Herkunft beschrieben. Traue man sich in Deutschland nicht mehr, Verbrecher anzuzeigen, wenn sie Muslime seien? Gelte für Ausländer nun Rechtsfreiheit? Jetzt, mit einigen Tagen Verspätung, ist der Aufschrei da, und wieder gibt es Gegenwind, diesmal von der anderen Seite: Die Vorkommnisse würden als Anlass für rechte Hetze genutzt, um Angst vor Zuwanderern und vor dem Islam zu schüren. Die Täter pauschal als Ausländer oder Muslime zu bezeichnen, sei eine Verfemung aller Migranten und setze Gewalt gegen Frauen mit dem Islam gleich. In der Presse und in den sozialen Netzwerken wird nun hitzig darüber diskutiert, wie man die Tätergruppe benennen solle, ohne dass irgendjemand sich auf den Schlips getreten fühlt; das Verbrechen selbst gerät dabei als Thema völlig in den Hintergrund.
Niemand ist gerne von Pauschalisierungen mitbetroffen. Ich ärgere mich auch, wenn es heißt, Deutsche seien Rassisten, oder wenn ich mir Witze über dumme Blondinen und Frauen hinterm Steuer anhören muss. Denn ich bin zwar Deutsche, Frau und Blondine, möchte aber weder zu den Nazis noch zu den Dummchen oder den unfähigen Autofahrerinnen gezählt werden. Nur kann es nicht sein, dass solche Befindlichkeiten alles Andere verdrängen, denn egal, wie wir die Täter aus der Silvesternacht bezeichnen – irgendjemand wird sich immer angegriffen fühlen, weil er auch zu dieser Personengruppe zählt: Nordafrikaner, Araber, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer, Männer, Menschen. Menschen sind es, die Menschen das Schlimmste antun.
Wovon wir uns angesprochen fühlen, hängt immer damit zusammen, zu welcher Gemeinschaft wir uns selber zählen. Ich kann mich, je nach Kontext, als Europäerin, Deutsche, Baden-Württembergerin oder Heidelbergerin fühlen, als Frau, Tochter, Akademikerin oder Atheistin. Jeder von uns hat eine Vielzahl möglicher Identitäten, die er unterschiedlich gewichten kann. Für Gläubige ist die eigene Religionsgemeinschaft oft das stärkste Bindeglied, das nationale und sprachliche Grenzen überwindet, und das gilt vermutlich für weit mehr Muslime als Christen, die ja gerade in Westeuropa oft nur wenn überhaupt, dann an Weihnachten in die Kirche gehen oder allenfalls das übliche „Programm“ der Taufe, Firmung/ Konfirmation und kirchlichen Trauung durchlaufen. In einer internationalen Facebook-Gruppe, in der gerade dieselbe Diskussion wie überall ausgetragen wird, mahnten deshalb mehrere Leute an, doch über die Täter aus Köln bitte als Männer aus dem Nahen Osten, nicht aber als Muslime zu sprechen. Wenn der Islam angegriffen wird, wiegt das für Muslime offenbar schwerer als wenn die eigene Heimat verunglimpft wird, zumal es für Viele momentan keine Heimat mehr gibt.
Oft merken wir überhaupt erst, wer wir eigentlich sind, wenn wir mit dem Anderen, dem Fremden konfrontiert werden. Noch nie habe ich mich so deutsch gefühlt wie in meinem Auslandssemester in Rom. Dort ist mir schmerzlich bewusst geworden, wie sehr meine Laune davon abhängt, dass alles nach Plan funktioniert, Verabredungen pünktlich eingehalten werden und Busse die angegebene Route nehmen. Ich musste mir eingestehen, dass ich deutscher bin als ich bis dahin geglaubt hatte und dass Vieles, was ich vorher gerne als Klischee abgetan hatte, auf mich selber zutrifft. Auch der Umgang mit Frauen in Italien war mir sehr fremd. Dass man von Männern zwischen 15 und 50 demonstrativ von oben bis unten gemustert wird, sie einem wie einem Hund hinterherpfeifen und –brüllen oder jemand im Bus plötzlich von hinten seinen Schritt so dicht an meinen Körper presst, dass ich seine Erektion spüren kann, ist mir zuwider. Solche Dinge können überall passieren, dafür muss man Deutschland und Europa nicht verlassen. Aber sie sind nicht überall selbstverständlich.
Ich bin damals als Studentin nach Rom gekommen und zur Deutschen geworden. Als das italienische Team in der Vorrunde der Fußball-WM rausflog, habe ich mich diebisch gefreut und dann stolz die Deutschlandfahne auf der Backe getragen, als Deutschland ins Finale einzog. Dabei interessiere ich mich sonst gar nicht für Fußball und schon gar nicht für’s Fahnenschwenken. Ein solcher Wandel des subjektiven Zugehörigkeitsgefühls kann gefährlich sein, wenn er gewalttätige Züge annimmt. Und er kann auch ungewollt provoziert werden: Je fremder sich jemand in einer neuen Gemeinschaft fühlt, desto mehr wird er sich auf seine eigene Identität besinnen, wird er Seinesgleichen suchen, Menschen, die dieselbe Herkunft, Sprache oder Religion haben. Je mehr wir auf die Unterschiede pochen, desto mehr verhärten sich die Grenzen.
In Deutschland herrschen Freiheit und Gleichheit, und wer das missachtet, wer meint, sich Frauen mit Gewalt nehmen zu können, der ist hier fehl am Platz, unabhängig davon, ob er Deutscher oder Ausländer ist. Was in Köln und andernorts in der Silvesternacht passiert ist, ist unverzeihlich – wie jeder sexuelle Übergriff, der als Einzelfall nicht in den Medien auftaucht. Die Täter, wer auch immer sie sind und wie auch immer wir sie bezeichnen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Und wenn es sich in ihnen tatsächlich um muslimische Migranten handelt, muss man sie korrekterweise auch so benennen dürfen, ohne damit allen Muslimen oder Flüchtlingen dasselbe Gewaltpotenzial zu unterstellen.
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