Historische Grundbegriffe und Zukunftsaussichten anno 2018

Satellitenschuessel, Foto: Stefan Groß

I.
Nein, es geht in diesem Blog-Eintrag nicht um das achtbändige Geschichtslexikon, herausgegeben von  Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck,  erschienen 1972-2004, welches auch in Zeiten umfassender („totaler“) genderisierten Entgeistigung der Geisteswissenschaften für unideologische historische Arbeit unentbehrlich ist. Nein, es geht in gebotener Kürze um den Niederschlag historischen Grundwissens und entsprechender Grundbegriffe im politischen Raum des Feuilleton der Qualitätszeitung FAZ.

Einige Bekannte von mir haben aus unterschiedlichen Gründen – deutsche Sparsamkeit (siehe die Ausstellung im DHM, Merkelfromme Generallinie, taz-ähnliche Monotonie in der Mehrzahl der Feuilleton-Artikel,  sinnverquerende Angriffe auf die Orthographie (vorzugsweise „Referenz“, wo es einem Dichter oder Denker Achtung zu erweisen gilt) usw. – das Abonnement gekündigt. Aus spezifischen Gründen habe ich mich dem Exodus bislang nicht angeschlossen, vielleicht auch aus sündhafter Eitelkeit. Denn „hinter dieser Zeitung“ soll bekanntlich noch immer ein kluger Kopf stecken. Dieser alte Anspruch erhebt den Leser dieser Tage, da die Zeitung auf einer Doppelseite Eigenwerbung betreibt. Auf dem in sanften Brauntönen gehaltenen Foto einer asiatischen Teestube sehen wir – inmitten einer Männerschar und einer ostentativ emanzipatorisch zugesellten Kopftuchschönheit –  einen weltläufigen, hinter seiner Zeitung verborgenen „klugen Kopf“.

II.
Unlängst belohnte mich der Verlag – mutmaßlich als Entschädigung für eine mehrtägige Nichtzustellung – mit einem (Werbe-)Exemplar des Hochglanz-Produktes „Frankfurter Allgemeine Quarterly“. Anstrengende oder – für Leser mit Flugmeilenbonus – eher leichtverdauliche Lektüre? Schwierige Frage.  178 Seiten, inklusive der Werbeseiten, beispielsweise: „Ulrich Tukur fragt: Verdient meine Bank mit meinem Geld mehr als ich. Fragen Sie doch mal uns. qurinprivatbank.de“. Auf der linken Seite zuvor geht es um „Offene Fragen“ zu „wirklich existentiellen Themen“, obenan zu Markus Söders Kreuz-Erlass. Frage 03: „Spürt man in Bayern schon den Effekt. Fühlt man sich dort jetzt christlicher, abendländischer, identischer?“ Frage 16: „Gibt es keine wichtigeren Probleme [als die Flüchtlingsdebatte]?“ Erheiternd Frage 20: „Wann fordert Horst Seehofer eine Obergrenze für Algorithmen?“

Offenbar zielt das zukunftsorientierte Magazin – im Proust-Fragebogen auf der letzten Seite fragt der/die Interviewer/in: „Wie möchten Sie sterben, Matthias Brandt?“ – auf noch klügere Köpfe als das – der Antifa  zum Trotz? – noch immer in altdeutscher Fraktur im Titel aufgemachte Tagesleitmedium. Jedenfalls ermutigt das „Quarterly“ den Leser zum angstfreien Blick in die Zukunft, nicht zuletzt in der Rubrik „Wirtschaft“. Auch da geht es um „Frequently Asked Questions“. Ein Bericht über die boomende – unlängst von der Kanzlerin besichtigte –  21-Millionen-Stadt Shenzhen ermuntert den von jäher Zukunftsangst beseelten Leser unter Verweis auf die beispielhaften Lebenserfahrungen Angela Merkels. „Was geschieht, wenn man den Wettbewerb um die Zukunft selbst aufgibt, hat die Kanzlerin in der späten DDR erfahren. Sie hat gesehen, dass ein ganzes System zusammenbricht, wenn es wirtschaftlich nicht mehr mithalten kann. Sie hatte nie die Illusion, dass allein die Bürgerrechtler mit ihrem Ruf nach Demokratie zum Einsturz brachten. Zur Implosion kam es erst, als die Mehrheit an den materiellen Verhältnissen verzweifelte. Deshalb weiß sie: Die Zukunft der Demokratien auf der Welt entscheidet sich auch daran, ob sie noch Lust auf jene Zukunft haben, die in Shenzhen schon zu besichtigen ist.“ Exemplarisch tritt in derlei Sätzen die bei Marx noch dialektisch gespaltene Einheit von Sein und Bewusstsein hervor.

Merkel („Ich als Physikerin“) macht Hoffnung.Was bedarf es da noch eines Blicks  in die Vergangenheit, in die Realgeschichte? Warum an Afghanistan, an  das Ende des Kalten Krieges – Folge des von der Sowjetunion verlorenen Rüstungswettlaufs – an Reagan, an Gorbatschow und an Helmut Kohl erinnern? Wir vertrauen auf Angela Merkels nüchtern-kühlen Blick in die postdeutsche Zukunft. Wir schaffen das.

Ganz ohne Geschichte geht es dann im „Quarterly“ doch nicht. Als Experte für Historisches, als Kronzeuge dafür, dass „die Deutschen [nicht] nur Gehorsam und Untertanengeist kennen“, wird der Grünen-Chef Robert Habeck interviewt. Habeck verpasste als Zwanzigjähriger leider den 9. November 1989, was ihn „heute total ärgert“. Er hat indes mit seiner Ehefrau ein Theaterstück „Neunzehnachtzehn“ über den die Novemberrevolution auslösenden Matrosenaufstand in Kiel verfasst. (Adnote H.A.: Die Männer hatten recht, als sie die Kessel löschten, um sich nicht in einer „letzten“ Prestigeschlacht verheizen zu lassen.) Habeck freut sich, dass am Ende der Aufführung seines Stückes 2008 auch ranghohe Marineoffiziere lange klatschten.

Das Verhältnis zu revolutionärer Gewalt  ist bei Habeck nicht ganz eindeutig zu definieren. Er seziert die Dialektik der Revolution, etwa der Französischen, wo „der Mordrausch das Gute [vernichtete], für das sie einst eintrat.“  Gewalt – wie zuletzt beim G-20-Gipfel in Hamburg – ist nicht seine Sache. „Scheiben einschmeißen ändert nicht die Politik. Das ist die falsche Projektion einer Haltung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus einer totalitären Kaiserzeit auf die Gegenwart.“ – Mit dieser ins Kaiserreich projezierten Ausweitung des Totalitarismusbegriffs findet der Grünen-Vorsitzende Habeck womöglich auch bei bei Katja Kipping und der Geschichtskommission der „Linke“-Partei Zustimmung.

III.
„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, heißt es bei George Santayana. Gegen derlei Verdammnis sind wir Deutschen dank einer Vielzahl von Gedenktagen und – jahren (siehe auch oben)  mutmaßlich geschützt, es sei denn, der AfD gelinge schon morgen die Machtergreifung im Bündnis mit einer preußisch-deutschnational umgefärbten CSU. Glücklicherweise ist auch das Jahr 2018 wieder reichlich mit Gedenkdaten ausgestattet, darunter die Erinnerung an den Prager Fenstersturz und den Dreißigjährigen Krieg.

Die potenzielle politische Zwecknutzung des Dreißigjährigen Krieges liegt in der Vorstellung eines „Westfälischen Friedens“ (siehe H.A.: https://www.iablis.de/iablis/themen/2016-die-korruption-der-oeffentlichen-dinge/rezensionen-2016/115-kissingers-amerikanische-weltordnung) zur hinlänglichen Befriedung einer noch immer  unfriedlichen multipolaren Welt. Die Verknüpfung des spätestens mit dem zweiten Golfkrieg über den Nahen Osten hereingebrochenen Chaos, insbesondere mit dem seit 2011 andauernden Gemetzel in Syrien liegt nahe. Eben dies unternimmt die TV-Dokumentation „Glaube, Leben, Sterben“ anhand der überlieferten Selbstzeugnisse von fünf Zeitzeugen – darunter die lutherische Bäuerin Martha Küzinger aus Oberösterreich – des „Teutschen Krieges“.

In der Kritik des Doku-Dramas mit fünf Personen (Heike Huppertz: „Als die Mordbrenner die Gaukler ablösten“) war in der FAZ (v. 15.06.2018, S. 16) folgendes zu erfahren: Der Calvinist Hans de Witte fungierte von Prag aus „als Finanzier des katholischen Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen“ (bis er fallierte und Selbstmord beging). Der Jesuitenpater Jeremias Drexel sei „im Tross des bayerischen Königs Maximilian erst gegen die Böhmen und dann sozusagen gegen des Rest des Abendlandes zu Felde gezogen“.

Die Feuilleton-Kritikerin empfahl das Werk dem „breiten Populärpublikum“ auch dafür, dass es „die großen Linien des ereignisgeschichtlichen Schulbuchwissens …im Vorübergehen auf kursorische, aber doch gründliche Weise mitserviert.“ – Gewiss doch, im Sinne politischer Bildung geht es zuvörderst um die großen Linien, erst in zweiter oder dritter Linie um für die lebendige Demokratie eigentlich unnötige Grundkenntnisse. Auch bei Begriffen sollte man nicht zu pingelig sein, außer um deutschem Größenwahn entgegenzuarbeiten. Wir sollten uns als Deutsche (und Österreicher) mit einer – im 15. Jahrhundert dem Namen des Reiches  hinzugefügten  – „Deutschen Nation“ im Zuge historischer Amnesie nahezu vergessenen Heiligen Römischen Reich bescheiden. Auch die CSU in Bayern sollte mit einer historisch vorzeitigen Rangerhöhung des bayerischen Zweiges des Hauses Wittelsbach – Kurfürsten erst ab 1623, Könige erst ab 1806 – vorsichtiger umgehen. Hochmut kommt vor dem Fall.

Über mehr Bescheidenheit, über solidere historische Grundkenntnisse – und über die richtigen Grundbegriffe der heutzutage allein maßgeblichen Ökologie –  verfügt fraglos der bayerische MdB Anton Hofreiter. Ob er das Doku-Drama gesehen hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls findet er – nicht anders als die Mehrheit aller Abgeordneten, nicht nur der Grünen, im Bundestag – die Analogie zwischen dem „Teutschen Krieg“ und dem Glaubenskrieg  in Syrien unmittelbar einleuchtend.

 

Quelle: Herbert Ammon

 

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Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.