„NICHTS IST KLEIN – NICHTS IST GROSS – Was ist die Zeit? Nichts ist groß – nichts ist klein – was ist die Liebe? Nichts, nichts – Jedes Nichts lässt sich entfalten als die Geschichte einer Sehnsucht.“
Die geradezu schreiende Sehnsucht des großen norwegischen Künstlers Edvard Munch ist die nach Berührung. Ein schier unstillbarer Drang, verbunden mit einer großen Lebensangst, genährt aus Ängsten und Zwangsvorstellungen durch den frühen Tod der Mutter, den vielen Umzügen und Krankheiten in der Familie und letztendlich dem Tod seiner geliebten Schwester Sophie und einem in Frömmelei abdriftenden Vater. Zeit seines Lebens wird er schwer an seinen Gespenstern schleppen und stets auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn wandern. Zur Kompensation nimmt der Zerrissene „Zuflucht im Draußen. In dem, was nicht er selbst ist.“ Gerade dies jedoch macht die Bilder des am 12. Dezember vor 150 Jahren Geborenen von seltener Einprägsamkeit. Munch bedient sich flammender Rot-, giftiger Grün-, mystischer Blautöne und makabrer dunkler Schatten, um seine gefühlsbetonten Stimmungen auf die Leinwand zu bringen. Hinzu kommt eine „Dimension des Körperlichen, die man nicht sehen kann. Eine Art Vibration, die aus dem Seelischen in das Umfeld des Körpers tritt und zugleich aus dem hervorgeht, was ein Mensch an Erlebtem und sogar seinen persönlichen Toten mit sich herumträgt.“, wie es Tanja Lange treffend ausdrückt.
Mit viel Verve nähert sich die Autorin dem Norweger an. Einfühlsam, mit großem Fingerspitzengefühl und hoher Sensibilität zeichnet sie Munchs Lebensweg zwischen Rausch und Wahn, zwischen Entsagung und Einsamkeit, nach. Entstanden ist eine Biografie in Bildern aus seinen Bildern heraus. Ihr Text nimmt zwar gewisse biografische Eckdaten auf, handelt diese aber keineswegs analytisch und kontinuierlich ab. Die Lektüre kommt eher einem aufwühlenden Ausstellungsbesuch gleich. Bilder einer Biografie. Genauso unstet und labil, ebenso zerklüftet und schwankend wie der Biografierte selbst. Dadurch erreicht Tanja Langer beim Leser eine unglaubliche Nähe zu dem Maler, gewährt einen tiefen Einblick in sein Inneres und damit ein hinführendes Verständnis seines immensen Œuvres.
„Kunst“, schrieb Edvard Munch einmal, „wächst aus Freude und Leid, aber vor allem aus Leid. Meine Kunst hat meinem Leben einen Sinn gegeben. Durch sie habe ich das Licht gesucht und auch andern Licht bringen wollen.“ Dies ist der rote Faden, der sich durch den gesamten Text zieht. Dieses optisch fassbar Machende als „Gegenbeweis zu seinem grauenhaften inneren Verschwinden, dieser ätzenden Auslöschung, die ihn immer wieder heimsucht.“ Dieses Ausprobieren von etwas Neuem, an Formen und Farben, um der eigenen Pein des Lebens, den immer wieder erlittenen Verletzungen zu trotzen. Sei es die Tragödie mit Tulla in ihrem gemeinsamen Irrsinn, die rasende Eifersucht, das Betrogensein und Verlassenwerden. „Er arbeitete wie besessen, alles, was hochstieg. Mutter und Tochter. Tod der Mutter. Landschaften in Gesichtern, Gesichter in Landschaften. Weiße Nächte. Licht in der Dunkelheit, Tageslicht, Nachtlicht. Farbe, Farbe, Farbe. Aufbrechende Linien. Fratzen. Kinder. (…) Dann wieder Männer und Frauen, Frauen und Männer. Ineinander verschlungen, Küsse, bis zur tödlichen Verstrickung. Dreiecke der Eifersucht. (…) ein Zimmer, das es nur in seiner Vorstellung gibt, und in dem er den Hass des Betrogenen und die Enttäuschung des Liebenden lodern lässt, in Rot, Schwarz und Grün. In dem die Protagonisten, ihrer dummen, fleischlichen Begierde ausgeliefert, rosafarbenen Schweinsgesichter bekommen, grüne Krötenmäuler und gelbe Affenfratzen. In denen ihre Gesichter bis zur Unkenntlichkeit sich in Farbflecke auflösen und sie nur noch eines buchstabieren können: Die Eifersucht ist ein grünäugiges Monster, das unser Fleisch verhöhnt, eh es uns frisst.“
Während Edvard Munch in Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts umherreist und seine Werke ausstellt, die damals noch belächelt werden oder Entsetzen hervorrufen, wird er immer abhängiger vom Alkohol. Nach einem schweren Nervenzusammenbruch und einem achtmonatigen Aufenthalt in einer Kopenhagener Klinik setzte eine neue, optimistischere Periode seiner Kunst ein. Die letzten 28 Jahre seines Lebens verbringt Munch auf dem Gut Ekely vor den Toren Oslos. Er löste fast alle Bindungen und lebt hier fast wie ein Einsiedler. Doch auf der Leinwand oder beim Zeichnen bringt er den in der Kindheit zersprengten Zusammenhang wieder in sein Leben. „Die Angst war mein Wegweiser und die Eifersucht war eine ihrer Formen. Ohne Angst hätte ich das Leben nicht verstanden, und ohne Eifersucht die Liebe nicht.“ Das war sein „Tanz des Lebens.“
Fazit: Heute widmet man Edvard Munchs Werk weltweit eine ganz andere Aufmerksamkeit als noch vor 100 Jahren. Seine originellen Radierungen, Lithographien und Holzschnitte zählen zu den höchstbezahlten graphischen Schöpfungen der Moderne. Das Buch von Tanja Langer ist ein ebenbürtiger Beitrag dazu. „Was bleibt (…) in der Kunst, ist das von uns nicht Gelebte. Das steckt in den Bildern, der Musik, der Literatur. Das, was Orientierung gibt. Oder, wenn dies unmöglich geworden ist, die Sehnsucht.“ Genau dies gelingt der Autorin auf großartige Art und Weise. Ein Buch, das Edvard Munch nicht analysiert und in biografischen Daten und Etappen festhält, sondern das in sein Inneres blickt und ihn durch seine Bilder verstehen lässt. Eine höchst emotionale Innenschau auf den Mensch Edvard Munch, die große Lust macht, auch den Maler besser kennenzulernen.
Tanja Langer
Der Maler Munch
LangenMüller Verlag (Juli 2013)
232 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3784433359
ISBN-13: 978- 3784433356
Preis: 18,00 EUR
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