„Max Joseph“ heißt das fabelhafte Magazin der Bayerischen Staatsoper, das der Intendanten-Ära Nikolaus Bachler den medialen Stempel des Außergewöhnlichen, aber Traditionsverpflichteten aufdrückt. Zur ersten Premiere – Arrigo Boitos monumentale Goethe-Oper „Mefistofele“ (1868/75) – bekam man das neue Heft in die Hand gedrückt: glanzvoll wie immer, rar wie gehabt, klug getextet, witzig und bunt, akademisch auch, dabei künstlerisch gestaltet, dem Generalthema der laufenden Spielzeit verpflichtet. Was diesmal „Vermessen“ heißt, in dreifacher Wort-Bedeutung: kapieren, falsch Maß nehmen, hybrid sein.
Biometrisch vermisst der New Yorker Medienkünstler Tony Oursler raumhohe Gesichter. Eines davon macht das „Max Joseph“-Cover aus (s. Foto): ein schwarz-massiger Koloss, wie aus Basalt, Mund fest geschlossen, linkes Auge klar, rechtes Auge letal. Kein Totenkopf, auch kein Menschenschädel. Das verwegene Haupt des Satans? Würde zu „Mefistofele“ passen. „Vermessen“, schreibt Bachler denn auch im Editorial, „mag schon das Vorhaben (Boitos) gewesen sein, beide Teile von Goethes `Faust` in einer Oper zu erzählen. Sein Interesse galt indes … der Verkörperung des Bösen …“
Es wird, bei Goethe schon, vom Teufel höchstpersönlich repräsentiert. Ein arroganter Typ, der stets verneint. Eine Figur, halb Gott, halb Mensch. Allmacht und Ohnmacht in einem. Versucher. Spötter. Verführer. Gottesleugner (darin dem Regisseur verwandt). René Pape, den großen Dresdener Bassisten, steckt Roland Schwab als Entertainer und Reiseleiter schick in einen lila Zweireiher (Kostüme: Renée Listerdal) und lässt ihn als zwielichtigen Entertainer agieren. Pape ist der fesche Kerl mit verwegenem Haarschopf und Diven- Sonnenbrille, mit Gefolge, das nur aus der Hölle kommen kann: halbnackte, rockige Draufgänger in Leder, die ihrem Gebieter, der angeberisch mit Marte-Domina (Heike Grötzinger) auf einer heißen Kiste einfährt, hörig sind. Schlüpfrig alle und geil.
Die vier Akte, Prolog und Epilog bestimmende Einheits-Szenerie von Piero Vinciguerra: ein Gerippe-gesäumtes Riesenstadtrand-Areal, das bald Walpurgisnacht-Brocken, bald Oide-Wiesn mit Karussell und Biergartenmobiliar ist, aber auch für die intimen Räume herhalten muss, was bei ihrer überdrehten Immensurabilität schlecht gelingt. Wenn Faust (in lyrischer Bestform, stimmlich und in der Attitüde an Pavarotti erinnernd: der unprätentiöse Joseph Calleja) sein Gretchen (bei Boito heißt es Margherita, zart und zerbrechlich-blond: die hier scheue Kristine Opolais) am Wohnzimmertisch unterm Apfelblütenbaum trifft und das arme Ding später, des Kindsmordes und der Muttervergiftung angeklagt, seinen Friedhofsplatz bestimmt, stört das anhaltend düstere trashige Ambiente. Im letzten Akt ist Helena (Karine Babajanyan) Ergotherapeutin bei Dementen. Warum? – Die Chormassen, auf Höllenlärm oder auf Engelsgesäusel angesetzt (Sören Eckhoff), bewegt Schwab so gekonnt, dass sie, wie die jubilierenden Kinderchöre aus dem Off, zur tragenden Größe dieser Neuinszenierung werden.
Über, unter und mit allem, den Wahrnehmungsapparat stark strapazierend: die geistige Auseinandersetzung mit dem Bösen: Weltkatastrophen, Attentate, Kapitalverbrechen. Wenn Pape dem Bösen menschliche Faszination zuschreibt, trifft es genau, was hier „vermessen“ wird und „vermessen“ klingt. Für den Klang sorgt, am Pult des voluminös zupackenden Staatsorchesters, erstmals an diesem Ort (wie überhaupt die Realisierung dieses Boito-Werks) der aufstrebende, soehrgeizige wie hochtalentierte Israeli Omer Meir Wellber. Er brennt für diese aufgeladene Hochkarat-Musik des als Librettist höchst erfolgreich gewesenen Arrigo Boito. Er kann die zarten Herzenstöne einer Verlorenen, die Klage einer Göttin wie auch bald die feurigen Erregungen, bald die nazarenisch frömmelnden Herren- und Marien-Elogen des Volkes sowie die snobistisch auftrumpfenden satanischen Flüche beschwören und die Oper zum machtvollen Musiktheater-Hörerlebnis gestalten.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.