Mit „Grazin“ beginnt ein litauischer Familienname, der Salzburgs kulturelles Geschehen am 2. März-Wochenende bestimmte. Romualdas Grazinis ist Chorleiter, seine Frau Sigute Graziniene Kochkünstlerin und beider Tochter, Mirga Grazinyte-Tyla, seit 2014 Chefdirigentin und Musikdirektorin des Salzburger Landestheaters. Bevor sie Salzburg, wo sie 2012 den Festival Young Conductors Award gewann, verlässt und einerseits nach Birmingham, andererseits nach Los Angeles zu neuen ehrenvollen Aufgaben entfleucht, hat sie an ihrer österreichischen Wirkungsstätte nochmal richtig aufgedreht. Der Vorfrühling mit klarer Luft und warmer Sonne kam ihr entgegen – und macht ihr vielleicht den Abschied von Salzburg ein bisschen schwer. Insgeheim hoffen es womöglich ihre Fans …
Im Orchesterhaus des Mozarteums versammelte Mirga Grazinyte-Tyla Solisten, Top-Instrumentalisten (u. a. Pianistin Ayala Rosenbaum, Geiger Frank Stadler), den von Wolfgang Götz einstudierten Salzburger Theater- und Festspiele-Kinderchor und den Chor „Bunte Steine“ (Leitung: Katharina Wincor) zu einer zweistündigen Sonntagsmatinee um sich. Ja, sie war, lachend und zu Scherzen aufgelegt, der (s. Foto, singende) Mittelpunkt ihres populären Konzertkonzepts, das, unter der kompetent lässigen Leitung des Herrn Vaters, ihr Heimatland in folkloristischen Farben flackern ließ, mit Volksliedbearbeitungen baltischer Dichter. Darunter war, vor der Märchenoper „Der Knochengreis vom Eiseren Berg“ (leider ohne Übertitel), der Sonnengesang des hl. Franz von Assisi aus der Feder einer Tante von Frau Graziniene. Diese lud anschließend zu litauischen Köstlichkeiten im Rahmen des Kulinarik-Festivals „eat & meet“: kalte Kefirsuppe, topfengefüllte Erdäpfelknödel und die „fließende Praline“ Kisielius, ein herbsüßes Getränk aus Preiselbeeren und Schokolade.
So eine „fließende Praline“ verabreichte Mirga Grazinyte-Tyla am Abend vor dem Vokal-Fest im Haus für Mozart: Giacomo Puccinis Oper „la Bohème“. Die Dirigentin leitete sie letztmals, die Serie bringt Erster Kapellmeister Adrian Kelly am 17., 19. und 22. März zu Ende. Leicht wird er`s nicht haben, seiner Vorgängerin in Verve und Mut zu bald exzessivem, bald edlem Puccini-Sound und funkelnder Schwerelosigkeit der geradezu neu aufgeschlagenen Partitur aus Torre del Lago ohne jede Larmoyanz zu folgen. Andreas Gergen, Operndirektor des Landestheaters, gelang mit den Rieselschnee- und Eisblumen-Videos von „fettFilm“ und den abgedrehten Klamotten der Designerin Regina Schill ein fabulöses Regie- und Ausstattungs-Wunder nostalgiesatter Dennoch-Modernität. Wo erlebt man schon ein „echt“ jugendfrisches, sexy Ensemble, das Spielfreude mit Erste-Sahne-Gesangs-Qualität kombiniert und das Arme-Künstler-Rührstück neu ausdeutete – ohne Pariser Dachstübchen-Enge, dafür mit knalligem Disco-Dancing-Beat und Rausschmeißer-Nightclub-Milieu, kunterbuntem Quartier-Latin-Gewimmel mit Chor-Trauerzug und munterem Spielzeugverteiler-Parpignol (Franz Supper). Mimi, die mal nicht dauerhüsteln, auch nicht auf dem Mansarde-Sofa, sondern im Hinterhof mit Wendeltreppe ihr junges Leben aushauchen musste, sang und spielte bewegend: Shelley Jackson. Musetta (Hailey Clark) bezauberte auf gutherzig-hysterische Weise, mit satten Koloraturen. Das Freundesquartett (kerniger Rodolfo: Luciano Ganci, prachtvoller Marcello: David Pershall, schwul-lustiger Elliott Carlton Hines, gesetzter Colline: Raimundas Juzuitis) hätte in seiner Unterschiedlichkeit gar nicht treffender ausgesucht sein können. Gergen zeigte mit seiner Techno-gespickten „Bohème“-Version: Puccini-Sacharin passt auf 2017-er Coolness und vice versa. Ohne Preiselbeeren, weiß Madame Graziniene, gerät Kisielius zu zuckrig.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.