Tiziano Scarpa, Stabat mater, Titel der Originalausgabe: Stabat Mater, Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (August 2009), 144 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3803132258, ISBN-13: 978- 3803132253, Preis: 16,90 EURO
Kann man Romane hören? Natürlich, wird man entgegnen, zum Beispiel durch das akustische Medium der Hörbücher. Doch nein, das ist hier nicht gemeint. Die Frage muss präzisiert werden. Kann man einen Roman wie ein Musikstück empfinden, ihn wie eine Partitur auf Notenpapier lesen? Ja, man kann. „Stabat Mater“ ist so ein Buch. Gerade erst mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis – dem Premio Strega 2009 – geehrt, ist diese feine, beinahe wir mit Tönen gemalte kleine Erzählung eine Ode des Autors an seinen Lieblingskomponisten Antonio Vivaldi.
Wie stimmt man sich auf so einen Roman ein? Am besten mit der Musik des venezianischen Priesters und noch besser mit einem Auszug aus seiner Bearbeitung des „Stabat Mater“. Ein Stück, das ernster, elegischer ist als der Vivaldi den man sonst meistens kennt.
Leid, Klage, aber auch Trost sind die Hauptakzentpunkte des Stabat Mater, des ursprünglich mittelalterlichen Gedichts, das die Gottesmutter in ihrem Schmerz um den Gekreuzigten besingt. Leid, Klage und Trost sind auch die vorherrschenden Grundtöne in Ticiano Scarpas kleinem Kabinettstück, ohne jedoch den wehklagenden Unterton in den Vordergrund zu rücken. Er umspielt eher dezent und unauffällig den klaren, ja beinahe nüchternen Text. Der italienische Autor versteht es virtuos unter Einsatz einer hoch entwickelten Sprache eher kühl als tränenreich, eine anspruchsvolle und keineswegs banale Geschichte zu entwickeln.
Plaudereien mit dem eigenen Tod
Als Hauptfigur des Romans, der im Venedig des 18. Jahrhunderts angesiedelt ist, begegnet dem Leser die 15-jährige Cecilia. Sie lebt im örtlichen Kloster und Waisenhaus, dem Ospedale della Pietà. Dieser Ort ist keineswegs zufällig von Scarpa gewählt, denn er selbst wurde in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dort geboren. Die Geburtsklinik des Ospedale Civile von Venedig war in dem historischen Gebäude untergebracht. „Ich wurde dort geboren, wo einst die Zimmer der Waisenmädchen waren, wo Vivaldi unterrichtete und seine Schülerinnen dirigierte und für sie eine Unmenge an Konzerten und geistlicher Musik komponierte.“, erläutert er im Nachwort. Für Scarpa war dieser Zufall eine Art Wink des Schicksals. Der Ursprung seiner Phantasie beflügelte ihn zu seiner melancholischen Erzählung.
Düstere, schwere Gedanken Cecilias bestimmen die erste Hälfte des Romans. Das junge Mädchen, das hintern den Mauern des Waisenhauses, isoliert vom Rest der Welt aufwächst, erzogen in Pflicht und christlicher Nächstenliebe, aber ohne jegliche familiäre Bindung und das innigste aller Gefühle, die Liebe, schreibt heimlich verzweifelte, vorwurfsvolle, flehende Briefe an ihre unbekannte Mutter: „Frau Mutter, habt Ihr Euch jemals vorgestellt, wie ich wohl bin? Habt Ihr Euch je gefragt, wie ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe? Wenn Ihr wollt, dass Eure Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmt, müsst Ihr Euch ein kleines Mädchen denken, das die Nächte mit offenen Augen verbringt, von Angst gepeinigt.“
Ihr einziger Begleiter ist ein dunkles Phantasiegebilde, eine Frau mit schwarzen Schlangen auf dem Kopf, ihr eigener Tod, mit dem sie von Zeit zu Zeit „plaudert“. Ihre einzige Freiheit ist die Musik. Cecilia ist eine begnadete Violinspielerin, aber ihr ist noch nicht wirklich bewusst, was heißt, durch Musik zu sehen, zu leben und mit der Außenwelt des Seins in Kontakt zu treten. Das Mädchen ist stark depressiv und am Rande des Wahnsinns. Dem Tod mehr zugehörig als dem Leben, verliert sie immer mehr den Kontakt zur Wirklichkeit. Seite um Seite umgibt sie sich mit einer tiefen Dunkelheit, aus der nur vereinzelt ein kleines Aufflackern spürbar ist: „Gerade habe ich geschrieben, dass die Worte sich entrollen, aber vielleicht verknoten sie sich. Sie entrollen sich und verknoten sich, in ein und derselben Bewegung. Vielleicht bin ich dabei, mich zu befreien, vielleicht kerkere ich mich selbst ein.“
Akustische Visualisierung
Doch dann scheint Licht in ihre dunkle Seele zu kommen, hervorgerufen in Person des jungen Priesters und neuen Violinlehrers Don Antonio (Vivaldi). Scarpa wählt dessen berühmte „Vier Jahreszeiten“ als Inspiration und Anstoß zu einem wichtigen Schritt, zu einem eigenen Weg, den Cecilia gehen wird. Von nun an werden die Töne im Buch heller, die Düsternis weicht, das Mädchen hebt den Kopf und bemerkt am Himmel die Schwalben, die es so unnachahmlich auf ihrer Violine nachzuahmen weiß. Der „Windhauch des Universums“ durchdringt sie und rüttelt sie auf.
Scarpa komponiert sein „Stabat Mater“ aus Worten wie Musik. Er lässt seine literarischen Töne, anfangs in tiefstem Moll, am Ende in ungeahnte Höhen steigen. „Geräusche, die ich noch nie gehört hatte, drangen zu mir.“, sinniert Cecilia, „Ich versuchte mir vorzustellen, was sie wohl bedeuten und wer sie hervorbrachte.“ Ähnliches passiert mit Scarpas Text, den man beim ersten Lesen kaum erfassen kann. Nur durch eine „akustische Visualisierung“ erfasst man ihn in vollends. Dann wird der Klang oder die Bedeutung eines Wortes zu einem Akkord, ein Satz entwickelt sich wie ein Kontrapunkt und wird zu einer Melodie. Olaf Matthias Roth ist nicht nur Kopist, sondern hat mit seiner Übersetzung aus dem Italienischen eine großartige deutsche Variation „komponiert“.
„Ich wünschte mir, ich hätte dieselbe Fähigkeit, Worte und Gedanken in Einklang zu bringen, das was mir durch den Kopf geht, und das, was ich schreibe. Ich möchte mit derselben Übereinstimmung schreiben können, die zwischen einer geschriebenen und einer gespielten Note besteht.“, erstrebt Cecilia für sich. Tiziano Scarpa hat es vollbracht. Er hat voller Erfindungsgeist die Einfachheit herausgekitzelt.
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