Vielfältig wie die Denkansätze und Denkwege der europäischen Geistesgeschichte sind, auch die Versuche, sie durch Ordnungsprinzipien und Klassifizierungen durchschaubarer und faßbarer zu machen. Da geht die Philosophie betreffen die Rede von Empiristen und Rationalisten, Dualisten und Monisten, Spiritualisten und Naturalisten oder bei Karl Jaspers von den ‚maßgeblichen Denkern’, ‚fortzeugenden Gründern’, ‚radikalen Erweckern’ oder ‚schöpferischen Ordnern’. Ein Unterscheidungskriterium aber, welches die Philosophen vom Fach nicht ausgewittert haben, liefert Stefan Zweig in seinem Werk „Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin Kleist Nietzsche“, in welchem er zwischen dämonischen und antidämonischen Denkern unterscheidet und den ‚fruchtbaren Gegensatz zwischen den Herrn und den Dienern des Dämons’ poetisch beschreibt.
Dämonisch ist „die ursprünglich und wesenhaft dem Menschen eingeborene Unruhe, die ihn aus sich selber heraus, über sich hinaus ins Unendlichen, ins Elementarische treibt, gleichsam als hätte die Natur von ihrem geistigen Chaos ein unveräußerliches unruhiges Teil in jeder einzelnen Seele zurückgelassen, das mit der Spannung und Leidenschaft zurück will in das übermenschliche, sinnliche Element. Der Dämon verkörpert in uns den Gärungsstoff, das aufquellende, quälende, spannende Ferment, das zu allem Gefährlichen, zu Übermaß, Extase, Selbstentäußerung, Selbstvernichtung das sonst ruhige Sein drängt.“i Bei den ‚gemessenen’, ‚mittleren’ Menschen wird dies Dämonische neutralisiert. In den ‚höheren’, ‚produktiven’ Menschen waltet die Unruhe schöpferisch fort, jeder gerät in den titanischen Kampf mit seinem Dämon, den einen gelingt mit eisernem Willen die Zähmung des Widerspenstigen, die dämonischen Naturen leben und denken stetig Unruhige, das ewig Sich – selbst – Überbietenwollen. Sie werden unzeitgemäß, ja zu Unverstandenen ihrer Zeit. Sie wehren sich gegen ‚das Erfrosten in Gewißheiten’, sie sind permanente Störer der Schläfrigkeit von Individuen und von ganzen Kulturen.
„Der Dämon kann seine Heimat, sein Element, die Unendlichkeit, nur dadurch erreichen, daß er midleidlos das Endliche, das Irdische, in dem er wohnhaft weilt zerstört: er hebt an mit der Erweiterung, aber drängt zur Zersprengung.“ii Der ältere Hegel hat anders über das Unendliche gedacht, er schien auch des Dämons Herr und nicht, wie sein Freund Hölderlin, dessen Knechtgeworden zu sein. Aber Hegel „entbehrte – so Karl Rosenkranz – des dämonischen Wesens in sich nicht, suchte es aber zur Klarheit des an und für sich seienden Begriffs zu befreien und zu läutern.“iii Hegel hat sich aus seiner Frankfurter Hypochondie herausgearbeitet, hat mit dem Meißel der Vernunft den Fels ‚Moderne’ behauen und in den ‚Be-Griff’ bekommen. Er hat seine Frankfurter Jahre (in denen er sich oft in die „Arme der Natur …, dieser treuen Mutter … flüchtet …, um bei ihr mich mit den Menschen, mit denen ich in Frieden lebe, wieder zu entzweyen, um mich unter ihrer Ägide von ihrem Einfluß zu bewahren, und einen Bund mit ihnen zu hintertreiben“iv – in sehr aufschlußreicher Weise charakterisiert als „den nächtlichen Punkt der Kontraktion seines Wesens, durch dessen Enge er hindurchgezwängt und zur Sicherheit seiner selbst befestigt worden ist,“ wodurch er „zur Sicherheit einer inneren edleren Existenz“v gelangte. Für Hegel ist dies Dämonische ‚notwendiger Durchgangspunkt’, er versuchte ‚den Gegensatz zwischen der ekstatischen Seligkeit des contemplativen Moments und der prosaischen Nüchternheit des gewöhnlichen Lebens zu überwinden’ (Karl Rosenkranz)vi Am Schicksal Hölderlins und der Romantiker hat er die Überzeugung gewonnen, daß es mehr als persönliches Unglück, nämlich ‚Unwahrheit’ und das härteste ‚Schicksal der Schicksalslosigkeit’ sei, wenn sich der Mensch in keiner Welt zu finden ‚und’ einzuhausen ‚wisse’.vii Er geht seinen Bund mit Zeit und Welt ein, im Unterschied zur ‚Unverbundenheit’ der Dämonischen.
Noch mehr aber als Hegel ist freilich Goethe das geradezu klassische Beispiel für den polaren Typus zu jener Menschenart, die dem Dämonischen verfallen ist. Er hat sowohl als Naturforscher als auch als Künstler „das Evolutive über das Eruptive gestellt und alles Gewaltsam-Krampfhafte, alles Vulkanische, kurz, alles Dämonische mit einer bei ihm seltenen und geradezu erbitterten Entschiedenheit bekämpft.“viii Und wie Hegel in Frankfurt, so muß auch Goethe „einmal Stirn an Stirn zu einer Entscheidung über Leben und Tod gegenübergestanden haben – Werther bezeugt es, in dem er Kleistens und Tassos, in dem er Hölderlin und Nietzsches Schicksal prophetisch von sich fortgebildet hat! … Er Weiß, wie es endet, wenn man sich dem Dämon hingibt, darum wehrt er sich, darum warnt er vergeblich die anderen: Goethe verbraucht ebensoviel heroische Kraft, um sich zu erhalten, wie die Dämonischen, um sich zu verschwenden. Auch ihm geht es in diesem Ringen um die höchste Freiheit: er kämpft um sein Maß gegen das Maßlose, um seine Vollendung, indes jene einzig um die Unendlichkeit.“ix
Wieder spricht Stefan Zweig von jener Unendlichkeit, die ohne Maß ist, die das Endliche ausschließt. Was hat es hinsichtlich der dämonischen Naturen wie Hölderlin, Kleist, Nietzsche, und was hinsichtlich der antidämonischen Naturen wie Goethe und Hegel auf sich mit der Unendlichkeit? Bevor wir unsere These zur Beantwortung dieser Frage aufstellen, sollen noch einige wichtige Nuancen der Zweigschen Darstellung der Polarität des dämonischen und antidämonischen Denkers – bei ‚innerster Verwandtschaft im Genius’ – angedeutet sein. Die einen stehen dem Druck des Zentrifugalen am ‚äußersten Rand des Lebens’, als Einsame, als verglühende Meteore, sie sehen die Realität als stets Unzulängliches, als Zerissenheit, die Empörung und Rebellion herausfordert. Ihre Lebensformel symbolisiert sich in der geometrischen Figur der Parabel. Bei einem anderen dominiert das Zentripetale, sie stehen in der Mitte des Lebens und zielen auf Harmonie und Selbstbeschränkung, sie versuchen die Versöhnung in die Entzweiung, der Kreis ist ihre Lebensformel.“x
Nun aber zum Versuch einer Antwort auf die Frage, aus welchem Grund sich die Heroen der europäischen Geistesgeschichte – in der neueren noch deutlicher als in der älteren – unter anderem auch in jene zwei von Stefan Zweig unterschiedenen Gattungen einordnen lassen und welche unterschiedliche Bedeutung für sie ‚Unendlichkeit’ besitzt. Die europäische Kultur ist eine zu einer bestimmten Vollkommenheit strebende Kultur, sei dies nun im Sinne der Antike oder der Neuzeit verstanden als Gestaltung einer möglichst vollkommenen Welt sowie der Bildung eines möglichst vollkommenen Menschen als Selbstzweck, oder sei es im christlichen Sinne verstanden als möglichst vollkommene Selbst- und Weltüberwindung als Mittel zur Vorbereitung des Reiches Gottes. So gleicht die europäische Kultur einer Ellipse: ihre beiden Brennpunkte bilden die traditionelle Kultur der Antike und die ihr entgegentretende Kultur des Christentums, welche in der Neuzeit in verschiedenen Formen ‚fusioniert’ werden. Es findet sich in der europäischen Geistesgeschichte der Widerstreit zwischen den Denkern, deren Thema das Werden der Versöhnung ist, das Werden der Vollkommenheit des Menschen als Versöhnung mit dem Unendlichen, und anderen, deren berechtigtes Thema das Sein der Entzweiung ist, das Sein der Unvollkommenheit des Menschen als Unversöhntheit mit dem Undenlichen. Und wie ihr Denken, so war – in aller Regel – ihr Leben.
Nietzsches Ideal war die Kultur der Antike. Sie war es in einer Ausschließlichkeit, daß er das Christentum als „das Verhängnis von Jahrtausenden“, al „bisher das größte Unglück der Menschheit“ kennzeichnete.xi Die antichristliche Hellenogenität läßt Nietzsche die antike Kultur als das Fundament des Europäertums sehen. Das Christentum versteht er als die „Religion des altgewordenen Altertums“, dieser „letzte Römerbau“ habe allerdings auch „wider seinen Willen helfen müssen, die antike Welt unsterblich zu machen.“xii Im oder mit der christlichen Kultur kam ‚antike Substanz’ in die europäische Neuzeit. Statt Jenseitsglauben und Verdüsterung der modernen Welt geht es ihm um die Wiedergewinnung des Diesseits als des ‚heiligsten Menschenlandes’.
Zwar ohne diese antichristliche Polemik, aber genau der gleichen pro-antiken, genau der gleichen pro-griechischen Begeisterung bildete auch für Hölderlin die Kultur der Griechen das Ideal, das Maß aller Dinge, das Wahre und Gute, wonach – aristotelisch gedacht – alles strebt. „Kein deutscher Dichter hat jemals so sehr an die Dichtung und ihren göttlichen Ursprung geglaubt wie Hölderlin, so sonderbar das klingt, diese zarte protestantische Pfarreraspirant aus Schwaben hat eine absolute antikische Einstellung zum Unsichtbaren, zu den Mächten, er glaubte viel gläubiger an den Vater Äther und das waltende Schicksal als seine Altersbrüder, als Novalis und Brentano an ihren Christus.“xiii – „Nicht Zufall treibt ihn gerade nach Weimar: dort sind Goethe und Schiller und Fichte und ihnen zur Seite wie die leuchtenden Trabanten um die Sonne Wieland, Herder, Jean Paul, die Schlegels, Deutschlands ganzer nektarisch einzusaugen und in dieser Agora des Geistes, in diesem Koloseum dichterischen Ringens die eigene Kraft zu erproben.“xiv
Doch wie e sauf dem Boden der europäischen Kultur nicht anders sein kann, fordert und gewinnt auch der zweite Brennpunkt der Ellipse sein Recht – das Christentum. Stefan Zweig hat Novalis und Brentano als die deutschen Antipoden nahmhaft gemacht, das große europäische Gegengewicht zu Friedrich Nietzsche aber, das ebenso ausschließliche Geltendmachen des Christlichen (und zwar des ‚reinen’ und ‚ursprünglichen’ Christentums) als den einzig wahren Dreh – Angelpunkt der europäischen Kultur, als einzig wahres Ideal – die verkörpert freilich der Däne Sören Kirkegaard. “…der eine ist Christ, der andere ist ‚Anti-Christ’; der eine will das Christentum erneuern, der andere will es vernichten; der eine erreichte eine Philosophie aus dem Grundverhältnis zur Transzendenz, der andere aber aus der unbedingten treue zur Erde.“xv Und doch: „Die Verwandtschaft zwischen Kierkegaard und Nietzsche ist so auffallend, daß Georg Brandes seinen Freund Nietzsche auf die Schriften Kierkegaards aufmerksam gemacht hat.“ Beide kämpfen „für das Recht des einzelnen, konkreten und geschichtlichen Menschen; beide sind leidenschaftliche Gegner der Masse; beide sind scharfe Kritiker ihres Zeitalters; beide sind Künstler; beide sind kranke Menschen, die schließlich an ihrer Aufgabe zerbrochen sind.“xvi
Alle Merkmale die Stefan Zweig, den dämonischen Naturen zuschreibt, treffen auf Kierkegaard zu: ‚all diese dämonischen Menschen also dichten, denken und leben, erleben und erleiden wesentlich die Entzweiung, die Kluft zwischen der Vollkommenheit ihres Ideals und der Unvollkommenheit ihrer Wirklichkeit. Aber selbst wenn ‚das Dämonische auch am äußersten Rande des Lebens steht und sich schon darüber hinausbeugt ins Unbetretbare und Unbetretene, so ist es doch immanente Substanz des Menschlichen“.xvii Das Thema der anti-dämonischen Natur ist gleichsam die andere Seite der Medaille, eben eine Zeit werdende Versöhnung der Wirklichkeit mit dem Ideal. Letzterres darf nicht in dieser Polarität und Ausschließlichkeit – ‚reines’ Christentum contra ‚reines’ Griechentum – gedacht sein, sondern es muß selbst schon als synthetisches, als eine Vereinigung gesehen werden. Der ältere Hegel (der junge Hegel stand eine Zeitlang dem Griechentum nicht minder da und dem Christentum nicht minder fern wie sein Jugendfreund Hölderlin) ist ein Meister solchen Denkens. Er ist es so sehr das a) sein Verständnis der Kultur Europas hinsichtlich ihrer Struktur gar nicht durch eine Ellipse versinnbildlicht werden kann. Vielmehr gleicht die Hegelisch gedachte einem Kreis, dessen alleiniger Mittelpunkt nicht ‚Antike’ und auch nicht ’Christentum’, sondern ‚Vernunft’ heißt; und b) kann sein Verständnis der Kultur Europas hinsichtlich annähern ohne sie je zu erreichend, versinnbildlicht werden. Vielmehr ist es bei Hegel so, daß die an sich seiende Vernunft, aus dem Orient kommend, wo nur einer sich als frei wußte, in der antiken Welt für sich seiend im Sich-frei-Wissen Einiger und schließlich in der germanischen Welt auf dem Boden der Idee des Christentums im Sich-frei-Wissen Aller an und für sich seiende Realität gewinnt.
Aber auch die dämonischen Naturen hätten unsere Gleichnisse zurückgewiesen, weil auch sie nicht zwei Brennpunkte, sondern nur einen nur einen Mittelpunkt der europäischen Kultur anerkannten weil sie im Verlauf der Menschheitsgeschichte gerade keine Annäherung an ihr Ideal, sondern vielmehr Abfall von demselben konstatierten. Wir haben dieses Gleichnisse bewußt gegen eine jede dieser Gattungen als jeweils besonderen, nur einen Teil eines kulturellen Ganzen repräsentierend, gewählt, um damit die tiefere Wahrheit dieses Ganzen aufzuhellen.
Doch zurück zu den antidemonischen Gedanken. Es kommt überhaupt nicht auf den relativ unerheblichen Unterschied etwa zwischen Kant und Hegel hinsichtlich der Bewertung des unendlichen Progresses an, sondern auf die Kontraposition, die beiden gleichermaßen gegenüber der anderen Fraktion darstellen. Wie nämlich Kant der Meinung war, daß sich die Geschichte der Menschheit als beständiges Fortschreiten zum Besseren deuten läßt, so galt für Hegel die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Geschichte wird als Geschichte der Menschheit und ihres Sich-Annäherns (oder Sich-Vereinigens) an das (mit dem) Ideal verstanden; das Endliche wird als ‚aufgehend’, als sich-aufhebend im Unendlichen, begriffen. „Es ist die Natur des Endlichen selbst über sich hinauszugehen, seine Negation zu negieren und unendlich zu werden“.xviii
Nietzsche und Kierkegaard hingegen philosophieren ausgehend von der je eigenen Existenz des Individuums und seiner Unterschiedenheit vom Ideal der Freiheit und Vollkommenheit.
Sie behaupten das Recht, ja die Pflicht der Unaufhebbarkeit und Unauflösbarkeit je eigener existentieller Endlichkeit als Bedingung einer Vereinigung mit dem, was für sie das Ideal, die Freiheit, die Vollkommenheit, das Unendliche bedeutet. So kommt es bei ihnen zu einer Umwertung der Werte vor Endlichkeit und Unendlichkeit. Hegel hatte in seiner Kritik an perennierenden Sollen und am unendlichen Progreß im Denker Kants bemerkt: “Diese Unerreichbarkeit“ (des Unendlicher durch das Endliche)“ ist aber nicht seine Hoheit, sondern sein Mangel, welcher seinen letzten Grund darin hat, daß das Endliche als solches seiend festgehalten wird.“xix Kierkegaard und Nietzsche setzen dem de facto entgegen: ‘Das das Endliche als solches seiend festgehalten wird, ist nicht sein Mangel, sondern seine Hoheit. Darin allein besteht die Bedingung der Erreichbarkeit des Unendlichen.‘ Es war dies auch der Versuch einer Rettung der Kultur Europas, deren Krise von Nietzsches ‘weiterdenkendem Blick’ gesehen wurde, er hat “die Gewalt des kommenden Kataklysmas unserer Kultur vorausgefühlt“, die “entsetzliche Katastrophe unserer Kultur verkündet“.xx In der Gegenwart Ihrer Welt, in dieser geschichtlichen Endlichkeit, wurde nicht wie von Hegel jene gelungene Synthese aus antiker Rationalität und christlichem Glauben an die Gleichheit – in Folge gleicher Gottesebenbildlichkeit — aller Menschen erkannt, einer Fusion, woraus die moderne bürgerliche Rechtsordnung als Garant der Freiheit Aller, des Aufgehobenseins alles Endlichen im Unendlichen hervorgegangen wäre – sie sahen demgegenüber weit eher wie der von Nietzsche so außerordentlich geschätzte Heinrich Heine in ihrer Gegenwart nichts anderes als ein „Zwitterwesen“.
„Von jenem Gamaschenrittertum,
das ekelhaft ein Gemisch ist,
Von gothischem Wahn und modernen Lug,
Das weder Fleisch noch Fisch ist.“xxi
Die Moderne ist eben nicht verwirklichtes Christentum und ebenso nicht realisiertes Griechentum. War daher Kierkegaards ‘Fort mit den zweitausend Jahren‘ und zurück zum reinen, ursprünglichen Christentum schon eine kräftige und deftige Provokation für das Publikum, so war Nietzsches ‘Fort mit dem Christentum überhaupt!‘ eine ungeheure. Aber beider Philosophieren war nichts als eine Antwort an den an sie in tiefster Eindringlichkeit ergangenen Aufruf: “lhr sollt vollkommen sein!“ Jedoch es war in ihrem Falle eben der ‘Dämon‘, der sie da an-rief (‚Achsenzeit’ hat Karl Jaspers gesagt) entsprungenen, reinen und unvermischten, einem Punkt auf dem tiefsten Grund menschlicher Existenz berührenden und den Menschen bis an die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten herausfordernden Moral, ein Anspruchs der aber einen Menschen der Moderne (einen ‘Spätgeborenen‘ hat Martin Heidegger gesagt) erreicht, ergreift und in den Bann zwingt. Goethe und Hegel sind ihm in ihrer Jugend mit knapper Not, aber auf Dauer, entkommen; Hölderlin und Kleist, Kierkegaard und Nietzsche nicht. Kant – der ‘Königsberger Chinese‘ – stand Zeit sein Lebens wohl nicht nie in Gefahr, ihm zu erliegen. Die Heroren beider Fraktionen verspotten den Philister , welcher ihm weis machen möchte, es sei
„… ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzten,
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht.“xxii
Sie würden dann mit dem bitteren Sarkasmus Fausts antworten: „O ja, bis an die Sterne weit!“xxiii
Aber die Differenz tut sieh im Verständnis von Wahrheit auf. Die einen sind die zielstrebig-klardenkenden Weltenforscher und-ent-decker, die mit logischer Stringenz und ausgeprägte Ordnungswillen eine klarkonturierte ‘Land und Seekarte‘ des Seins entwerfen; mit den anderen; besonders mit Nietzsche aber „erscheint die schwarze Freibeuterflagge des Piraten zum erstenmal auf den Meeren der deutschen Erkenntnis“xxiv, Nietzsches Leidenschaft zur Erkenntnis kommt aus der ‚antipodischen Welt des Gefühls‘. “Seine Einstellung zur Wahrheit ist eine durchaus dämonische, eine zitternde, atemheiße, nervengejagte, neugierige Lust, die sich nie befriedigt und nie erschöpft“.xxv Dies ist der Weltbezug des Künstlers, der unaufhörlich neue Schöpfungen versucht, ‚im Übergefühl des Daseins‘ neue Formen zu gewinnen trachtet‚ sich selbst stets überbieten wollend. Die Kunst allein vertrieb Nietzsche als Refugium, nachdem er alle anderen Götter verstoßen hatte, bleibt “sein Nektar und Ambrosia, das die Seele erfrischt und ewig verjüngt:“xxvi Mit dieser Stellung zur Wahrheit und Kunst wird die Faszination für Nietzsches seitens vieler Künstler des 20. Jahrhunderts verständlich. Wahrscheinlich bleibt es “ein Wortirrtum, Nietzsche einen Philosophen, also einen Freund der Weisheit, zu nennen … Er ‚bracht und verbraucht’ Überzeugungen, wirft wieder weg, was er gewinnt, und wäre darum besser ein Philaleth genannt, ein leidenschaftlicher Passionierter der Aletheia … Wahrheit, wie Nietzsche sie versteht, ist eben keine starre, keine kristalline Form der Wahrheit, sondern der feurig glühende Wille zum Wahnsinn und Wahrbleiben, eine Lebenserfüllung im Sinne der höchsten Fülle“xxvii.
Stefan Zweig aber hat wahrscheinlich recht, wenn er erkennen läßt, daß beide Typen, Dämonische und Anti-Dämonische, gleichermaßen wichtig, legitimiert und unentbehrlich für die Selbsterkenntnis des heutigen Menschen sind. Vielleicht bilden sie sogar die entscheidenden Brennpunkte der Ellipse, aus denen die Kultur unserer heutigen Zeit wesentlich lebt. “Es ist das Leben gleichsam auf dem Grat,“ so Karl Jaspers, “von dem ich abstürze entweder in den bloßen Betrieb oder in ein wirklichkeitsloses Dasein. neben dem Betrieb.“xxviii Die undämonischen Naturen stehen in der Gefahr, in den reinen Betrieb; die dämonischen stehen in der Gefahr, in ein wirklichkeitsloses Dasein hinabzufallen.
Ohne den Hiatus zwischen beiden Denkungsarten überwinden zu können und zu wollen, wäre das Voranbringen des Gesprächs der jeweiligen Vertreter sicher von Gewicht, gerade da wo heute manche Stärken wie manche Schwächen der europäischen Kultur deutlich hervortreten.
i Stefan Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin – Kleist – Nietzsche. Frankfurt a.M. 1983, S. 11.
ii Ebenda. S. 12.
iii K. Rosenkranz, Aus Hegels Leben. In: C. Jamme/ H. Schneider, Der Weg zum System. Frankfurt 1990, S. 61.
iv G.W. Hegel. Brief an Nanette Endel. Zitiert nach: F. Rosenzweig, Hegel und der Staat. München und Berlin 1920, S. 73.
v Ebenda, S. 102.
vi K. Rosenkranz, Aus Hegels Leben, A.a.O., S. 61.
vii K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Stuttgart 1950, S. 180.
viii St. Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. A.a.O. S. 15.
ix Ebenda, S. 16.
x Ebenda, S. 19-22.
xi F. Nietzsche , Der Antichrist. In: F. Nietzsche, Werke in drei Bänden. Bd. 2. München 1977, S. 1218.
xii Ders., Menschliches, Allzumenschliches. In: Werke in drei Bänden. A.a.O. Bd. 1. S. 824; ders., Die fröhliche Wissenschaft. In: Werke in drei Bänden. A.a.O. Bd. 2. S. 230; ders. Menschliches, Allzumenschliches. A.a.O. S. 825.
xiii St. Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. A.a.O. S. 50
xiv Ebenda, S. 69.
xv J. Fischl., Idealismus, Realismus und Existentialismus in der Gegenwart. Graz Wien Köln 1954, S. 255.
xvi Ebenda, S. 255.
xvii St. Zweig, der Kampf mit dem Dämon. A.a.O. S. 23.
xviii G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Berlin 1975. S. 126.
xix Ebenda, S. 138.
xx St. Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. A.a.O. S. 284.
xxi H. Heine, Deutschland – Ein Wintermärchen. In: H. Heine Werke in fünf Bänden. Zweiter Band. Berlin und Weimar 1978. S. 133.
xxii J.W. Goethe, Faust. Gesamtausgabe. Leipzig 1969. S. 149.
xxiii Ebenda, S. 149.
xxiv St. Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. A.a.O. 232.
xxv Ebenda, S. 272.
xxvi Ebenda, S. 268.
xxvii Ebenda, S. 240.
xxviii K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit. Berlin 1949. S. 201.
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