„Ich verzeihe allen und bitte alle um Verzeihung“ – Der Selbstmord des Dichters Cesare Pavese

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Cesare Pavese (1908 – 1950) ist ein Klassiker der Moderne in der italienischen Literatur. Er schrieb vor allem Romane, Erzählungen und Gedichte. Bereits in jungen Jahren galt er als erfolgreicher Schriftsteller. Im Jahr 1950 – kurz vor seinem Suizid – erhielt der den höchsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. Der Satz „Ich verzeihe allen und bitte alle um Verzeihung“ ist der letzte Satz, den er geschrieben hat. Er schrieb ihn in eines seiner Bücher mit dem Titel „Dialoghi con Leuco“, das in dem Hotelzimmer lag, in dem er sich das Leben nahm. In seinen Tagebüchern ist über viele Jahre hinweg immer wieder vom Suizid die Rede. Die Möglichkeit, das Leben aktiv durch einen Selbstmord zu beenden, beschäftigte ihn immer wieder. „Handwerk des Lebens“ nannte er seine Tagebücher. Sein Suizid war das letzte Handwerk seines Lebens, das der immer wieder geplant und dann ausgeführt hat.

Kurzes biographisches Porträt

Cesare Pavese wurde am 9. September in Santo Stefano Belbo, einem kleinen Ort südlich von Turin im Piemont geboren. Sein Vater war Justizbeamter und er hatte noch fünf Geschwister. Von diesen sind jedoch drei frühzeitig gestorben. Als er sechs Jahre alt war, verlor er seinen Vater durch einen Hirntumor. Seine Mutter hatte innerhalb kurzer Zeit vier Mitglieder der Familie verloren – den Ehemann und drei Kinder. Sie war zunehmend verzweifelt und depressiv. Sie wirkte abwesend und „wie eine tote Mutter“ (André Green). Sie konnte dem kleinen Cesare weder Geborgenheit noch liebevolle Zuwendung vermitteln. Insofern wuchs er auf wie ein „emotionaler Vollwaise“.  In Turin machte der das Abitur und dort studierte er Literaturgeschichte. Er schloss sein Studium erfolgreich ab und promovierte über den amerikanischen Dichter Walt Whitman. Nach dem Studium verdiente er seinen Lebensunterhalt als Übersetzer und schrieb erste eigene Werke. Er übersetzte vor allem die Werke von erfolgreichen amerikanischen Dichtern ins Italienische. Herman Melville, William Faulkner, Daniel Defoe, James Joyce und Charles Dickens waren bei den Übersetzungen seine Lieblingsautoren. Im Alter von 20 Jahren begann er Gedichte zu schreiben. Im Jahr 1936 erschien sein erster Gedichtband „Lavorare stanca“ (deutsch: Arbeit macht müde). Zur Zeit des italienischen Faschismus war er auf der Seite der Antifaschisten. Er wurde verhaftet und verbrachte acht Monate in einem Gefängnis in Kalabrien. Mit 30 Jahren wurde er fester Angestellter im renommierten Turiner Verlagshaus Einaudi. Cesare Pavese blieb lebenslang Junggeselle. All seine Frauenbeziehungen verliefen unglücklich. Den zweiten Weltkrieg verbrachte er mit der Familie seiner Schwester auf dem Land. Nach dem Krieg kehrte er nach den Stationen Rom und Mailand wieder nach Turin zurück. Dort nahm er sich am 27. August 1950 durch eine Überdosis von Barbituraten das Leben (Hösle 1964, Albath 2008, 2010).

Sowohl seine Übersetzerin Maja Pflug als auch seine Schriftsteller-Kollegin Natalie Ginzburg, mit der er eine Jahrzehntelange Freundschaft hatte, charakterisierten Cesare Pavese als einen abgrundtief einsamen Menschen. Natalie Ginzburg (1963) fasste dies wie folgt zusammen:

„Er hatte nie eine Frau oder Kinder oder ein eigenes Heim. Er wohnte bei einer verheirateten Schwester, die ihn gern hatte und die er auch gern hatte; aber er behielt auch im Familienkreis seine üblichen rauen Umgangsformen und benahm sich wie ein Junge oder ein Fremder.“

„Die einsamen Frauen“ (1949)

Der Roman „Die einsamen Frauen“ ist einer seiner bekanntesten Romane. Es geht viel um Einsamkeit und Selbstmord. Viele Kenner von Pavese glauben, dass dieser Roman auch ein „Vorspiel“ oder Drehbuch für den eigenen Suizid darstellt. Der Roman beginnt mit einem gescheiterten Suizidversuch und endet mit einem gelungenen. Er beschreibt das Leben von jungen Frauen in Turin in der Nachkriegszeit. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Clelia ist erfolgreich in der Modebranche tätig, lebte lange Zeit in Rom und kehrt nach 17 Jahren in ihre Heimatstadt Turin zurück, um dort eine Filiale ihres gut gehenden Modegeschäftes aufzubauen. Sie trifft andere Frauen ihres Alters – vor allem Rosetta und die zynische Momina. Rosetta ist die Stellvertreterin des Selbstmordes. Zu Beginn des Romans erfolgt ein misslungener Suizid – am Ende ein gelungener. Clelia ist umgeben von gleichaltrigen Frauen, die wohlhabend sind und es nicht nötig haben zu arbeiten. Sie empfinden Langeweile und Überdruss. Zum Zeitvertreib stürzen sie sich in allerlei fragwürdige Vergnügungen und Laster. Clelia ist da ganz anders. Sie kennt nur ein Laster: Die Lust am Alleinsein. Sie meidet enge Beziehungen und stürzt sich in die Arbeit. Ihre Arbeitssucht hat die Funktion, ihre Einsamkeit zu überdecken (Auffermann 2008, Hirsch 2008).

Ein Jahr nach Erscheinen des Erfolgsromans bringt sich der Romanautor Cesare Pavese in gleicher Weise um wie Rosetta – in einem Hotelzimmer mit einer Überdosis Schlaftabletten. Der Schriftstellerfreund Italo Calvino nennt diesen Roman eine „autobiografische Projektion“ des ganzen Lebens von Pavese. Der Literaturwissenschaftler Steffen Richter (2008) betont dazu: „Selten aber hat ein Stück Literatur so entsetzlich das Leben vorweggenommen.“

Der Roman „Die einsamen Frauen“ ist der dritte Roman in der sog. Turiner Trilogie. Diese umfasst auch die früheren Romane „Der schöne Sommer“ und „Der Teufel auf den Hügeln“. Alle drei Romane spielen in Turin und Umgebung. Der zuerst erschienene Roman „Der schöne Sommer“ gab der Trilogie den Titel. Eine Neuauflage ist im Jahr 2021 im Schweizer Rotpunktverlag herausgekommen.

Die Einsamkeit von Cesare Pavese

In seinen Tagebüchern „Handwerk des Lebens“ schreibt Pavese immer wieder über das Leiden und die Schmerzen seiner wiederkehrenden Einsamkeit. Seine Tragik war, dass er aufgrund seiner traumatisierenden Kindheit nie gelernt hat, Beziehungen zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Seine sechs Jahre ältere Schwester war der einzige Mensch, der ihn lebenslang begleitet hat. Bei ihr und deren Familie lebte und wohnte er wie ein zusätzliches Kind. Sie war für ihn eine Art Ersatz-Mutter und Vertraute. Am Tag vor seinem Suizid packte sie ihm noch einen kleinen Koffer für eine kurze Reise. Dass es absolut die letzte Reise von Cesare Pavese sein sollte, ahnte sie nicht. Sein Mangel an tragfähigen Beziehungen erzeugte die Einsamkeit und hielt sie aufrecht – bis zum Suizid. So starb er als ein sehr einsamer Mensch in einem anonymen Hotel genau in der Stadt, die seine war, in der er berühmt und anerkannt war.

Einsamkeit und Suizid 

In psychologischen Studien zur Einsamkeit taucht immer wieder der Zusammenhang von Einsamkeit und Suizid auf. Zahlreiche Forscher betrachten die Einsamkeit als einen signifikanten Risikofaktor für Depression und Suizid (Csef 2018, 2022). Einsamkeit ist methodisch schwer zu erfassen und ein sehr langdauerndes und fluktuierendes Phänomen. Die Suizidmotive bleiben auch oft im Dunkeln, vor allem wenn es keine Abschiedsbriefe, Tagebücher oder Vorankündigungen gibt. Insofern sind hier noch viele Fragen offen. Bei Cesare Pavese scheint der Wechselwirkung von Einsamkeit und Suizid evident. Seine Tagebücher belegen dies. In diesen schreibt er immer wieder von Einsamkeit und Selbstmord. Bereits seit seiner Jugendzeit beschäftigten ihn Gedanken an Selbstmord. Mit 28 Jahren wollte er sich erstmals ernsthaft umbringen. Einem Freund teilte er mit, dass „das geölte Seil bereit liege“ zum Erhängen. Der Literaturjournalist Tomas Fitzel kommentierte die permanent wiederkehrenden Selbstmordimpulse wie folgt:

„Wer sein Leben lang davon spricht, muss einmal wirklich ernst machen, damit man ihn noch weiter ernst nimmt.“

(Tomas Fitzel, 2000 zum 50. Todestag)

Bei Cesare Pavese wurde die Einsamkeit chronisch. Sie wurde zur langdauernden Lebensbegleiterin, die ihm viel Schmerzen und Leid zumutete. Er wurde sie nie mehr los. Und an seinem inneren Drehbuch für den Selbstmord arbeitete er seit seiner Jugendzeit – fleißig und unermüdlich.

Liebesenttäuschungen und narzisstische Kränkungen als Suizidmotiv 

Die besonderen Belastungen seiner frühen Kindheit durch die zahlreichen Todesfälle (Vater und drei Geschwister) hatten ein familiäres Klima erzeugt, in dem Liebe, emotionale Zuwendung und Geborgenheit nicht gelebt werden konnten. Seine Mutter war – wie oben beschrieben – apathisch, emotional abgestumpft und wie abwesend. Sie war selbst wie eine „tote Mutter“. Ihr fehlte der Glanz des Lebens in ihren Augen. Stattdessen symbolisierte sie den Tod, der seit der frühesten Kindheit der Schatten über dem Leben von Cesare Pavese lag. Er konnte nie miterleben, wie Liebe zwischen Mann und Frau aussehen und gelebt werden könnte. Er war ein emotionaler Analphabet bezüglich Liebesleben und Beziehungserfahrungen. Mit dieser kümmerlichen Ausstattung ist es nicht verwunderlich, dass Cesare Pavese im Umgang mit Frauen immer tief enttäuscht und gekränkt war. Er hatte eine ungeheure Sehnsucht nach Liebe und ein lebenslang ungestilltes Liebesverlangen. Als er sich schließlich im Alter von 41 Jahren umbrachte, hatte er nie eine längere Liebesbeziehung zu einer Frau erlebt. Er hatte nie eine eigene Wohnung. Er war seelisch verarmt und ausgedürstet. Sein letzter Liebesversuch sollte schließlich zum Sargnagel für ihn werden.

Um die Jahreswende 1950 lernte er in Rom zwei junge amerikanische Filmschauspielerinnen kennen – Constance und Doris Dowling. Er verliebte sich in Constance, setzte noch einmal alle Hoffnungen in diese Liebe und scheiterte erneut. Nach wenigen gemeinsamen Tagen geht Constance im April 1950 nach Amerika zurück und verspricht, in zwei Monaten wieder zu Cesare Pavese zurückzukehren. Pavese war in Liebesangelegenheiten im Verlauf seines Lebens extrem misserfolgsmotiviert – er erwartete also regelrecht die Liebesenttäuschung. Folglich schrieb er in einem letzten Brief an Constance am 17. April 1950:

„Liebste, du wirst nie zu mir zurückkehren, selbst wenn du den Fuß wieder nach Italien setzt. Wir haben beide im Leben etwas zu tun, das es unwahrscheinlich macht, dass wir uns wieder begegnen, geschweige heiraten, wie ich verzweifelt hoffte. Aber Glück ist ein Ding mit Namen Joe, Harry oder Johnny – nicht Cesare.“

Einige Wochen zuvor schrieb er in sein Tagebuch:

„Man tötet sich nicht aus Liebe für eine Frau. Man tötet sich, weil eine Liebe, irgendeine Liebe, uns in unserer Nacktheit enthüllt, in unserem Elend, unserer Wehrlosigkeit, unserem Nichts.“

(Cesare Pavese, Handwerk des Lebens, 25. März 1950)

Pavese hatte in seinem Liebesleben nicht nur erhebliche Beziehungsängste, er war auch im körperlichen Vollzug der geschlechtlichen Vereinigung gestört. Er erlebte sich selbst als impotent – und dies war seine tiefste narzisstische Kränkung: kein vollwertiger Mann sein zu können.

Etwa zwei Monate später schreibt er in seinem Tagebuch:

„Hinter jener olympischen Befriedigung war dies – die Impotenz und die Weigerung, mich zu verpflichten. Jetzt bin ich auf meine Art in den Strudel geraten: Ich betrachte meine Impotenz, ich spüre sie in den Knochen, und ich habe mich verpflichtet an ein politisches Engagement, das mich erdrückt. Die Antwort ist nur die eine: Selbstmord.“

(Cesare Pavese, Handwerk des Lebens, 27. Mai 1950)

Im März und April des Jahres 1950 schrieb Cesare Pavese einen letzten Gedichtzyklus von zehn Gedichten, die die Hinterbliebenen nach seinem Tod gefunden haben. Darin antizipiert er seinen Selbstmord und bringt ihn in den Zusammenhang mit der Liebesenttäuschung durch Constance Dowling.

Das Gedicht trägt den Titel

„Der Tod wird kommen und deine Augen haben“

Der zweite Vers dieses Gedichtes lautet:

„Für alle hat der Tod einen Blick.

Der Tod wird kommen und deine Augen haben.

Das wird sein wie das Ablegen eines Lasters,

wie wenn man ein totes Gesicht

wieder auftauchen sieht im Spiegel,

oder auf eine verschlossene Lippe horcht.

Wir werden stumm in den Strudel steigen.“

Die Todesahnungen und die Todessehnsucht haben vier Monate später ihre finale Verwirklichung gefunden. Der einsame, enttäuschte und gekränkte Cesare Pavese ging in ein fremdes Hotelzimmer und beendete sein Leben. Sein inneres Drehbuch eines frühzeitigen Selbstmordes wurde nun erfüllt. Für Pavese war es jetzt an der Zeit. Es war die Situation, in der er seinen lange gehegten Suizidplan in die Tat umsetzen wollte.

Literatur

Albath, Maike (2008) Ein scheuer, spröder Mensch. Zum hundertsten Geburtstag von Cesare Pavese. Deutschlandfunk vom 9. September 2008

Albath, Maike (2010) Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943. Berenberg, Berlin

Auffermann, Verena (2008) Lust und Last der Einsamkeit. Deutschlandradio Kultur vom 3. September 2008

Csef, Herbert (2018) Die Einsamkeit der Sterbenden. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 2/2018, S. 1 – 10

Csef, Herbert (2022) Psychologie der Einsamkeit. Gesundheitspolitische Herausforderungen durch die zunehmende Einsamkeit. Tabularasa Magazin vom 6. Mai 2022

Fitzel, Tomas (2000) Das Symbol einer Generation. Vor 50 Jahren nahm sich der Romancier Cesare Pavese das Leben. Die Welt vom 26. August 2000

Ginzburg, Natalie (1963) Porträt eines Freundes. Neue Züricher Zeitung 1963

Hirsch, Antje (2008) Die Lust am Alleinsein. FAZ vom 3. September 2008

Hösle, Johannes (1964) Cesare Pavese. De Gruyter, Berlin, 2. Aufl.

Pavese, Cesare (1992) Hunger nach Einsamkeit. Gesammelte Gedichte. Fischer, Frankfurt

Pavese, Cesare (2000) Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935 – 1950. Claassen, Berlin

Pavese, Cesare (2021) Der schöne Sommer. Drei Romane. Rotpunktverlag, Zürich

Richter, Steffen (2008) Der Unzulängliche. Der Tagesspiegel vom 8. September 2008

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

 

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.