Wolfgang Herrndorf – zum 10. Todestag eines Klassikers des 21. Jahrhunderts

herbstblumen blumenstrauß gerbera herbstfarben, Quelle: congerdesign, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig https://pixabay.com/de/photos/herbstblumen-blumenstrau%C3%9F-gerbera-1721896/

Vor zehn Jahren ist Wolfgang Herrndorf gestorben. Er war an einem unheilbaren Hirntumor (Glioblastom) erkrankt und ist durch einen Suizid seinem Krebstod zuvorgekommen. Wie lange geplant, hat er sich am 26. August 2013 am Ufer des Hohenzollernkanals in Berlin unweit seiner Wohnung durch einen Kopfschuss das Leben genommen. Er hatte nur etwas mehr als zehn Jahre, um sein umfangreiches literarisches Werk zu schaffen. Mit der Krebsdiagnose und dem Wissen um seinen baldigen Tod schrieb er wie in einem fieberhaften Wettlauf gegen den Tod an. Er steht damit in einer Reihe mit anderen erfolgreichen Schriftstellern, die ebenfalls jung gestorben sind und denen nur etwa ein Jahrzehnt zum Schreiben blieb – Heinrich von Kleist, Georg Büchner und Albert Camus.

Alle vier genannten und berühmt gewordenen Schriftsteller starben jung. Georg Büchner starb mit 23 Jahren an Typhus, Heinrich von Kleist suizidierte sich mit 34 Jahren durch einen Kopfschuss, Albert Camus starb mit 46 Jahren an einem Autounfall. Wolfgang Herrndorf erschoss sich mit 48 Jahren – wie Heinrich von Kleist – durch Kopfschuss, in Berlin, am Ufer eines Gewässers, Kleist am Wannsee, Herrndorf am Hohenzollernkanal.

Wolfgang Herrndorf hat sich relativ spät ganz dem literarischen Schaffen gewidmet, obwohl er bereits als Jugendlicher Gedichte schrieb. Er studierte zuerst Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Eine Zeitlang machte er Illustrationen und verfasste Texte für die Satirezeitschrift „Titanic“. Er war schon 37 Jahre alt, als er im Jahr 2002 seinen Debütroman „In Plüschgewittern“ veröffentlichte. Sein Erfolgsroman „Tschick“ erschien im Jahr 2010. Er wurde zum Welt-Bestseller und ist in fast 40 Sprachen übersetzt worden.

Warum Wolfgang Herrndorf so aktuell und bedeutend ist

Die große aktuelle Bedeutung von Wolfgang Herrndorf liegt natürlich in erster Linie in seinem schriftstellerischen Erfolg. Er wurde schnell zu Bestseller-Autor und von seinen Werken wurden zahlreiche Versionen dem Publikum präsentiert. Der Erfolgsroman „Tschick“ wurde ebenso ein Bühnenerfolg als Theaterstück. Er erschien als Hörbuch und wurde verfilmt. Im Jahr 2017 wurde sogar eine Opernversion uraufgeführt. Vom Roman „Tschick“ wurden mehr als 3,7 Millionen Exemplare in Deutschland verkauft, meldete der Rowohlt-Verlag. Damit ist Herrndorfs Roman in den letzten zehn Jahren der meistverkaufte Roman in Deutschland. Die Taschenbuchausgabe ist derzeit in der 98. Auflage lieferbar. Bereits 2011 wurde am Staatsschauspiel in Dresden eine Bühnenfassung von „Tschick“ uraufgeführt. In der Theatersaison 2012/2013 war Tschick mit 29 Inszenierungen und 764 Aufführungen das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen (dpa-Meldung vom 28. August 2023). So wurde Wolfgang Herrndorf schnell zu einem modernen Klassiker. Im Jahr 2015 krönte der Rowohlt-Verlag seinen schriftstellerischen Erfolg mit einer Gesamtausgabe. Diese erschien zu seinem 50. Geburtstag. Welchem Schriftsteller der Gegenwart wurde diese Ehre so frühzeitig zuteil?

Zum 10. Todestag erschien eine ausführliche Biographie über Wolfgang Herrndorf von dem FAZ-Redakteur Tobias Rüther. Diese wurde in den großen deutschsprachigen Zeitungen sehr positiv besprochen (Jandl 2023, Eichel 2023). Rüther war der Erste, der im Deutschen Literaturarchiv im Marbach den Nachlass von Wolfgang Herrndorf nach Einwilligung der Erben einsehen durfte. Rüther hat zu Lebzeiten den Schriftsteller nie persönlich kennengelernt und hat mit großer Akribie und Geschick diese Biographie nach gründlicher Recherche geschrieben. Er hält Herrndorf für „den größten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation“ (Rüther 2023).

Über den Ruhm als Schriftsteller hinaus hatte zusätzlich der Suizid von Wolfgang Herrndorf einen prägenden Einfluss auf die Suizid- und auf die Sterbehilfe-Diskussion Deutschlands.

Wolfgang Herrndorf als Klassiker der Suizid-Literatur

Wolfgang Herrndorf gilt als Vorbild für unheilbar Krebskranke, die nicht qualvoll bis zum Ende leiden wollen. Sein Suizid darf als „letzter Ausweg vor dem Krebstod“ gewürdigt werden (Csef 2014, 2022). Im März 2010 wurde bei ihm der Hirntumor diagnostiziert. Von diesem Zeitpunkt an schrieb er fast täglich einen Internet-Blog als eine Art eines digitalen Krebs-Tagebuches. So ließ er seine Freunde und auch die Öffentlichkeit an seinem Krankheitsverlauf teilhaben. Seinen Internet-Blog nannte er „Arbeit und Struktur“. Dieser erschien posthum im Dezember 2013 als Buch im Rowohlt-Verlag. Seine Leidens- und Passionsgeschichte, sein Krankheitserleben und die Begegnungen mit den Ärzten beschrieb er darin ausführlich. Das Buch widmete er den 22 Ärzten, die ihn in dieser Zeit behandelt haben und die am Ende des Buches aufgezählt werden. Im September 2011 hat er sich bereits einen Revolver beschafft und schrieb darüber im Tagebuch: „Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt.“ Im Juli 2013 verschlimmerten sich seine vielgestaltigen Symptome. Er taumelte, hatte Geh- und Gleichgewichtsstörungen, stürzte und verletzte sich. Er ahnte, dass sein Ende naht. Die Prognosen seiner Ärzte waren düster und schlecht. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, um den Suizid wie geplant überhaupt noch durchführen zu können. Einen Monat später beendete er seinen Leidensweg mit einem Kopfschuss.

Zehn Jahre später ist die Lage für unheilbar Krebskranke weiterhin unbefriedigend. Die Sterbehilfe-Diskussion ist in Deutschland seit Jahrzehnten virulent und ungelöst. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 das bisherige Sterbehilfegesetz für ungültig erklärt und den Deutschen Bundestag aufgefordert, ein neues Gesetz zu erlassen, dass dem Prinzip des selbstbestimmten Sterbens mehr gerecht wird. Wolfgang Herrndorf war mit seinem Suizid seiner Zeit voraus. Seit seinem Tod beziehen sich die meisten Publikationen zum Suizid, zur Sterbehilfe oder zur Exit-Literatur auf Wolfgang Herrndorf. Er zählt zu den Protagonisten wie Jean Amery oder Fritz J. Raddatz. Deren Suizid war ebenfalls lange öffentlich angekündigt und beide waren erfolgreiche Schriftsteller. Der Suizid-Experte, Psychiater und Philosoph Matthias Bormuth zählt Herrndorf zu den „Klassikern der Suizid-Literatur“. In seinem Buch „Die Freiheit zum Tode. Versuch über Wolfgang Herrndorf“ würdigt er dessen persönliche Form des selbstbestimmten Sterbens (Bormuth 2021).

Der Todgeweihte in seinem Ringen um die Hoffnung 

Wolfgang Herrndorf hatte wohl eine unbeschwerte Kindheit. Nach Paul Jandl (2023) hatte er „segensreich antiautoritäre Eltern“ und er war wie ein „Wunderkind“, dem fast alles gelang – Zeichnen, Gedichte schreiben, gute Freunde finden. Er wird von Freunden und von seinem Biographen Tobias Rüther als sehr humorvoll, oft heiter beschrieben. Optimismus und Hoffnung waren ihm also nicht fremd und auch nach seiner infausten Krebsprognose rang er bis zuletzt um Hoffnung und schrieb an gegen den Krebs – hat ihm noch drei wichtige Werke abgerungen. Ulrich Rüdenauer (2013) hob in seinem Nachruf hervor, dass er trotz aller Sinnlosigkeit nach Hoffnungen gesucht und sie teilweise gefunden hat. Er sagte: „Mit der Diagnose leben geht, Leben ohne Hoffnung nicht.“

In seinem Erfolgsroman „Tschick“ ist die Grundmelodie immer wieder von Optimismus, Hoffnung, Unbeschwertheit und Humor durchzogen. Der Ich-Erzähler Maik Klingenberg zieht am Ende des Romans das folgende Resümee:

„Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten kuckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“

Literatur

Amery, Jean, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Klett, Stuttgart 1976

Bormuth, Matthias, Die Freiheit zum Tode. Versuch über Wolfgang Herrndorf. Wallstein, Göttingen 2021

Csef, Herbert, Suizid als letzter Ausweg vor dem Krebstod. Die Botschaft des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf. Suizidprophylaxe 41 (2014) 148 – 153

Csef, Herbert, Suizid als letzter Ausweg vor dem Krebstod. Die Botschaft des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf. In: Csef, Herbert, Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer Verlag, Regensburg, 2022, S. 23 – 34

Dpa (Deutsche Presse Agentur), Herrndorf zehn Jahre tot: Millionen Mal „Tschick“. Frankfurter Rundschau vom 28. August 2023

Eichel, Florian, Ganz groß. Als Autor war Wolfgang Herrndorf schon vor seinem frühen Tod 2013 eine Legende. Die Zeit vom 24. August 2023, Seite 50

Herrndorf, Wolfgang, Gesamtausgabe in drei Bänden. Rowohlt, Reinbek 2015

Jandl, Paul, Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf schrieb sein literarisches Werk im Wettlauf gegen einen Hirntumor. Neue Zürcher Zeitung vom 29. August 2023

Rüdenauer, Ulrich, Vom „Gefühl der Sinnlosigkeit“ überrannt. Ein Nachruf auf den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. Deutschlandradio vom 27. August 2013

Rüther, Tobias, Herrndorf. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2023

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

 

Finanzen

Über Herbert Csef 149 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.