Hisham Matar. Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. München (Luchterhand Verlag) 2017. 288 S., 20,00 Euro, ISBN 978-3-630-87422-7.
„Im Land der Männer“ (2006) und „Geschichte eines Verschwindens“ (2011) – mit diesen Erzählwerken hat der libysche Schriftsteller Matar, 1970 in New York als Sohn eines Dichters und Diplomaten geboren, auf das Schicksal seines Vaters aufmerksam gemacht. Er wurde in seiner Eigenschaft als Widerstandskämpfer gegen das Gaddafi-Regime 1990 vom libyschen Geheimdienst aus seinem Kairoer Exil entführt. Nach einem sechsjährigen Aufenthalt im Gefängnis Abu Salim in Tripolis ließ ihn der Diktator Gaddafi ermorden. Das hier vorliegende dritte Erzählwerk ist der Suche nach seinem verlorenen Vater gewidmet. Es ist in 22 Abschnitte unterteilt, in denen der Leser in einer Kombination aus Rückblenden, Tagebuchaufzeichnungen, Erlebnisberichten, Darlegungen von politischen Abläufen, Analysen von Großmacht-Strategien mit einem Vorgang vertraut gemacht wird, dessen Mechanismen einen umfassenden Einblick in die verbrecherischen Praktiken einer Diktatur erlauben.
Hisham Matar berichtet vorwiegend aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der immer wieder seine vorläufigen Einsichten in den Ablauf der Ereignisse überprüft, der die Wahrhaftigkeit von Aussagen überprüft, die er nicht nur im Gespräch mit Freunden und Verwandten, sondern auch mit den Nachfolgern des Gaddafi-Clan gewinnt, die Hisham und seinen Bruder Ziad weiterhin verfolgen. Sie sind erstaunt über die Hartnäckigkeit, mit der dieser „kleine Schreiberling so einen ‚Lärm‘ veranstalten konnte … und ranghohe Mitglieder des Oberhauses für sich einspannt, das Außenministerium, Nobelpreisträger, internationale Rechtsexperten, Menschenrechtsgruppen und NGOs“ (S. 209f.) Der Leser begreift, dass Hisham einer skrupellosen Machtclique gegenübersteht, deren Rädelsführer und Handlanger auch nach dem Fall des Gaddafi-Regimes weiterhin die Herrschaft über Libyen ausüben. Es handelt sich dabei auch um mafiaähnliche Abmachungen zwischen dem libyschen und dem ägyptischen Geheimdienst bei der Entführung von Regimegegnern. Diese Abmachungen galten bis Mitte 2011. In diesem Zeitraum versuchte das Gaddafi-Regime die emanzipatorischen Bestrebungen in Tunesien und Ägypten zu verhindern. Diesen Zeitraum bis zur Ermordung Gaddafis am 20. Oktober 2011 beschreibt Matar sehr ausführlich, weil das libysche Regime viele politische Gefangene, darunter auch zahlreiche seiner Verwandten frei ließ. In diesem Kontext entwickelt Matar auch vergleichende Überlegungen über die Entstehung von Revolutionen am Beispiel des zaristischen Russlands, wobei er auch auf die jungen von einer möglichen Revolution entflammten Protagonisten in Turgenjews Romanen rekurriert. Solche Überlegungen wie auch die genaue Beschreibung von Personen und Handlungsabläufen zeichnen eine Prosa aus, die ihre Protagonisten auf verschiedenen Handlungsebenen erfasst.
Der Autor stattet seinen Erzähler mit einem hohen Maß an Informationen aus, gesteht seinem Leser zugleich, dass sein finanzieller Aufwand zur Aufdeckung der Verbrechen im Gaddafi-Regime unverhältnismäßig hoch ist. Dennoch ist er bereit, über mehr als zwei Jahrzehnte seine Nachforschungen nach den Tätern zu betreiben, selbst auf die Gefahr hin, Opfer der ehemaligen Machtcliquen zu werden. Er scheut sich auch nicht, die Geschichte der italienischen Fremdherrschaft in Libyen zwischen 1911 und 1943 in seinen tiefschürfenden Erzählstrom einzubauen, um den Ursachen für die zerrüttete Geschichte seines Landes im 20. Jahrhundert nachzugehen. Mehr noch: er verweist auf die Abhängigkeit Libyens von den europäischen Großmächten Großbritannien und Frankreich, die an der Ausbeutung der reichen Erdölquellen nach dem II. Weltkrieg interessiert waren und Libyen mit technischer Ausrüstung ausstatteten – als „Ausgleich“ für die intensive Ausbeutung und Nutzung der Ölreserven. Die beschriebene Verklammerung von Großmachtpolitik und imperialen Wirtschaftsbeziehungen verbindet der Autor mit einer minutiösen Darlegung der gesellschaftlichen Strukturen in Libyen, in denen seine Verwandten bis Mitte der 1990er Jahre engagiert waren. Damit gelingt ihm eine durch Quellen abgesicherte Täter-Opfer-Geschichte, an deren Ablauf zahlreiche Personen, wie die Danksagung im Abspann der Publikation aufzeigt, beteiligt waren. Ist damit „ein Triumph der Literatur über die Tyrannei“ (Peter Carey) möglich geworden, wie der australische Schriftsteller und zweimalige Booker-Preisträger behauptet? Ohne einen solchen Triumph schmälern zu wollen: am Ende der Tyrannei warten die überlebenden Rächer auf die Nacht der Vergeltung.
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