„Hier möchte ich leben und arbeiten können“ Louis Fürnberg und Weimar – Zum 110. Geburtstag des Dichters

Bild und Schrift, Foto: Stefan Groß

I.

Im Folgenden sollen die letzten Lebensjahre des Dichters Louis Fürnberg (1954- 1957) betrachtet werden. Weshalb kam die Familie Fürnberg in die Klassikerstadt Weimar? Seit seinen Weimar-Besuchen zum großgefeierten Goethe-Jahr 1949 und sowie als Kultur- Attache‘ der C‘SR in der DDR ­hatte Fürnberg  die Goethe-Stadt ins Herz geschlossen.1

Die spätere Abberufung des Diplomaten Fürnberg 1952 war mit erheblichen Gefahren verbunden. Sein Prag wollte und musste Fürnberg (1909-1957) wenige Jahre später verlassen. Das vom Stalinismus geprägte, antisemitische Sla’nsky‘-Tribunal  (1952)  mit den sich anschließenden Hinrichtungen seiner Genossen machte für ihn ein Leben dort unerträglich. Auch Otto Fischl (1902-1952),  Botschafter der C’SR in der DDR, Fürnbergs Vorgesetzter in Berlin, hatte man hingerichtet.2   Fürnberg hätte in einer Nische in seiner Stadt weiter existieren können. Als Dichter ohne Resonanz und Leser wollte er sein Leben nicht weiter führen. 

Es soll gezeigt werden, wie die amtlichen Tätigkeiten des Dichters in Weimar sein poetisches Werk hier und da bereicherten, vor allem aber einschränkten. Nachdem die Familie Fürnberg lange auf ein DDR-Visum warten musste, kam sie im Sommer 1954 in die Stadt an der Ilm. Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur (NFG) hatten für den Dichter und Goethe-Kenner ein großes Haus mit Garten in der Rilke-Straße 17 bereitgestellt. Eine Straße, die Rainer Maria Rilkes Namen trägt, passte bestens zu Louis Fürnberg, der diesen Poeten innig verehrte. 1926, mit 17 Jahren, hatte der ambitionierte Lyriker – noch ohne Werk – den weltbekannten Dichter in dessen Sterbejahr im Schlossturm  Muzot im Schweizer Kanton Wallis  aufgesucht. In einem dreiseitigen Gedicht kommt der noch Namenlose 1926 auf seinen Besuch zu sprechen. Der frühe lyrische Text „Chateau de Muzot – sur Sierre“ setzt so ein:

Daß es ihn gibt! Und daß Chateau Muzot

auf Erden ist und nicht in andern Reichen!

Pack deine Tasche und sei wieder froh!

Reis zu ihm und bitt ihn um ein Zeichen.

Zwar bist du namenlos und nicht Paul Vale’ry…

Doch so ein Mann ist oft voll Bonhomie.3

Das Fürnberg-Haus gehörte einstmals einem hohen Nazirichter. Der Umzug nach Weimar fiel der Familie Fürnberg nicht leicht. Hatte sie doch während des Faschismus 28 Familienangehörige verloren, auch in Buchenwald. Walter, der jüngere Stiefbruder Louis Fürnbergs, starb auf dem Ettersberg an Typhusversuchen. „Auf der Flucht erschossen“, heißt es auf dem Totenschein.       Das Janusköpfige Weimars war Fürnberg immer gewärtig: Seine Liebe zur klassischen deutschen Literatur und die Schrecken Buchenwalds.  Auf der anderen Seite hat Fürnberg schon während seiner Zeit als Kulturattache‘ in der DDR wunderbare junge Menschen, darunter Dichter und Germanisten kennengelernt, die viel Hoffnung auf eine neue Zeit machten.

II.

Louis Fürnberg wurde im August 1954 Stellvertretender Direktor der NFG. Nun war er der zweite Mann hinter dem Direktor Helmut Holtzhauer, der im Februar des gleichen Jahres seine Arbeit in Weimar aufgenommen hatte. Alsbald wurde der Dichter in den nun achtköpfigen „Beirat für Forschung“ kooptiert. Er übernahm immer wieder repräsentative Aufgaben, führte in- und  ausländische Gäste durch die NFG, vor allem durch das Goethe-Haus.

Mitte Oktober lud man den Poeten Fürnberg zum ersten Weimarer Buchbasar ein. Für solche Gelegenheiten sollte aber bald kaum mehr Zeit bleiben …

Fürnbergs erster Auftritt in seinem neuen Amt war eine Rede zum 100. Todestag von Johann Peter Eckermann (1954), die er im Dezember in Winsen an der Luhe hielt. Ein Jahr darauf erschien sein umfangreiches Vorwort zur tschechischen Übertragung der Gespräche Eckermanns mit Goethe. Fürnberg versuchte sich seit 1954an der Erzählung „Der arme Dr. Eckermann“, von der nur zwei knappe Kapitel überliefert sind. Dieses Beispiel zeigt, dass bei Fürnberg  amtliche Aufgaben – auch über Landesgrenzen hinweg – seine Arbeit als Künstler mitunter berührten. Die literarische Arbeit blieb in diesem Fall liegen, die umfangreichen „Pflichtaufgaben“ wurden pünktlich und freudvoll zu Ende geführt.

Im Vorfeld des Schiller-Jubiläums 1955 kamen auf ihn, den späteren Generalsekretär der Deutschen Schiller-Stiftung, gewaltige Aufgaben zu: Das Zentralkomitee der SED berief ihn in eine „Kommission zur Erarbeitung von Grundsätzen einer wissenschaftlichen Schiller-Bewertung“, wie es in staatsoffiziellem Ton hieß. Damit trug er für alle Schiller-Aktivitäten die Verantwortung, nicht zuletzt für die in Weimar geplanten. Aus terminlichen Gründen konnte Fürnberg an den Schiller-Feierlichkeiten im schwäbischen Marbach nicht teilnehmen.

Im Jahre 1955 äußerte sich Louis Fürnberg gleich dreimal zum Dichter der „Wallenstein“- Trilogie. In der Berliner Volksbühne hielt er am 9. Mai die offizielle „Rede auf Schiller“, die er am Vortage bereits in den Leuna-Werken  vorgetragen hatte.

Zur Schiller-Rede Thomas Manns, gehalten am 14. Mai 1955 im Nationaltheater Weimar, sagte Fürnberg: „Da kann man als Künstler mitunter mutlos werden. Das ist Weltliteratur.“4

In seiner kleinen Arbeit „Eine Aufgabe der Musikforschung“ beleuchtete  Fürnberg, der viele seiner Lieder vertont hatte, Schillers Verhältnis zur Musik und dessen Bedeutung für diese Kunstgattung. Dies ist insofern interessant, als Friedrich Schiller Goethe mitteilte, in Musikfragen „wenig Kompetenz und Einsicht“ zu haben.

„Ein Schiller-Problem“ nannte Fürnberg eine dritte Arbeit, in der er nicht zum ersten Male anmerkte, dass die Beziehungen der deutschen Klassik zur Literatur der slawischen Völker wenig erforscht seien. Der Erzähler Fürnberg hatte dieses Terrain in der Mickiewicz-Novelle „Begegnung in Weimar“ bereits in seiner Vorweimarer Zeit (1952) betreten. In zwei kleineren Arbeiten zu dem polnischen Nationaldichter vertiefte er dieses Thema. Aus Anlass des 100. Todestages von Adam Mickiewicz wurde der Multifunktionär 1955 auch Vorsitzender des Mickiewicz-Komitees. Fürnberg baute gemeinsam mit dem Slawistikprofessor Rudolf  Fischer (1910-1971) in Weimar die kleine Forschungsabteilung „Germanoslawika“ auf. Dort wurden literarische und sprachliche Wechselwirkungen zwischen Deutschland und den slawischen Völkern untersucht.

III.

Die sechsbändige Fürnberg-Werkausgabe (1963-1973) enthält neben den Reden und Schriften zu Schiller und Mickiewicz weitere publizistische Beiträge aus den Weimarer Jahren. Es sind dies beispielweise Nekrologe oder Gratulationen für deutsche und tschechische Kollegen. In seinen Arbeiten zu Bertolt Brecht und Arnold Zweig erkennt Fürnberg neidlos den Rang dieser Jahrhundertautoren an.

Fürnbergs letzter Text, den er zurückhaltend mit „Kleines Blatt der Erinnerung“ überschrieb, war zu Zweigs 70. Geburtstag im November 1957 gedacht.1954 hätte sich Zweig Louis  Fürnberg dauerhaft in Berlin gewünscht. Er glaubte, dass er an der Seite Peter Huchels in der Redaktion von „Sinn und Form“ ideal hätte wirken können. Als der väterliche Freund aus den Jahren des palästinensischen Exils das „Kleine Blatt der Erinnerung“ in den Händen hielt, war dessen Absender nicht mehr am Leben. Seine letzte Arbeit nahm Fürnberg zum Anlass, nochmals an die Schwierigkeiten des gemeinsamen Exils mit Zweig zu erinnern. Beide hatten die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten erfahren und angeprangert. Zum anderen haben beide Autoren den Nationalismus und Zionismus in Palästina kritisch betrachtet.

Andere Arbeiten schrieb Fürnberg, der sein Leben lang publizistisch tätig war bzw. sein musste, über seine Prager Kollegen Egon Erwin Kisch und Franz Carl Weiskopf. 1956 erschien der Essay „Bekenntnis zu Johannes R. Becher“. Dem  jungen Walter Werner verhalf er 1957 zum ersten Buch. 

Lesern der späten Publizistik Fürnbergs wird nicht entgehen, dass die Beiträge, die er über Dichter schrieb, plastisch, informativ und authentisch wirken. Von den amtlich-offiziellen Texten kann man dies nicht sagen. Sie sind, so wichtig sie politisch waren, mitunter trocken, belehrend und kommen, dem Zeitgeist entsprechend, in papierner Parteisprache daher.           

IV.

Erste Konflikte im turbulenten Schiller-Jahr bahnten sich im Februar 1955 zwischen Fürnberg und seinem machtbewussten Vorgesetzten an: Kulturminister Johannes  R. Becher bestand darauf, dass Fürnberg als Vertreter seines Ministeriums im „Verwaltungsrat der Schiller-Nationalausgabe“ tätig sein solle. In dieser Funktion hätte sich Holtzhauer, seit Jahren ein Rivale Bechers, gern selbst gesehen. Willy Flach, bis 1958 Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs, sollte ebenfalls in dem Rat arbeiten – als Vertreter der NFG. Wären die Pläne des Direktors aufgegangen, hätten die NFG zwei Vertreter seiner Wahl im Verwaltungsrat platziert und den Vize ausgebotet.

Im Sommer 1955 erlitt der „Dichter im Amt“, physisch ohnehin kein starker Mann, einen schweren Herzinfarkt, von dem er sich nur langsam erholte. Bei der hier skizzierten Arbeitslast war dies kaum verwunderlich. Seiner Frau hat er unter Schmerzen den Hauptgrund genannt: „Das sind die Prozesse“5. Gemeint waren die Prager „Sla‘nsky‘-Prozesse“, denen  er 1952 knapp entkommen konnte. Mit scheinheiligen Begründungen hatte man den vormals ersten Mann der Partei und elf weitere Genossen zum Tode verurteilt.

In der autobiographisch angelegten, Fragment gebliebenen „Krankengeschichte“ heißt es 1955: „Vielleicht ist gerade aus der Ambivalenz meines Verhältnisses zu Schiller die geradezu disziplinarische Lust zu erklären, mit der ich zwischen Januar und Mai 1955 mich nach Pflichten und Lasten zu seinen Ehren und in seinem Dienste drängte: es war mir selbstverständlich, daß ich all den Leitartikelwünschen, die man vor mir ausbreitete, entsprach, allen Komitees zu Willen war, die mich nominierten, mich zu einer Festrede verstand, die mich Schweiß kostete und mir sauer wurde wie nichts in meiner literarischen Laufbahn, ja endlich sogar mit ausgesprochenem Vergnügen meine Wahl zum Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung zur Kenntnis nahm. Meine Frau hielt mich für verrückt und gab es auf, mich zur Vernunft zu rufen. So seltsam es war, hatte es ja eben seinen Grund in dem, was mir mein Manko erschien, mein eine ganze Epoche umfassendes Zurückgebliebensein, das sich gerade an Schillers gerühmtem nationalen Pathos stieß und an dem, was man seinen Radikalismus nannte und schon gar seine Fortschrittsüberzeugung. Ich will nicht leugnen, daß auch noch etwas anderes in meine Bürdenwilligkeit, ja in meinen aus schlechtem Gewissen herrührenden Eifer mit hineinspielte: mein Amt, meine dienstliche Stellung als stellvertretender Direktor der Nationalen Gedenk- und Forschungsstätten der deutschen klassischen Literatur in Weimar, zu denen nicht nur das Schillerhaus, sondern auch das Goethe-Schiller-Archiv gehören. Wen ging es an, daß es aber meine Goethe-Begeisterung war und die Arbeiten, die damit zusammenhingen, die mich nach Weimar geführt hatten.“ 6

Wie sehr Fürnberg Johann Wolfgang Goethe verehrte, ist bekannt. Von dem  durch Fürnberg  liebevoll, plastisch und ironisch geschildertem Treffen Goethes mit Mickiewicz war bereits die Rede. Seine Erzählung „Die Begegnung in Weimar“ (1952)  steht als „Huldigung, die zugleich ein Manifest völkerverbindender Gesinnung im ‚welttliterarischen‘, ‚weltbürgerlichen‘ Sinne“ ist. 7

Immer wieder hat Fürnberg Versuche unternommen, den tschechischen Lesern etwa den „Faust“, Goethes Lyrik und dessen Gespräche mit Eckermann durch Essays und Kommentare nahe zu bringen. Nicht zuletzt seine drei Arbeiten zu  Eckermann zeigen, dass der Dichter Fürnberg keinesfalls ein unkritisches Verhältnis zu Goethe hatte.

Jüngst hat Jan Gerber, Autor des Buches „Ein Prozess in Prag“ (Göttingen 2016), sich in der von Fürnberg mitbegründeten Literaturzeitschrift „Weimarer Beiträge“ zu dessen letztem Lebens- und Arbeitsort geäußert. Der Aufsatz basiert auf exakter, umfangreicher Recherche und ist unbedingt lesenswert. Lediglich die Schlussthese wird Fürnberg nicht gerecht, hier heißt es: „Das Blickfeld Louis Fürnbergs, dessen frühes Schaffen in die Zukunft  gerichtet gewesen war, verlagerte sich durch die Verwerfungen der Zeit, durch Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in die Vergangenheit: vom ‚Ziel vor den Augen‘, das er in seinem Lied von 1937 besungen hatte, auf die Verwaltung des Erbes von Goethe und Schiller, für das er qua Beruf zuständig war.“ 8

Wäre Fürnberg ohne sein lebendiges, auf die Gegenwart zielendes Interesse an Goethe überhaupt nach Weimar berufen worden? Niemals ging es Fürnberg nur um die „Verwaltung“ des Erbes. Niemand hat ihm die Beschäftigung mit Goethe verordnet. Die Hinwendung zu Goethe schloss ein Nachdenken über  Perspektiven der Menschheit keineswegs aus. Fürnbergs lyrisches Spätwerk, das durchaus an optimistische Verse aus früheren Jahrzehnten anknüpft, bleibt in der Darstellung des Historikers Gerber unerwähnt.

V.

Fürnberg, der auch zum Vorsitzenden des Besucherrates im Deutschen Nationaltheaters gekürt wurde, war Mitbegründer und Herausgeber der wohl von Helmut Holtzhauer initiierten literaturgeschichtlichen Zeitschrift „Weimarer Beiträge“. Die erste Ausgabe war ein Doppelheft und erschien im November 1955. An Fürnbergs Seite stand mit Hans-Günther Thalheim (1924-2018) ein Forscher, der später als hochangesehenen Klassik-Spezialisten galt. Der Dichter und der Germanist stellten die Weichen dafür, dass sich die „Weimarer Beiträge“ zur wichtigsten literaturwissenschaftlichen Zeitschrift der DDR entwickelten. Dieses Kompendium gibt es noch heute, auch wenn es nunmehr im Wiener Passagen Verlag erscheint.

Die Herausgeber wollten in den fünfziger Jahren, dass die „fortschrittlichsten“ Vertreter „unserer neuen Literaturwissenschaft“ sich hier zu Wort melden. Thalheim und Fürnberg – der auch diese Arbeit sehr ernst nahm – stritten, ob Hans Mayer ein wirklicher Marxist sei (S. 184), ob man nach den Ereignissen 1956 in Ungarn Georg Luka’cs noch zitieren dürfe (S. 202), ob man alle Beiträge der Berliner Heine-Konferenz  – dieses „Simmel-Sammel-Surium“ – 1956 als Sonderheft drucken solle (S.187) usw.  9

Im Übrigen verstanden sich Mayer und Fürnberg, trotz ihrer politischen  Differenzen, gut. Gern spielten sie vierhändig auf dem Flügel. Der Leipziger Literaturprofessor, der auch ein Nachwort zu Fürnbergs „Mozart-Novelle“ geschrieben hatte, nahm am 27. Juni 1957 am Begräbnis des Dichters teil. (Dieses Faktum erschien der Staatssicherheit „buchenswert“, auch wenn sie sich im Datum vertan hatte.10) Einig waren sich die Herausgeber der „Weimarer Beiträge“ darin, dass nicht jede Studie eines Marxisten gleich eine gute Arbeit sei. So kritisieren beide einen Aufsatz von Gerhard Scholz scharf und brachten ihn nicht zum Druck. Thalheim schätzte in einem Schreiben (vom Dezember 1956) an seinen Mitstreiter ein, dass in etlichen Beiträgen die „marxistische Methode“ zu „vulgär“ und „vereinfachend“ angewandt werde. Viele der eingereichten Darstellungen führten demnach, meint Thalheim, zu keinen „originellen Ergebnissen.“11  Nach Fürnbergs Tod erschienen in den sechziger Jahren einige Arbeiten des Dichters (etwa zu Eckermann und Karl Kraus) in den „Weimarer Beiträgen.“

Nach einem Vortrag von Erich Trunz, dem exzellenten Goethe-Forscher, dessen methodisches Vorgehen Fürnberg nicht teilte, hob er die großartige rhetorische Leistung des Wissenschaftlers hervor. Für „unsere jungen Leute“ solle man, meinte Fürnberg, ein „Institut, eine Art Schule der Rhetorik“ einrichten.12

Zu den bleibenden Leistungen Fürnbergs gehört ebenso, dass er die großartige Bibliothek Deutscher Klassiker (BDK) mit auf den Weg gebracht hatte: Ein solide kommentierter Band, in Leinen gebunden, kostete über Jahrzehnte fünf DDR-Mark.

Anfang Mai 1957 trieb Fürnberg die Frage um, wie Schriftsteller die Volkswahlen unterstützen könnten. Er jedenfalls engagierte sich hier ganz selbstverständlich. Auch wurde er gefragt, ob er in dem von Ministerpräsident Otto Grotewohl geführten „Vorbereitungskomitee“ zur Errichtung einer Buchenwald-Gedenkstätte im Jahre 1958 mitarbeiten würde. Wer den Dichter kennt, wird ahnen, dass er auch diesmal zugesagt hatte.

VI.

Dass es in der Weimarer Führungsetage der NFG zu Fürnbergs Zeit „hakte“, hatte Henri Poschmann 2009 in seiner brillanten Rede zum Fürnberg-Jubiläum   deutlich angesprochen. Poschmann hatte seinerzeit die politische Biographie des Dichters ins Zentrum seiner Ausführungen gerückt.

Der in Berlin in seiner Funktion als „Vorsitzender der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten“ gescheiterte Helmut Holtzhauer war „mit dem Reich der Weimarer Einrichtungen abgefunden“ worden.

„Prager Liebenswürdigkeit und deutsche Unpersönlichkeit: Zwei Umgangskulturen trafen hier in problematischer Rollenbesetzung aufeinander, (…) Fürnberg täuschte sich über den Status, der ihm als Zweitem Direktor zugedacht war. Als er es merkt und die Herzanfälle sich häufen, denkt er darüber nach, Weimar wieder zu verlassen, vielleicht nach Dresden zu gehen…“

Am 16. Juni 1957 platzte Louis Fürnberg der Kragen: Die siebente Fassung seines Kündigungsschreibens gab er im Sekretariat Holtzhauer ab. Eine Antwort blieb aus. Der Direktor, von manchen „der sozialistische Carl August“, „der regierende Herr der Schlösser und Schatzhäuser“ genannt, hatte ihm jegliche Unterschriftsbefugnis entzogen. Von jedem seiner Schreiben sollte künftig ein Durchschlag auf dem Schreibtisch des Chefs liegen. Niemals hatte Fürnberg in seinem Arbeitsleben eine solche Schmach, die ihm Genossen antaten, erdulden müssen. 13

Eine seiner letzten Amtshandlungen war der vergebliche Versuch, Bechers spät eingetroffene Handschrift der Nationalhymne noch im Katalog zur Ausstellung „Dichterhandschriften“ (1957) zu platzieren.

Eine Woche später, am 23. Juni, einen Monat nach seinem 48. Geburtstag, am Tag der Wahl, starb Louis Fürnberg nach einem zweiten Herzinfarkt. An seinem letzten Tage hatte er dem jungen Poeten Rainer Kirsch einen langen ermutigenden Brief nach Jena geschrieben und am Abend mit großer Freude am Flügel seinen „Gesang von der Jugend“ gespielt, dessen Vertonung ihm der Komponist Ernst Herrmann Meyer zugesandt hatte.

Die Koffer für einen dringend erforderlichen Kuraufenthalt waren bereits gepackt … 

 Louis Fürnberg, der nur knapp drei Jahre Bürger der DDR war, wurde mit einem Staatsbegräbnis geehrt. Die Trauerfeier begann im Weißen Saal des Schlosses. Offiziere der gerade gegründeten Volksarmee hielten die Ehrenwache. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zog der Trauerzug am 27. Juni zum Historischen Friedhof, wo der Dichter in der Nähe der Goethe- und Schiller-Gruft seine letzte Ruhestätte fand. Dort wurde 1854 auch „sein Protagonist“ Eckermann begraben.

Staatspräsident Wilhelm Pieck, der Fürnberg 1956 den Nationalpreis überreicht hatte, schickte einen großen Kranz. Auf der Trauerfeier sprachen der Kulturminister Becher, Dr. Paul Wandel, ZK-Sekretär für Kultur und Bildung, Direktor Holtzhauer, Stephan Hermlin und Fürnbergs Dichterfreund Kuba. Unter den Klängen der „Internationale“ ging die Trauerfeier zu Ende. 

                                                           *

In seinem Tagebuch äußerte sich Helmut Holtzhauer am 24. März 1960, knapp drei Jahre nach Fürnbergs Tod, in folgender Weise:

„Das jüdische Problem scheint im Wiederaufleben des Antisemitismus und im Fortbestehen des jüdischen Nationalismus zu bestehen.

Letzterer äußert sich in der spezifischen jüdischen Solidarität, die ausschließlich ist und gegen Nichtjuden gerichtet ist. Seitdem L.F. (Louis Fürnberg) in Weimar war, konnte beobachtet werden: Juden suchen nur ihn auf, wenn sie die NFG besuchen; er verteidigt nur Juden, wenn es sich um sachliche Kritik (Scholz, Wertheim usw.) handelt und kritisiert scharf Nichtjuden (Lauter, Hoffmann, Rentzsch) als Kunstbanausen. Vorschläge für Vergebung von Aufträgen an jüdische Freunde (Zweig, Goldstücker usw. für BDK), sachliches Lob nur für Juden; gegen nationale deutsche Traditionen (Volkstänze=Großbauerntum, Volkslied, überhaupt die Volklore); Verteidigung kosmopolitischer Erscheinungen auf dem Gebiet der Kunst.

Die jüdischen Freunde werden an einflußreiche Stellen lanciert und dort trotz offenkundiger Schwächen gehalten (Becher, Gysi, Abusch, Lewin, Rodenberg usw.)

Nationale Überheblichkeit (Leschnitzer Weihnachten 1959 in Petzow: ‚Wir Juden sind der Sauerteig der Völker.‘  Zweig 1956: Gedicht im Sonntag. Geist bei den Juden, Muskelkraft bei den Nichtjuden.)

Festhalten an jüdischen Bräuchen (Erdbestattungen Brecht, Fürnberg, Becher. Lewins Teilnahme an jüdisch-religiösen Trauzeremonien)

Der politische Charakter der jüdischen spezifischen Solidarität.“ 14

Das Notat, das diametral zur Rede am Grab seines Stellvertreters steht, verrät Einiges über Helmut Holtzhauer. Das Wort „Kuturbanausen“ für Kollegen zu verwenden, wäre nicht Fürnbergs Stil gewesen. Der Begriff „Kosmopolitismus“ (hier auf Fürnberg bezogen), konnte in den fünfziger Jahren zu einer Vernichtung beitragen. Auch waren Becher und Brecht keine Juden. (Nach der Wende hatten ungebildete Rabauken, für die „Jude“ als Schimpfwort galt, Bertolt Brechts Grab in Berlin mit diesem Wort versehen.) 

Entschieden muss gesagt, dass Holtzhauer dem Dichter, Diplomaten und Kulturpolitiker Louis Fürnberg mit diesem (diffamierenden) Eintrag in keiner Weise gerecht wird.

Der Dichter Fürnberg selbst stand jeglicher Verklärung des Judentums kritisch gegenüber: In dem wenig bekannten Langgedicht „Rige od Fere, Nummer zwei“, das wahrscheinlich 1944 entstanden ist, gibt es folgende Zeilen.

Ein Ghettovolk, jahrhundertlang gequält,

hat nichts gelernt und fühlt sich auserwählt

zu Knutenschwingen und zu Herrenton.

Von Bomben träumt die junge Generation,

ein Hakenkreuz schlingt sich zum Zionsstern.15

(Der Fürnberg-Kenner Gerhard Wolf riet 1963 davon ab, diesen heftigen Text in  Fürnbergs  Nachlass-Band „Lebenslied“ aufzunehmen.)

VII.

Unsere Darstellung fokussierte sich auf Fürnbergs letzte Jahre und dabei vor allem auf dessen amtliche Tätigkeiten. Blickt man in den zweiten Band der Briefe (1954-1957, Berlin 1986) werden weitere, beträchtliche Arbeitsfelder sichtbar. Fürnberg korrespondierte mit Freunden der Exilzeit, mit tschechischen Kollegen, Genossen, Verlegern, Germanisten und Übersetzern. Genauso intensiv war sein Austausch mit Behörden, Institutionen, jungen Germanisten, vor allem mit alten Kollegen und hoffnungsvollen jungen Autorinnen und Autoren in der DDR. Ein besonders enger Kontakt entstand es zu Franz Fühmann sowie zu Christa und Gerhard Wolf, seinem späteren ersten Biographen (1961). 

In ihrem letzten Roman „Stadt der Engel“ (2010) hat Christa Wolf ihrem Mentor und väterlichem Freund Fürnberg, der sie nachdrücklich zum Schreiben ermuntert hatte, ein literarisches Denkmal gesetzt.16 Für die jungen Thüringer Autoren Harry Thürk, Walter Werner und Eckart Krumbholz war Fürnberg gleichfalls Mentor. Als Mitglied des Vorstandes des Deutschen Schriftstellerverbandes (dem er seit 1955 angehörte) stellte er Kontakte aus der Provinz zur Hauptstadt her und lockte manchen namhaften Kollegen zu Vorträgen in die Ilmstadt.

Es passte zu  Fürnberg, dass er auch Zeit für Menschen hatte, die im Dialog mit ihm erfahren wollten, ob sie Talent zur Schriftstellerei haben.

Über Fürnberg und Weimar nachzudenken heißt auch, nicht realisierte Vorhaben aufzulisten. „Erbe und Gegenwart“ nannte er 1957 eine Reihe, in der Walter Werner debütierte. Als Herausgeber wollte er 1958 dieses Vorhaben fortsetzen. gedachte. Einer Anthologie mit Texten des Expressionismus wollte er einen mit Band Kafka-Erzählungen folgen lassen. Hier war Fürnberg dem Traditionsverständnis tonangebender Kulturfunktionäre in der DDR um Jahre voraus …

Unter den Prager Dichtern deutscher Zunge war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Franz Kafka, wie sich später herausstellen sollte, der einzige Autor von Weltrang. Fürnberg, ein Vertreter der nachfolgenden Prager Dichtergeneration, hat sich über Jahrzehnte mit Kafka (1883-1924) beschäftigt. Diesen Spuren wollen wir in einem Exkurs folgen:

Auch wenn Fürnbergs Affinität etwa zu Rilke wesentlich stärker war, so hat er sich in Briefdialogen mit namhaften in- und ausländischen Germanisten, als Redakteur der „Weimarer Beiträge“ und, am Ende seines Lebens, auch als Lyriker mit Franz Kafka auseinandergesetzt.

Im Nachlass Fürnbergs fand sich das 1957 entstandene Porträtgedicht „Leben und Sterben F. K.s“. Im Gegensatz zu seinen lyrischen Porträts etwa zu Marx, Dvorak ?? oder auch Stalin benutzt Fürnberg hier im Titel nur Initiale. Er wusste, dass in der DDR der Boden für Gespräche über Kafka noch nicht bereitet war. Fürnbergs nachgelassenes Gedicht erschien 1963, zum 80. Geburtstag Franz Kafkas, in „Sinn und Form“. Dort, im ersten Heft nach der Ära des Chefredakteurs Peter Huchel, steht es neben zwei Kafka-Gedichten Günter Kunerts und in Nachbarschaft von Werner Mittenzweis Rede über „Brecht und Kafka“, die dieser auf der legendären Kafka-Konferenz 1963 in Liblice bei Prag vorgetragen hatte. So stand der längst verstorbene Fürnberg als einer der Wegbereiter eines internationalen Gesprächs über Kafka mittelbar in Zusammenhang mit der Prager Konferenz, die eine weltweite Resonanz fand. Zudem war Fürnberg mit Eduard Goldstücker und Paul Reimann, den Initiatoren der Konferenz, befreundet. Beide Germanisten hielten in Liblice jeweils ein Schlusswort.

Auf der Konferenz ging es letztlich um die Frage, ob die von Kafka immer wieder beschriebene Entfremdung auch in Ländern des Realsozialismus von Bedeutung sei. Wie sollte der „Vater“ der Kafka-Konferenz, der Gelehrte, Antifaschist, Jude und Kommunist Eduard Goldstücker, der sich nach 1945 in Prag statt eines Neubeginns mit der Fratze des Stalinismus konfrontiert sah, von einer Gesellschaft ohne Entfremdung sprechen? Er wurde 1952 im Namen des Sozialismus zunächst zum Tode verurteilt und dann zu mehreren Jahren Gefängnis und Straflager „begnadigt“. In seiner Autobiographie „Prozesse“ (1989) heißt es: „Kafkas Aktualität sah ich darin, daß gerade dieser Schriftsteller zu einer Zeit weitverbreiteter -ismen zu einer kleinen Gruppe Geistesschaffender gehörte, die sich einen illusionslosen Einblick in die Realität bewahrt hatten. (…) Er ahnt den enthumanisierten Trend der technischen Zivilisation mit ihren mörderischen Folgen, die die ethische Phantasie des Menschen übertreffen. Damit spricht er auch uns an, denn wir besitzen gleichfalls noch nicht die Mittel, einer solchen Entwicklung zu begegnen, wenn wir möglicherweise auch fähig sind, dies zu schaffen.“17  Es muss hier offen bleiben, ob Louis Fürnberg diese Thesen zu Kafka akzeptiert hätte.

An Paul (Pavel) Reimann, dem Fürnberg 1951 seinen Gedichtband „Wanderer in den Morgen widmete und den er vertraulich „Polly“ nennt, schreibt er am 21. Januar 1957 in seiner Funktion als Redakteur der „Weimarer Beiträge“:

„Mit größtem Interesse warten wir auf den Kafka-Artikel von Dir. Er hat für uns doppelte Bedeutung: 1. Weil er von Dir, d.h. von einem kompromißlosen Marxisten kommt, 2. weil wir es einfach länger nicht mehr umgehen können, zum Thema Kafka einmal anders als mit ein paar apodiktischen Bemerkungen Stellung zu nehmen. Es handelt sich darum, klar und unumwunden unseren Standort in der Frage Kafka zu präzisieren, sachlich und leidenschaftslos und ohne zu verkennen, daß Kafka zweifellos ein großer Schriftsteller war. Wir werden auf diese Weise meiner Ansicht nach mehr zur Orientierung in der Frage Kafka tun als a) die ignorante Pauschalnegation, von der wir uns bisher leiten ließen und b) die Pseudoobjektivität, die im Grunde darauf hinauslief, Kafka neu für jene Kreise zu reklamieren, die uns als Todfeinde gegenüberstehen. Ich möchte Dich von vornherein darauf aufmerksam machen, daß Du die Kafka-Biographie Max Brods mit allem Vorbehalt lesen mußt. Sie ist offensichtlich verlogen und imputiert Kafka Dinge, die er sicher nicht wollte. Besonders gilt dies für Kafkas sogenannten Zionismus.“ 18  (Paul Reimanns Aufsatz erschien im vierten Heft des Jahrgangs 1957.)

Die harte Sprache aus der Zeit des Kalten Krieges („Todfeinde“) mag erschrecken. Wichtiger aber ist zu sehen, wie Fürnberg mit gestandenen Germanisten auf Augenhöhe argumentiert, und sich (mit Blick auf Max Brod) auf der Höhe der Kafka-Diskussion weiß. Für Fürnberg kann generell gesagt werden, dass er – im Gegensatz zu vielen seiner Schriftstellerkollegen – Ergebnisse germanistischer Forschung zu schätzen und zu nutzen wusste, auch wenn er weltanschaulich mitunter eine andere Position einnahm.

Dies lässt sich auch in dem langen Brief an Professor Derek van Abbe‘?? (London, 8. Februar 1955) nachlesen. Wir zitieren hier vor allem Fürnbergs Schilderungen des Prager Milieus und seine Erinnerungen an Kafkas Vater. Letztere unterscheiden sich erheblich von der poetischen Sicht des Dichter-Sohnes.

„Ich hatte das zweifelhafte Glück als junger Mensch das Kafkasche Milieu, seine nächste Umwelt wie seine weitere Umgebung aus eigener Anschauung kennenzulernen. Damals, das heißt in den zwanziger Jahren, war Kafka das tragische Problem eines kleinen Kreises Prager Intellektueller. Ausnahmslos alle standen ihm mit Sympathie gegenüber und beklagten seinen frühen Tod. Er war für sie ein Mensch, dessen außergewöhnliches Talent an seiner Ich-Bezogenheit gescheitert war. Man erzählte von seiner Bescheidenheit, von der Höflichkeit seines Herzens, von seinem zarten Verhältnis zu Freunden und seinen überaus komplizierten, durch viele Bitternisse komplizierten Verhältnissen zu Frauen.(…)

Ich selbst erinnere mich, den alten Herrn (Kafkas Vater – U.K.) wiederholt gesehen und gesprochen zu haben (Franz Kafka übrigens niemals). Es war ein honetter, liebenswürdiger, mit viel Humor begabter und in gesellschaftlichen Dingen äußerst selbstbewußter Bürger, der dem postumen Ruhm seines Sohnes mit erstaunter Skepsis gegenüberstand, keineswegs aber ohne Stolz. Das heißt der Ruhm war ihm recht, er mißtraute ihm aber.“19     

Fürnbergs nachgelassenes Kafka-Gedicht, entstanden in seinem letzten Lebensjahr, bildet durch seinen ernst-düsteren Blick einen Kontrast etwa zu den späten Texten „1.Mai 1957“ und der Kantate „Gesang von der Jugend“. Es ist nicht selten, dass Porträtgedichte über Künstler Elemente eines Selbstportäts aufweisen. Dies dürfte auch in Fürnbergs Kafka-Gedicht der Fall sein, das hier knapp vorgestellt werden soll.

In dem Auswahlband „Lebenslied“ (2009) findet sich das Gedicht in der ersten Textgruppe „Liebe zu Böhmen“, die etliche lyrische Begegnungen mit Prag enthält. In dem Gedicht „Leben und Sterben F.Ks.“ beschreibt Fürnberg detailliert das auch durch das Judentum geprägte Prager Milieu zur Kafka-Zeit. Wie der Titel verspricht, geht es hier weniger um Kafkas Werk als vielmehr um sein von Anfang an bedrohtes Leben.

Das achtzehn Vierzeiler umfassende Gedicht wirkt, auch durch die Kreuzreime, formal „volkstümlich“. Für das inhaltliche Verständnis sind indessen  „Anmerkungen“ von Nöten, die der erwähnte Band bietet. Sechsmal ist im Gedicht vom Tode die Rede, fünfmal von Enge in Raum und Zeit, viermal von Vereinsamung.  Fürnberg thematisiert gleich doppelt die problematische Kindheit seines Kafka. Mit Blick auf die Frühphase wird von Gespenstern gesprochen. In der zweiten Versgruppe heißt es: „die Kindheit liegt im Sand verscharrt.“ Später, in der neunten Strophe, werfen Fürnberg und Kafka die Frage auf: „Ist Kindergrauen Dichterlos?“ Fürnberg nähert sich behutsam, mal mehr, mal weniger, dem Blickwinkel des Porträtierten. Im Gedicht alternieren erzählende mit reflektierenden Passagen.

Das Gedicht spricht zu Beginn von unbeschwerten Schwestern auf der einen und vom einzigen, sich isoliert fühlenden Bruder auf der anderen Seite. Von weiteren, für das Leben und Werk Kafkas wesentlichen Themen ist die Rede: Von der Angst, dem „Vater zum Gespött“ zu werden (Strophe neun) und dem Zwang einen „Posten“ im „Staatsdienst einfacher Frequenz“ zu bekommen, um schriftstellerisch arbeiten zu können. (Vgl. Strophe elf)

Die Herausgeber des erwähnten Bandes „Lebenslied“ haben dem bedrückenden Kafka-Porträt geschickt den frechen, locker komponierten, ironischen Text über das Prager „Cafe‘ Continental“ vorangestellt, von dem wir nichts über sein Entstehungsjahr erfahren. Fürnberg skizziert hier Rilke, Kraus, Werfel, erinnert an Spengler und Freud. In vier (von fünfzehn) Strophen ist von Max Brod und damit von Franz Kafka die Rede. (Gemeinsam mit Arnold Zweig hatte Fürnberg bereits im Exil Dispute mit Max Brod über den Zionismus geführt.)  In der zwölften und dreizehnten Versgruppe heißt es über Brod:

Auch hat er einen Defekt,

seitdem er den Kafka entdeckt.

Er treibt einen Kult mit ihm, der ist nicht mehr schön.

Man wird das Gefühl nicht los,

er zieht den Kafka nur groß,

um im Zwielicht selber noch größer dazustehn.

Für uns, – die geistige Creme,

ist der Kafka kein solches Problem,–

nur Brod bleibt dabei ignorant.

Aber teils bleibt der Saul ein Saul

und teils ist er zu faul

und nimmt die „Traumdeutung“ nicht in die Hand.

VIII.

Am 23. Mai 1959, dem Vorabend seines 50. Geburtstages, ehrte die Stadt Weimar Louis Fürnberg postum auf doppelte Weise: Er erhielt die Ehrenbürgerschaft und den Literatur- und Kunstpreis der Stadt. (Zu Lebzeiten hatte der bescheidene Dichter diesen Preis mit der Begründung abgelehnt, andere namhafte Autoren Thüringens hätten sich viel länger und intensiver mit der Region auseinandergesetzt.)

Am gleichen Tag eröffnete Dr. Karl Hossinger, Nachfolger im Amte des Stellvertretenden Direktors der NFG, im Römischen Haus die Fürnberg-Gedächtnisausstellung „Der Menschheit Träumer und Soldat“.

Gegenüber der Weimarer Bastille, am Eingang zum Goethe-Park, wurde zwei Jahre später das von dem Prager Bildhauer Martin Reiner geschaffene Louis-Fürnberg-Denkmal aufgestellt. (Lotte Fürnberg mochte die Büste nicht. Der Kopf erinnere sie an einen Athleten, er sei viel zu mächtig für einen Menschen wie Fürnberg.) Worte des Gedenkens sprach 1961 der Dichter Kuba. Er war es, der Fürnbergs letzte Dichtung „Weltliche Hymne“ (Zum 7. November 1957) zu Ende geführte hatte.

Im Jahre 2004 starb Lotte Fürnberg, die ihren Mann um fast fünf Jahrzehnte überlebte und die sich in Weimar zunehmend wohler gefühlt hatte. Das Werk des Dichters hat sie über Jahre  –  gemeinsam mit Rosemarie Poschmann und Gerhard Wolf  –  hingebungsvoll betreut und ediert. Nunmehr stand die Frage, was aus der Bibliothek ihres Mannes werden solle. Der Nachlass kam bereits zu Lotte Fürnbergs Lebzeiten in die Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, deren Mitglied Louis Fürnberg 1955 geworden war. Trotz seiner aufopferungsvollen  amtlichen Arbeit während der dreijährigen Zeit in Weimar war Louis Fürnberg zuallererst Dichter. Seine Manuskripte und Dokumente werden dort aufbewahrt, wo sich die Nachlässe vieler seiner Freunde und Kollegen befinden.  

Die ca. 5000 Bücher umfassende Dichter-Bibliothek wurde zu Beginn des Jahrhunderts verpackt und in Fürnbergs Goldene Stadt Prag gebracht. Davon erfuhr Professor Volkhard Knigge. Fürnbergs Buchsammlung – zusammen mit den Möbeln,  jedoch ohne den, das ursprüngliche Zimmer dominierenden Flügel  – wurden zurückgeholt. In der von Knigge geleiteten Gedenkstätte Buchenwald wurde das Dichterzimmer wieder aufgestellt.  Zum 60. Todestag  des Dichters, im Juni 2017, machte die Gedenkstätte das Arbeitszimmer öffentlich zugänglich. Auch eine Goethe-Maske sowie eine Böhmen-Karte sind in dem Raum zu sehen.

Die Nazis hatten Louis Fürnberg 1939 in zwölf Gefängnisse und Folterkammern gesperrt und dem musikalisch begabten Dichter derart mit Büchern beworfen, dass er dauerhafte Gehörschäden davontrug. Knigge wollte wenigstens der Bibliothek eine würdige Heimstatt geben, wenn schon ihr Besitzer jahrzehntelang ein Gejagter und Vertriebener war.

Im thüringischen Weimar liegt Louis Fürnberg auf einem Ehrenfriedhof begraben. Am Grab von Lotte und Louis Fürnberg wird heute auf Platten auch an Familienmitglieder erinnert, die in Ausschwitz und Treblinka umkamen, ebenso an Fürnbergs Bruder Walter, der 1942 in Buchenwald ermordet wurde.

Der Dichter, dem nach der Vertreibung der Sudetendeutschen die Leser fehlten,  kam 1954 in ein Land, in dem seine Lieder gesungen, seine Werke gedruckt und gelesen wurden. In der Lesergunst stand die „Mozart-Novelle“ (1947), eine erneute Liebeserklärung an seine Stadt Prag, an vorderster Stelle. Mehrfach war eine Verfilmung des Textes angedacht.

Ein heutiger Blick in allgemeine und wissenschaftliche Bibliotheken zeigt indessen, dass Fürnbergs Werk – Geglücktes, Versuchtes, Geplantes – kaum mehr wahrgenommen wird. Zum 100. Geburtstag des Dichters erschienen die Gedichtauswahl „Lebenslied“, herausgegeben von Gerhard Wolf und Alena Fürnberg, sowie das von Ulrich Völkel edierte Taschenbuch mit den Prosatexten „Mozart-Novelle“ und „Die Begegnung in Weimar“. Auch Frank Viehwegs  CD „Herbsteskommen“ mit Fürnberg-Vertonungen (2019) bildet eine  löbliche Ausnahme.

Das an die tschechischen Kommunisten gerichtete Gedicht „Die Partei“ (1951), von Fürnberg vertont, reagiert auf schwere persönliche Kränkungen. In neuer Vertonung, in einer Marschvariation Paul Dessaus, wurde der Text zur inoffiziellen Hymne der SED. Die, vom Kontext isolierten Verszeilen „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“, verstellten, besonders nach 1989, den Zugang zu Fürnbergs vielfältigem Werk. Nicht selten wurde sein Schaffen – ohne jegliche Sachkenntnis – auf diese Zeilen reduziert. Mit ihnen ließ sich zugleich die DDR diskreditieren. 

Der Dichter erhielt hohe Auszeichnungen und viele (zu viele) Betätigungsfelder und Ämter. Seine Verdienste als Mittler zwischen der deutschen und den slawischen Literaturen, als Dichter, Übersetzer, Herausgeber, Komponist und (in den ersten Jahren der DDR) als tschechischer Diplomat sollten gerade in Zeiten, da in Europa der Nationalismus auf dem Vormarsch ist, nicht vergessen werden.

Anmerkungen:

 1 Vgl. Ursula Wertheims Beitrag „Louis Fürnberg zum Gedenken“, der unserem Aufsatz den Titel lieferte. In: Fürnberg, Ein Buch des Erinnerns, Berlin 1959, S. 232.

2 Jan Gerber hat in seinem Buch „Prozess in Prag“, Göttingen, 2. Auflage 2017, dargestellt, welche Gefahren für Fürnberg nach seiner Abberufung als Botschaftsrat 1952 in Prag bestanden. Vgl. S.11-37.

Die materiellen Verluste mussten die Fürnbergs vor ihrer Umsiedlung nach Weimar hinnehmen. Der geforderte Verrat eines Genossen kam für Fürnberg nicht in Frage.

3   Fürnberg-Lesebuch. Berlin 1981, 6. Auflage, S. 19. 

4 Eckart Krumbholz, NDL 10 /1964, S. 171.

 5 Lotte Fürnberg, Ohne Utopie kann ich nicht leben. Frankfurt/Main 1996, S. 77.

6 Fürnberg-Lesebuch. Berlin 1981, 6. Auflage, S. 321. 

7 Ursula Wertheim, Der neue Lynkeus. Nachtrag zu den „Faust-Gesprächen“ . In: Studien zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Berlin 1970, S. 201.

8 Jan Gerber, „In dieser harten bösen Zeit…“, Weimarer Beiträge 4/2017, S. 560.

9 Vgl. Wilfried Lehrke, Die Weimarer Klassikerstätten – eine Chronik. 1954-1957 und 1958-1961, Jena 2017 und 2019.

10 Der Fall Hans Mayer, Leipzig 2007, S. 123.

11Vgl. Lehrke, Jena 2017, S. 191.

12 Ebenda, S. 185.

13 Vgl. Henri Poschmann, Durch Hölle, Hass und Liebe – Louis Fürnberg 1909-2009. In: Sinn und Form 5 / 2009.

14 Helmut Holtzhauer, Weimarer Tagesnotizen. Hamburg 2017, S.107.

15 Louis Fürnberg, Lebenslied, Berlin 1963, S.33.

16 Christa Wolf, Stadt der Engel. Berlin 2010, S. 84-86.

17 Eduard Goldstücker, Prozesse. München und Hamburg 1989, S.294.

18 Louis Fürnberg, Briefe 1932-1957. Band II, Berlin 1986. S. 411.

19 Ebenda, S.80f.

Finanzen

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PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.