Die Nebelkinder – so nennt man in der modernen Psychologie die Generation der Kriegsenkel. Dieser Begriff bezeichnet jene Jahrgänge, die eigentlich nichts mehr mit dem Krieg zu tun haben und die dennoch bewusst oder meist unbewusst die Traumata ihrer Großeltern-Generation, der Kriegsgeneration, sowie ihrer Eltern, den Kriegskindern, übernommen haben.
Zwischen uns ein ganzes Leben.
München, 1945. Zusammen mit ihrer Mutter Käthe ist Ana aus Breslau geflohen. Käthe ist traumatisiert, und so ist es an Ana, für ihre Familie zu sorgen. Als sie ihre eigene Familie gründet, scheint der Krieg verwunden, doch ihre Tochter Lilith bleibt ihr seltsam fremd. Viele Jahre später steht Lilith vor einer großen Entscheidung: Ausgerechnet sie, die doch immer unter ihrer distanzierten Mutter gelitten hat, soll den Sohn ihrer besten Freundin bei sich aufnehmen. Da fährt Ana mit ihr nach Breslau und erzählt ihr endlich, was damals wirklich geschehen ist.
Eine berührende Familiengeschichte, die über drei Generationen bis in das 21. Jahrhundert reicht.
Eine Generation stochert im Nebel
Kriegsenkel
„Euch geht es doch so gut“, das wurde den Generationen der Nachkriegszeit wieder und wieder entgegengehalten. Die Jahrgänge ab 1960, die Kinder der Kriegskinder, sollten all das Glück leben, das den Kriegsgenerationen vor ihnen verstellt war. In ständig wachsendem Wohlstand, immer gesicherteren Verhältnissen, sollten sie eigentlich nur das widerspiegeln, was ihnen die Elterngeneration immer wieder vorhielt: „Ihr solltet dankbar sein!“
Doch es wuchs eine Generation auf, die nicht ständig ‚dankbar‘ sein wollte, die auch gar nicht ständig ‚glücklich‘ war, wie sie es doch angeblich hätte sein sollen.
Eine Generation, die stattdessen wie in einem Nebel lebt. Warum eigentlich zuckt die Großmutter so oft zusammen, wenn sie Männern im Dunkeln begegnet? Warum nur bekommt die Mutter Platzängste in Kellern? Warum nur hat der Großvater nie vom Krieg erzählt?
In den meisten Familien sollte man diese Dinge besser nicht ansprechen. „Ach, das ist lang her“, „Das waren schlimme Zeiten“, „Dir geht es ja jetzt besser“, lauteten die Antworten, die mehr verschwiegen als erzählten.
Viele weitere Tabuthemen umhüllte die angeblich so glückliche Nachkriegsgeneration: Fragen zu Sexualität? – Besser lieber nicht. Fragen zu Ängsten? – Gefährliches Terrain. Gar Unglück zum Ausdruck bringen? – Dazu hat diese Generation kein Recht.
Aus der zum Glück verdammten Nachkriegsgeneration, den Kriegsenkeln ist eine Generation der Depressiven geworden.
Nebelkinder
Die moderne Psychologie benennt sie mit dem Begriff der „Nebelkinder“. Sie stochern im Nebel des Ungesagten, des Verschwiegenen, des Nichterzählten. Historiker gehen von etwa zwei Millionen vergewaltigter Frauen im Zweiten Weltkrieg aus. – Aber in fast keiner Familie scheint dies geschehen zu sein, es wurde verschwiegen. Die Väter kamen schwer traumatisiert aus dem Krieg zurück, oft nächtelang schlaflos, von Albträumen geschüttelt, teilweise von grundlosen, brutalen Agressionsausbrüchen beherrscht. Doch über den Krieg wurde nicht mehr gesprochen, nicht über getötete Kameraden, nicht über die Menschen, die man getötet hatte. Der Krieg war vorbei. In den Köpfen allerdings lebte er weiter.
Kriegskinder, die bis heute Furcht vor dunklen Kellern haben, in verschwommener Erinnerung an Bombennächte in Luftschutzkellern, diffuse Ängste, Hungererinnerungen und Essen als Nahrungstrost, all dies schwirrte um die Generation herum, die doch immerzu glücklich sein sollte.
Doch sie sind es oft nicht, die Nebelkinder. Nur wenn sie den Nebel durchdringen, in die Vergangenheit hineingehen, können sie Großeltern, Eltern und dann vielleicht auch sich selbst verstehen und mit sich und den vorherigen Generationen Frieden schließen.
In der Psychologie bezeichnet der Begriff der „Nebelkinder“ jene Generation, die eigentlich nichts mehr mit dem Krieg zu tun hat und die dennoch bewusst oder meist unbewusst die Traumata ihrer Großeltern-Generation, der Kriegsgeneration sowie ihrer Eltern, den Kriegskindern übernommen hat. Transgenerational wirken Traumata weiter. Dies ist nicht nur eine Erkenntnis der modernen Psychologie und Soziologie, sondern auch ein Zweig der modernen medizinischen und biologischen Forschung: Mäusekinder, deren Mütter Traumata, z.B. Nahrungsentzug, ausgesetzt waren, entwickeln nachweisbar Traumata, selbst wenn sie der Mutter sofort nach der Geburt fortgenommen und von Ziehmütter aufgezogen werden. Die Vererbung von Traumata erfolgt also nicht nur soziologisch, sondern auch genetisch und epigenetisch. Die Nebelkinder sind jene, denen man ihr Leben lang erklärt hat, in welchem Privileg sie aufwachsen, ohne Krieg und in stetig wachsendem Wohlstand. Dennoch ist es auch die Generation der Depressiven.
Roman
Diesen Begriff hat die Münchner Autorin Stefanie Gregg als Titels ihres soeben neu im Aufbau Verlag erschienenen Dreigenerationenromans gewählt, der die Lebensgeschichten von drei Frauen erzählt: Großmutter, Mutter und Tochter. Mit drei Generationen umspannt der Roman somit die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und erzählt damit auch die Geschichte der ‚Nebelkinder’, den Enkeln der Kriegsgeneration.
„Drei Frauen, drei Töchter, ein Krieg und ein gemeinsames Schicksal“
Käthe Margarethe Alexandra Marie lebt in ihrem feinen Zuhause in Breslau und trifft bei einem Hausball den schönen Ludwig.
Nur – sie ist bereits verheiratet. Als sie Ludwig heiratet, scheint das Glück zu beginnen.
Doch bald kommt der Krieg. Käthe gelingt es, mit ihren mittlerweile zwei Kindern in den letzten Flüchtlingszug zu kommen – den Preis dafür zahlt sie an den Gestapo-Mann, der den Zug begleitet …
Ihre Tochter Anastasia übernimmt die Aufgaben in der Familie, die ab da ihre Mutter verweigert. Sie zieht ihre Schwester groß und wird dabei selbst erwachsen. Doch auch sie bekommt unverheiratet ein Kind, was auch in den Nachkriegsjahren noch eine große Schande bedeutet.
Erst Lilith scheint in einem neuen Deutschland Fuß fassen zu können und die Traumata der Nachkriegszeit durchstanden zu haben. Doch der Schein trügt.
Lilith findet sich in ihrem Leben nicht zurecht. Sie stochert im Nebel …..
Eindrücklich und einfühlsam zieht Stefanie Gregg damit die Linien durch die Generationen. Der Leser spürt, wie die Lebenswege verbunden, durchwirkt, verwirrt, verstrickt sind. Wie jede Generation ihr eigenes Leben führen möchte und doch gefangen in den Umständen und den stricken der Vergangenheit ist.
Der Roman ist gleichzeitig ein Zeitdokument und eine Reise durch das Leben dreier Frauen.
Die Münchner Autorin Stefanie Gregg ist am Sonntag, den 19. November auf „Art Vibrations – das IDS-Kulturmagazin“ live im Interview mit Sophie Adell über ihren kürzlich erschienen Band „Die Hoffnung der Nebelkinder“.