Jörg Immendorff saß als Kind oft als Indianer im Apfelbaum des Großvaters und jagte imaginäre Büffel. Nun sitzt er vor dem Autor und erzählt aus seinem Leben. Einem Leben, das bald darauf gelebt sein wird, das allerdings übervoll war, schaffensreich, aber auch trotzig und aufsässig. Zuweilen glich es einem Waterloo-Sieg seiner ehemaligen Zinnsoldaten, einem Sieg über seinen Vater, der früher nicht zuließ, dass der Kleine gegen ihn gewann, „der Vater schnippte die Regimenter des Sohnes weg, Sonntag um Sonntag“. Doch der Kampf wird nicht mehr lange währen. „Grau an Bart und Haar, krank auf den Tod“ bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, der Pinsel nicht mehr in der Hand: „Es ist nun nicht so, dass ich jeden Tag mit dem Gedanken an den Tod verbringe. Eher ist es auch etwas Befreiendes, ich meine / bin da irgendwie / glaube ich / auch privilegiert, weil ich, dem Tod so nahe, mich mit ihm beschäftigen muss. Ich bin zu sehr noch hier / es gibt ja dumme Tode, wo man denkt, was soll der Quatsch? / Aber / ja / ich bin zu sehr noch hier, und je mehr ich dieses Hier bejahe, macht das Jenseits mehr Sinn. Es ist ja nicht eine Treppe, die immer goldener wird, die unten hölzern anfängt und oben mit Gold endet / vielleicht ist ja die erste Stufe aus Gold und die letzte aus Holz / mit sehr viel Mist dazwischen, ich weiß es nicht / aber ich denke, je intensiver man lebt / wenn ein Tag intensiv ist, speist sich etwas (…) Ja / selbst die jenseitigen Energien speisen sich von den Eindrücken, die man hinterlässt. „
Um hinterlassene Eindrücke, um gelebtes Leben, um heimliche Lieben, geht es in den zehn großartigen Geschichten des bereits zweimal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichneten Schweizer Autors. Allerdings liegt in allen etwas Bedrohliches und der Tod ist fast immer ständiger Begleiter. Da ist das junge Mädchen, das unheilbar an Leukämie erkrankt, der liebevolle Ehemann, der mehr und mehr erkennt, dass er schwul ist, die vierundneunzigjährige Gertie, deren Vater im Krieg standrechtlich erschossen wurde, weil er den psychischen Druck nicht mehr aushielt und den Kampf verweigerte, nun aber endgültig von der britischen Regierung rehabilitiert wird. Agnes wiederum bringt im Wahn ihre eigene Tochter um: Sie, die die Untreue ihres Mannes jahrelang schamhaft vor allen zu verstecken suchte, mit ihrer Tochter aber immer mehr an einen einzigen Fehltritt erinnert wird. Linda und Johan wiederum bekommen eine Tochter mit EB, einer unheilbaren Erbkrankheit, bei der sich die Haut ihres kleinen Mädchens ständig vom Körper löst. Sterbehilfe ist das Thema dieser äußerst emotionalen Erzählung. Oder aber der eindrucksvolle Bericht der beiden Uiguren Abu Bakr und Adel, zwei Männer einer turkstämmigen Minderheit im Westen Chinas, die auf der Suche nach Arbeit zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren und nun als Niemandsmenschen in Guantanamo sitzen. Ein Bericht, der den Atem anhalten lässt.
„Die Masse unseres Universums besteht zu 96 Prozent aus Dingen, die wir nicht verstehen…“, erläutert im letzten Text Rolf Landua, Physiker am CERN. Auch die Beweggründe, Schicksale und vor allem das agierende Umfeld von Erwin Kochs Protagonisten versteht man mitunter nur schwer. Doch wie schrieb der Autor bereits in seinem Roman „Nur Gutes“: „Die Wahrheit, so lange man lebt, ist ein Gedicht, ein Gespenst, ein flüchtiger Stoff, haltbar und dingfest erst im Nachruf. Was der Mensch wahrnimmt, ist nicht die Welt an sich, sondern ihre Spiegelung. Die Welt erscheint ihm nur so.“ Die äußeren Verhältnisse verwischt Koch mit einem Weichzeichner, blendet sie beinahe aus, um sich ausschließlich auf die Innenräume zu konzentrieren. Er benutzt Techniken der Reduktion, der sparsamen Andeutungen, der Auslassung, des Verschweigens. Doch gerade dieses literarische Mittel schafft einen ungemeinen Freiraum für das Empfinden des Lesers. Das Nichtgesagte rückt in den Vordergrund und erzeugt eigenständige Assoziationen. Mit seinem so typischen Stil – kurze, fast stakkatoartige Sätzen und wirkungsvoll eingesetzte Iterationen -, erzeugt Koch durch seine ausgezeichnete Beobachtungsgabe, die menschliche Regungen und scheinbar nebensächliche Begebenheiten schon im Ansatz aufspürt, eine atemberaubende, unterschwellige Spannung, die sich immer mehr steigert. Mit dem Einsatz souveräner literarischer Mittel stößt er in die Tiefe des Leserbewusstseins vor. Fazit: Erwin Kochs beeindruckende, wahre Geschichten verbergen allerfeinste Literatur. Ein Buch, das durch seine unglaubliche Eindringlichkeit den Atem anhalten lässt, das zuweilen Tränen in die Augen treibt, aber niemals pathetisch wird, das weniger an psychologisch eindeutigen Schnittmustern seiner Protagonisten interessiert ist, sondern vielmehr auf die Grauzonen menschlichen Verhaltens setzt, ein Sack voller Gedanken, die zumeist kein schönes Bild zeichnen. Aber wie sagt Sarah aus seiner Eingangstext so treffend: „Ein neues Leben ist gewonnen. Eine neue Ansicht der Welt.“ Ein Buch: eindringlich, direkt und unglaublich intensiv.
Erwin Koch
Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten
Nagel & Kimche (Februar 2013)
191 Seiten, Gebunden
ISBN-13: 978-3312005574
Preis: 17,90 EUR
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