Als man im 18. Jahrhundert Theorien entwickelte, die die Menschheit anhand von äußerlichen Merkmalen wie z. B. ihrer Hautfarbe in unterschiedliche, vermeintlich biologische Rassen einteilte und danach die zu Rassen gemachten Gruppen in ein hierarchisches Verhältnis zueinander setzte, dauerte es nicht mehr lange, dass sich in deren Resultat die Weißen an die Spitze der vermeintlich menschlichen Entwicklung platzierten und der als minderwertig eingestufte Rest vielfach entmenschlicht behandelt wurde. Die USA boten dabei ein unrühmliches „Vorbild“. Auch wenn sich 50 Jahre nach der Rede Martin Luther Kings vor dem Lincoln Memorial in Washington D.C zwar viel zum Positiven gewandelt hat, ist der Rassismus immer noch nicht Geschichte und die Narben und Makel tief in die amerikanische Gesellschaft eingebrannt, wie es der Kongressabgeordnete John Lewis, der letzte noch lebende Redner des „Marsches auf Washington“ von 1963, postulierte.
„Du siehst aus wie eine schwarze Amerikanerin.“, sagt Obinze zu Ifemelu. Die beiden Teenager sind seit kurzem ein Paar. Ihre Heimat Nigeria, dieses bevölkerungsreichste Land Afrikas mit seiner heimlichen Hauptstadt Lagos, dem Einfallstor für die europäischen Entdecker und späteren strategisch wichtigen Hafen im europäisch-transatlantischen Sklavenhandel, mausert sich wirtschaftlich gerade vom armen Agrarland zum „Löwen auf dem Sprung“, zum „afrikanischen Hoffnungsträger“. Allerdings profitiert davon nur eine kleine Elite. „Alle sind hungrig in diesem Land, sogar die reichen Männer sind hungrig, aber niemand ist ehrlich.“ „Niemand weiß, was morgen ist!“, ist das Prinzip, auf dem Nigeria beruht. Das Schulsystem ist desolat, der Unterricht fällt häufig aus. Universitäten leiden unter gekürzten Bildungsetats, Studiengänge werden eingeschränkt, Bibliotheken nicht erneuert. Die Lehrkräfte befinden sich im gefühlten Dauerstreik. Die USA, aber auch Großbritannien sind deshalb der Traum vieler junger Leute, zu denen auch die beiden verliebten Protagonisten zählen. „In ihrer Phantasie war die Landschaft, waren die weltlichen Dinge in Amerika auf Hochglanz poliert.“ Ifemelu hat Glück. Sie erhält ein Visum zum Studium in Amerika. Obinze verschlägt es nach London. Wird ihre Liebe über die Entfernung Bestand haben? Ist wirklich alles Gold, was glänzt? Werden die beiden im „Land der unbegrenzten Möglichkeit“ die ihrige finden?
„Americanah“ erzählt die Geschichte einer intelligenten, willensstarken, nigerianischen Frau („Du siehst aus wie jemand, der etwas tut, weil er es tun will, und nicht, weil alle anderen es tun.“), die, nachdem sie Afrika verlässt und nach Amerika geht, einige erschütternde Jahre in der Nähe von Elend und Erniedrigung lebt, ihren College-Abschluss macht, einen erfolgreichen Blog mit dem Titel “ Raceteenth oder Kuriose Beobachtungen einer nicht-amerikanischen Schwarzen zum Thema Schwarzsein in Amerika“ gründet, ein Stipendium an der Princeton University gewinnt und letztendlich doch dem Ruf des eigenen Herzen, dem Ruf der Heimat folgt. Offensichtlich sind zahlreiche eigene Erfahrungen und Erlebnisse der Autorin in das Buch eingeflossen, die sie gekonnt und souverän zu einem stilistisch wie auch inhaltlich großartigem Roman verwebt. „Americanah“ ist ein Buch, das sowohl eine große Geschichte erzählt und gleichzeitig die Sichtweise, den eigenen Blickwinkel auf die Welt verändern kann. Auf den ersten Blick offenbart es zunächst eine wunderbare Liebesgeschichte. Aber der Roman thematisiert und seziert zugleich auf brillante Art und Weise diverse Einstellung zu Rasse und Hautfarbe. „Du siehst aus wie eine schwarze Amerikanerin.“ Obinzes Feststellung erweist sich als zu kurz gegriffen. Denn vor allem in den USA gibt es noch einen weiteren kleinen, aber feinen Unterschied: Man ist als Farbiger entweder ein amerikanische Afrikaner oder ein Afroamerikaner. Aus einer solchen Unterscheidung entspringt eine tief sitzende Rassendiskussion im Text der in Nigeria geborenen Autorin, die heute wechselnd in ihrer Heimat und in den Vereinigten Staaten lebt. Adichie zeigt sich hier als außerordentlich selbstbewusste Denkerin und Schriftstellerin, die eine erstaunlich sensible Fähigkeit offenbart, die Gesellschaft zwar heftig zu kritisieren, ohne jedoch in spöttische oder herablassende Polemik abzugleiten. Nahezu mühelos verwebt sie hochliterarische Belletristik mit tief durchdrungener Gesellschaftskritik. Die globale, drei Kontinente umspannende Handlung beschäftigt sich zudem mit Fragen der Identität, des Verlusts, der Einsamkeit, Sehnsucht und natürlich der Liebe. Themen, die bei Adichie nicht als getrennte Einheiten aufgegriffen werden, sondern in einer komplexen, gegenseitigen Beziehung, einem diffizilen Geflecht stehen. Ganz so wie der oft stundenlange, aufwendige Prozess des Haareflechtens, der im Roman eine zentrale Rolle einnimmt und durchaus als Metapher verstanden werden kann.
Fazit: Ein monumentales Werk, das auch nach der großartigen Übertragung ins Deutsche durch Anette Grube nichts an seiner Eindringlichkeit verloren hat. Ein Buch, das atemlos durch die Seiten treibt und vielfach zum Innehalten auffordert, ob seiner Intensität, Schönheit, seiner Dimension und Ausdrücklichkeit. „In diesem Land kann man keinen ehrlichen Roman über Rasse schreiben. Wenn man darüber schreibt, welche Bedeutung Rasse wirklich für die Leute hat, dann ist es zu augenfällig. (…) Wenn du also über Rasse schreiben willst, dann sorg dafür, dass es lyrisch und feinsinnig ist, damit der Leser, der nicht zwischen den Zeilen liest, gar nicht merkt, dass es um Rasse geht. Ihr wisst schon, so was wie eine Proust'sche Meditation, wässrig und flauschig, und wenn man sie gelesen hat, fühlt man sich auch wässrig und flauschig.“ Dies bekommt Ifemelu von einem Freund zu hören. Doch man kann! Chimamanda Ngozi Adichie hat es getan.
Chimamanda Ngozi Adichie
Americanah
Aus dem Englischen von Anette Grube
Titel der Originalausgabe: Americanah
S. Fischer Verlag (April 2014)
607 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100006267
ISBN-13: 978-3100006264
Preis: 24,99 EUR
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.