Holger Fuß: »Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt / Über das Ende einer Volkspartei«, München (FBV) 2019, 256 Seiten (Gunter Weißgerber)
»Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt« – ein Universum in einem Titel. Volltreffer!
Was würden Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht, der ›Arbeiterkaiser‹ August Bebel, Phillip Scheidemann, Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt um nur einige zu nennen, zu diesem Titel sagen?
All diese Sozialdemokraten wussten, was sie mit und in dieser Partei in Deutschland wollten: Teilhabe aller, Chancengleichheit, sozialen Aufstieg über Bildung, ›Fördern und Fordern‹, Gleichberechtigung der Geschlechter, einen starken Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort! Und das alles im Wettstreit mit der politischen Konkurrenz und dem scharfen Schwert freier Wahlen. Sozialdemokraten, das waren Facharbeiter, Meister, Ingenieure, Wissenschaftler, auch sehr wohlhabende Citoyens, die immer wussten, redliche, faire Arbeit ist die Grundlage von Wohlstand und den notwendigen sozialen Ausgleich. Die ›Kuh‹ Wirtschaft sollte nie so gemolken werden, dass sie verendet.
Was ist nun der Befund von Holger Fuß? Seine Frage, ob die SPD will, dass es sie gibt, ist so witzig wie tiefgehend. Fuß weist an vielen Stellen nach, dass sehr viele heutige Sozialdemokraten öffentlich auf abstoßende Weise um sich selbst kreisen, sozusagen eine eigene Welt vorleben. In der deplatzierten Annahme, das Publikum goutiere SPD-interne Scharmützel und erwarte kein Angebot weit über SPD-Funktionärsdenken hinaus?
Das staunende Publikum will sich aber unter keinen Umständen mit inner-SPD-Argumentationslinien gemein machen. Es will Politik und Verantwortung für das Land spüren. Holger Fuß fragt, ob die SPD will, dass es sie gibt und stellt damit die Frage in den Raum, weshalb es ausgerechnet die SPD ist, die spätestens seit der 2015er Völkereinwanderung nach Deutschland hinein mit Anti-Standortpolitik den Ast mit Verve absägt, auf dem sie sitzt. Die SPD wagt das unter demokratischen Bedingungen historisch einmalige Experiment unter trotzigem Wählerverzicht in Parlamenten auftauchen zu können. Was nicht gelingen kann.
Verstehe das wer will, der Autor versteht es nicht. Er sieht mehr denn je Bedarf nach einer in der Wahlbevölkerung goutierten Sozialdemokratie die ihres Namens würdig ist. Insofern ist bei ihm eher ein weinendendes denn ein lachendes Auge beim Schreiben des Buches zu vermuten.
Der Autor gliedert sein Buch in fünf Kapitel samt Einleitung und Ausblick:
Einleitung: Klimanotstand im Willy-Brandt-Haus ab Seite 7
1 Physiognomie einer Partei ab Seite 17
2 Die große Willkommenslüge ab Seite 73
3 Die liberale Verwahrlosung ab Seite 105
4 Das Märchen von der sozialen Gerechtigkeit ab Seite 137
5 Da geht noch was ab Seite 159
Ausblick ab Seite 185
Die Kapitelüberschriften lassen es erahnen. Die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit war immer Teil der sozialdemokratischen Anziehungskraft und Kreativität und damit ihres Erfolges über anderthalb Jahrhunderte. Mit zunehmendem Erfolg, mit der Aufnahme der sozialdemokratischen Sicht durch die anderen wichtigen Parteien, wurden mehr oder weniger fast alle zu sozialdemokratischen Spielarten und das Original scheint dabei auf der Strecke zu bleiben. Holger Fuß meint, das ›Auf-der-Strecke-bleiben‹ sei freiwillig und aktuelle SPD-Strategie. So unverständlich wie real.
Holger Fuß schreibt auf Seite 8 »Mit Andrea Nahles hat die SPD ihren 15. Vorsitzenden seit 1990 verheizt. … So etwas macht eine Partei, deren Wesenskern die Solidarität sein soll, zur Lachnummer«. Der Autor vergaß zu erwähnen, dass Andrea Nahles‘ Jagdstrecke mit Rudolph Scharping, Franz Müntefering und dem Bundeskanzler Gerhard Schröder auch recht beachtlich ist. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Recht hat Holger Fuß darin, dass außen Solidarität zelebrieren und innen zerbröseln, höchst widersprüchlich ist. Der Wahl-Michel merkt und merkt sich das.
Auf Seite 9 schreibt der Autor »Was liegt also näher als die Vermutung, die selbstzerstörerischen Reflexe, die wir in der SPD beobachten wie in keiner zweiten Partei, seien Bestandteil eines misanthropen sozialdemokratischen Codes? … Was, wenn hier eine über eineinhalb Jahrhunderte hinweg mikro-evolutionär verfeinerte Anleitung zum Unglücklichsein in der Partei-DANN rumort, kombiniert mit einer diskreten Sehnsucht nach Selbstauslöschung? Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt?« Vielleicht begann das bereits mit Lassalles selbstmörderischem Duell um die für ihn ohnehin verlorene Helene von Dönniges, die kurz vorher die Verlobung widerrief? (GW).
»Die traditionellen Wähler der SPD standen bis vor einiger Zeit hinter dem Fleischtresen und verkauften die Wurst. Inzwischen macht die Partei aber eine Politik für die Kundschaft aus Mittel- und Oberschicht vor der Verkaufstheke, gutverdienend, oft akademisch gebildet und politisch korrekt gesinnt. Es ist eine Klientel von sich aufgeklärt wähnenden Wohlstandsspießern, zu deren Folklore es gehört, sich nach einem neuen 1968 zu sehnen, … Das Gutmenschentum dieses privilegierten Milieus beschränkt sich indes auf Empathie für Benachteiligte wie Frauen, Homosexuelle oder Ausländer, für einheimische Unterprivilegierte hat es eher Verachtung übrig.« (S. 10).
Anzumerken bleibt hier der 1990er Wahlkampfslogan »Der neue Weg: ökologisch, sozial, wirtschaftlich, stark«, der schon damals die natürliche Themen-Reihenfolge auf den Kopf stellte.
Im »Spaziergang durch die sozialdemokratische Republik Deutschland« auf den Seiten 12 bis 15 erläutert der Autor die Schwerpunkte seiner Kapitel. Stichworte sind für Kapitel eins »das Spannungsverhältnis zwischen den Utopisten und den Pragmatikern der Partei«,.. für Kapitel zwei der »Mehltau, die politische Windstille, in der sich die SPD mit ihrer Koalitionsschwester CDU eingerichtet hat, und der Kulturkampf, die die Willkommenskultur seit 2015 entfacht hat.« In Kapitel drei widmet sich Holger Fuß »der liberalen Verwahrlosung, …« der »politischen Korrektheit« als einer »genuin sozialdemokratischen Figur«. In Kapitel vier befasst sich der Autor mit der sozialen Gerechtigkeit und der aus seiner Sicht nicht sozial gerechten AGENDA 2010. Gehe ich in den Kapiteln eins bis drei mit des Autors Gedankenführung weitgehend mit, so trennen sich ab Kapitel vier unsere Wege etwas. Deutschland war Anfang der 2000er Jahre ein blockiertes Land und hielt die rote Laterne in der EU. Seit Jahren ging es um den Reformstau in Deutschland und die Regierung Schröder nahm sich der Mammutaufgabe mit den sozialdemokratischen Prinzipien des ›Förderns und Forderns‹ mutig an. Der Autor sieht das anders, was sein Buch nicht weniger empfehlenswert macht. Meinungsstreit und Wissenschaftsfreiheit sind Grundlagen unseres Zusammenlebens. Möge sich jedermann selbst mit Holger Fuß` Argumentationen auseinander oder sogar Freund machen.
In Kapitel fünf beschreibt der Autor, wie schwer es den »politischen Eliten fällt, über das Tagesgeschäft hinauszuschauen und zukunftstragende Visionen zu entwickeln. Unangepasstes Querdenken wird zwar allenthalben gern beschworen, aber selten praktiziert«. Ich ergänze, Querdenker werden der politischen Konkurrenz von Herzen gegönnt, in den eigenen Reihen werden sie gemobbt. Siehe Thilo Sarrazin oder Heinz Buschkowsky. Dieses Verhalten ist natürlich nicht auf die Sozialdemokratie beschränkt. Es ist Teil der Wirklichkeit sämtlicher politischer Parteien.
»Vom Elend der Sozialdemokratie: Selbstverständlich hatte Andrea Nahles das Elend der Sozialdemokratie weder erfunden noch hatte sie eine Chance, es zu beseitigen. Sie verkörperte es nur auf eine bestürzende Weise. Das Elend der Sozialdemokratie ist älter und schon beinahe sprichwörtlich. … ‚Weit über die Grenzen sozialdemokratischer Parteien hinaus bildete sich ein sozialdemokratischer Konsens, der vor allem den Erfolg dieser politischen Kraft markiert‘ schreibt Dahrendorf«. (S.26)). Holger Fuß folgert nach Dahrendorf »Dieser Definition entsprechen mittlerweile alle Parteien, die ihren Platz in der gesellschaftlichen Mitte beanspruchen, der Konsens reicht von der Union über FDP, SPD und Grüne. Selbst die Linkspartei, die nicht ausdrücklich die Mitte für sich reklamiert, beteiligt sich an diesem sozialdemokratischen Konsens.« Und jetzt wiederum Dahrendorf: »Der Sieg der Sozialdemokraten war Total. Aber als er errungen war, stand der Niedergang vor der Tür«. (S.27).
Im Urkonflikt der Genossen seziert Holger Fuß auch die Anfänge mit den »Lassalleanern« und den »Eisenachern«, mit der Bebelschen kritischen Sicht auf den »Liberalismus-Verächter Lassalle« (S.29), mit dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 und dem »Gegensatz zwischen Utopie und konkretem Reformismus« (Bernd Faulenbach, S. 29). Auf Seite 31 erinnern den Autor die Beobachtungen aus dem »Paläolithikum der SPD an den Habitus in jüngster Zeit« – eine interessante Beobachtung.
Auf Seite 32 spricht es Klaus von Dohnanyi aus:
»Das ist kein Absturz … Das ist ein langsamer Weg gewesen über viele Jahre. Ich glaube, er hängt damit zusammen, dass die Partei sich noch immer nicht damit abgefunden hat, dass es zu dem System, in dem wir in Freiheit leben, keine wirkliche Alternative gibt. Da gibt es ja Leute, die meinen, sie müssten Kapitalismuskritik üben oder sowas.« Holger Fuß dazu: »Der demokratische Sozialismus ist für Sozialdemokraten so etwas wie die Wiederkunft des Heilands für die Christen.« (S.36).
Holger Fuß: »Fassen wir zwischendurch zusammen: Die SPD versteht sich als Partei des sozialen Aufstiegs, hat aber mit dem Impuls zu kämpfen, jedem Aufsteiger sein persönliches Erfolgserlebnis zu verleiden. An der Spitze der sozialdemokratischen Wertpyramide stehen jene, die scheitern, nicht jene, die es schaffen wollen. Erfolgsgeschichten haben für Sozialdemokraten immer auch etwas Anrüchiges. Im SPD-Kosmos muss sich im Zweifel derjenige rechtfertigen, der etwas erreicht hat. … Die SPD ist nicht ins Gelingen verliebt« (Ernst Bloch).“ S.53.
In Kapitel fünf – »Da geht noch was« gibt der Autor seine linken Wurzeln stärker preis als in den vorhergehenden Abschnitten. Er zitiert Greta Thunberg (S.159), redet der Bürgerversicherung (S.167), dem bedingungslosen Grundeinkommen (S.172) das Wort und streitet für eine Gemeinwohl-Ökonomie (S.177).
Holger Fuß kritisiert die SPD von links, von »vor 2015-links«. Heutige Linke werden ihm jedoch mit seiner Kritik an der Zuwanderungs(nicht)politik Rechtsdenken unterstellen. So verquer geht es inzwischen in Deutschland zu. Da muss der Autor wohl durch. Was ihm sicher gut gelingen wird. Immerhin hocken in dieser Ecke mit Willy Brandt und Helmut Schmidt sozialdemokratische Größen mit denen er viele seiner Positionen in Übereinstimmung weiß. Die beiden Heroen würden heute in der SPD nicht einmal Unterbezirksvorsitzende werden können. Und das strebt Holger Fuß sicher nicht an.
Ich schließe mit einem letzten Zitat des Autors: »Dieses Land braucht eine neue, eine starke SPD. Das sagen sogar ihre politischen Gegner«. (S.15).