Himmelsgarten oder: Die Bohnenpasta-Oma – Durian Sukegawas „Kirschblüten und rote Bohnen“

Lepra – selbst im aufgeklärten Europa herrscht nur Oberflächenwissen über die auch als Morbus Hansen bezeichnete chronische, aber am wenigsten ansteckende Infektionskrankheit. Die große Furcht der Menschen vergangener Jahrhunderte und den daraus folgenden Diskriminierungen Betroffener erklärt sich aus dem typischen Erkrankungsbefall und der damit einhergehenden Entstellungen von Gesicht (Löwengesicht), Haut (Geschwüre) sowie Gliedmaßen („Abfaulen“ der Hände und Füße).
Besonders unrühmlich ging man in Japan mit den Kranken um, indem man in der Vergangenheit Leprakranke von der Gesellschaft vollkommen isolierte und wegen der vermuteten Ansteckungsgefahr in Sanatorien einsperrte, obwohl die Erkrankung bereits in den 50er Jahren durch 3-fach-Antibiotikabehandlung als heilbar galt. Hinzu kam, dass Schwangere zu Abtreibungen gezwungen und Männer zwangssterilisiert wurden: Taten, die das Strafrecht als Mord definiert.
Seit die Zwangsquarantäne aus dem Jahr 1907 im Jahr 1996 beendet wurde, können die Leprakranken wieder am öffentlichen Leben teilhaben. Das japanische Parlament hat sich offiziell bei den Betroffenen entschuldigt und Schadenersatz in Höhe von 14 Millionen Yen (104.000 Euro) gezahlt. Etwa 5000 ältere Leprakranke leben noch heute in staatlichen Leprosorien, wo sie seit etwa 40 Jahren untergebracht sind und daher keine eigene Wohnung mehr haben, in die sie zurückkehren könnten.
Tokue ist so eine „Himmelsgarten“-Bewohnerin. Als sie das erste Mal an Sentaros Imbissstand auftaucht und anbietet, dem Dorayaki-Bäcker beim An-Kochen (ein süßer roter Bohnenmus) unter die Arme zu greifen, lehnt dieser – obwohl er Hilfe gebrauchen könnte – zunächst ab. Aber die weise, alte Frau überzeugt ihn letztendlich. Trotz ihrer entstellten, krallenartigen Hände und des etwas schiefen Gesichtsausdrucks, zaubert sie in geradezu rituellen Handlungen, in denen sie sogar mit den Bohnen spricht, eine geradezu himmlisch schmeckende Bohnenmus-Pfannkuchen-Paste. Hinzu kommt, dass sie Sentaro so etwas wie eine Lebensberaterin wird. Sie versteht es mehr und mehr in das Innere des verschlossenen, zurückgezogenen, zu viel trinkenden und in der Vergangenheit auf die schiefe Bahn geratenen Mann vorzudringen: „… von diesem Licht in ihren Augen, wenn sie lächelte, fühlte er sich manchmal regelrecht durchleuchtet.“
Sentaro beginnt nach und nach viel bewusster und aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Anstatt eines Lebensmittels mit dem er hantiert, beginnt sogar er „eine Schar kleiner Lebewesen vor sich“ zu sehen.
Der kurzzeitige Umsatzanstieg durch die mit einem Mal reißenden Absatz findenden Dorayakis erhält dennoch einen derben Einbruch, als sich offenbar herumspricht, dass Sentaro eine Lepra-Kranke beschäftigt…
Mit typisch japanischem Timbre, manchmal kühl und unnahbar, mitunter spartanisch und ohne allzuviel blumige Worte, erzählt Durian Sukegawa eine leise, aber feine Geschichte über vergessene, aber nie ganz verlorene Träume, über Heimat, Scheitern, Schmerz, die Verstocktheit der Welt und vor allem die traurige Vergangenheit der japanischen Lepra-Kranken. Das Werden der Kirschbäume und ihr „Jahres-Blütenlauf“ sind dabei so etwas wie Metaphern auf das menschliche Leben im Allgemeinen und das Schicksal bzw. „Farbenspiel“ der literarischen Protagonisten im Besonderen: „Nicht immer, wenn man die Ohren spitzt, hört man auch etwas. Aber geben Sie nicht auf, versuchen Sie es weiter. Ganz gleich, wovon wir träumen, irgendwann finden wir das Erträumte. Ich bin überzeugt, dass es zu uns spricht und wir seine Stimme hören. Im Leben eines Menschen gibt es nie nur eine Farbe. Die Schattierungen können sich jederzeit ändern. Eigentlich ist das ganze Leben ein andauerndes Farbenspiel.“ (Tokue an Sentaro)
Fazit: Ein kleines, feines und unglaublich intensives Buch – wenn man es versteht sich darauf einzulassen und den Lärm der Welt auszublenden. Ein Text, der im Schmerz Schönheit gebiert. Ein Satz aus dem Roman trifft den Leseeindruck besonders: „Es war eine Begegnung mit all dem, für das es keine Worte gab. (…) Aber diese Art zu denken hat mein Leben verändert. Wir sind geboren, um die Welt zu betrachten und ihr zuzuhören. Das ist alles, was sie von uns verlangt.“

Durian Sukegawa
Kirschblüten und rote Bohnen
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Titel der Originalausgabe: An
Dumont Buchverlag (März 2016)
224 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3832198121
ISBN-13: 978-3832198121
Preis: 18,00 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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