Terézia Mora – die preisgekrönte Schriftstellerin und ihre Entwicklungsromane

Die in Berlin lebende Terézia Mora ist eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen im 21. Jahrhundert

Muna oder Die Hälfte des Lebens -: Roman - Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

Die in Berlin lebende Terézia Mora ist eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen im 21. Jahrhundert. Für alle ihrer fünf Romane hat sie angesehene Literaturpreise erhalten. Der Ingeborg-Bachmann-Preis wurde ihr im Jahr 1999 für ihren ErzählungDer Fall Ophelia“ verliehen, die im selben Jahr im Band „Seltsame Materie“ erschienen ist. Es folgten der Deutsche Buchpreis (2013) und der Georg-Büchner-Preis (2018). Ihr neuer Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ wurde  erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert. Berühmt geworden ist sie in der deutschsprachigen Literaturwelt durch ihre fünf Romane, die alle als umfangreiche Entwicklungsromane ihrer Protagonisten konzipiert sind. Mora hat ihre Romane in mehreren Interviews als Entwicklungs- und Beziehungsromane beschrieben. Die Romanhandlung bezieht sich meist auf wenige Personen und stellt deren langfristige Lebensentwicklung dar. Der Entwicklungsaspekt ist für sie zentral. Ihre Protagonisten werden im langfristigen Prozess ihrer kontinuierlichen Veränderung beschrieben. Neben ihren fünf Romanen hat sie weiterhin mehrere Bände mit Erzählungen geschrieben, sowie das Tage- und Arbeitsbuch „Fleckenverlauf“ (2021). Terézia Mora ist nicht nur als Schriftstellerin erfolgreich. Sie ist auch Drehbuchautorin und Übersetzerin. Da sie zweisprachig in Ungarn aufgewachsen ist, hat sie die Werke wichtige zeitgenössischer ungarischer Schriftsteller ins Deutsche übersetzt.

Kurzes biographisches Porträt

Terézia Mora wurde am 5. Februar 1971 in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze geboren und ist in einem kleinen Dorf der Umgebung aufgewachsen. Ihre Familie gehörte zur deutschsprachigen Minderheit und wurde deshalb diskriminiert. Die Symbole „k.u.k“ bedeuteten in ihrem Leben Kommunismus und Katholizismus. Beide Machtsysteme erlebte sie in ihrer Kindheit und im Jugendalter als autoritär und repressiv. In der Schule war sie regelmäßig die Klassenbeste. Beim Übertritt aufs Gymnasium beurteilte sie ihre Lehrerin als stolz und selbstbewusst. Das war in der damaligen Umgebung kein Lob, sondern eine Kritik. Sie wuchs zweisprachig auf und plante schon frühzeitig, Ungarn zu verlassen, sobald dies möglich sein sollte. Im Jahr 1990 ging sie nach Berlin, um dort Hungarologie und Theaterwissenschaft zu studieren. Zusätzlich ließ sie sich an der Deutschen Film- und Fernsehakademie zur Drehbuchautorin ausbilden. Sie schrieb einige Drehbücher, doch die Filmbranche war nicht ihr Metier. Seit 1998 ist sie freie Schriftstellerin. Sie ist mit einem IT-Spezialisten verheiratet und hat eine Tochter. Als Europäerin hat sie sowohl die deutsche als auch die ungarische Staatsbürgerschaft.

Der Debüt-Roman „Alle Tage“ (2004) erhielt vier Literaturpreise

Ihr Roman-Debüt „Alle Tage“ beschreibt den Flüchtling Abel Nema, der im Westen eine neue Existenz aufbauen will. Er erlebt Höhen und Tiefen, versucht sich als Lehrer, lebt eine Zeitlang als Landstreicher und heiratet schließlich. Der Buchtitel „Alle Tage“ geht auf ein gleichnamiges Gedicht von Ingeborg Bachmann zurück. Dessen prägnante Verse lauten:

„Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt.

Das Unerhörte ist alltäglich geworden.

Der Held bleibt den Kämpfern fern.

Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt…“

Der Protagonist des Romans floh ebenfalls vor dem Krieg. Er findet sich in einer anderen Welt und fühlt sich wie ein Fremder, der heimatlos wurde und keine neue Heimat gefunden hat. Am Ende des Romans ist er sehr verzweifelt.

Für den Roman „Alle Tage“ hat Terézia Mora vier Literaturpreise erhalten – den Preis der Leipziger Buchmesse, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste, den Mara-Cassens-Preis Hamburg und den Preis der Literatour Nord.

Die Roman-Trilogie über Darius Kopp – „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009), „Das Ungeheuer“ (2013) und „Auf dem Seil“ (2019)

Mehr als zehn Jahre hat Terézia Mora an ihrer Roman-Trilogie über Darius Kopp geschrieben. Die drei Bände haben insgesamt einen Umfang von fast 1500 Seiten, wobei der zweite Band „Das Ungeheuer“ mit 688 Seiten am umfangreichsten ist. Im ersten Band wird der Protagonist der Trilogie ausführlich vorgestellt: dazu wird eine Woche seines Lebens im September 2008 in Berlin minutiös beschrieben. Darius Kopp ist etwa vierzig Jahre alt, stammt aus der ehemaligen DDR, ist IT-Spezialist bei einer amerikanischen Internet-Firma und ist mit der Ungarin Flora verheiratet. Er ist übergewichtig, schwitzt viel und schlägt oft seine Zeit mit ziellosem Surfen im Internet tot. Ehrgeizig ist er nicht, eher bescheiden und anspruchslos. Männerfreundschaften und Biertrinken verschaffen ihm ebenso Ablenkung wie sein Handy, in dem Tausende von Nummern von Kontaktpersonen gespeichert sind, mit denen er gar keinen lebendigen Kontakt hat. Die Ehe ist kinderlos geblieben und er lebt mit Flora so nebenher, obwohl sie ihn im Alltag durchaus erheblich unterstützt. Er lässt sich gerne helfen und manche halten ihn für einen Faulenzer. Er ist ein typischer Anti-Held der New Economy. Wegen seiner Korpulenz und Faulheit wurde er wiederholt mit der Figur Oblomow aus dem Roman von Gontscharow verglichen. Am Ende des ersten Bandes taucht die Frage auf, ob die Firma seines amerikanischen Arbeitgebers überhaupt noch existiert.

Im zweiten Band „Das Ungeheuer“ ist alles anders. Kopp hat seinen Job verloren, ist arbeitslos und seine Ehefrau Flora hat sich im Wald erhängt. Er hat alles verloren und steht hilflos da mit der Asche seiner Frau, für die er eine letzte Ruhestätte sucht. Planlos fährt er nach Osteuropa, denn vielleicht könnte in ihrem Heimatland Ungarn die Asche ihren Platz finden. Mit auf der Reise hat er das Tagebuch seiner Frau Flora. Sie litt erheblich unter Depressionen, für die der Romantitel symbolisch steht. Die Depression als Ungeheuer, von dem er wenig wahrgenommen hat, so dass der Suizid seiner Frau für ihn sehr überraschend kam. Der zweite Romanband spielt auf zwei Ebenen: die Reise von Darius Kopp und seine Erlebnisse und das Tagebuch von Flora und ihre Aufzeichnungen und Botschaften auf ihrem Laptop. Formal sind die beiden Ebenen geschickt durch einen Strich auf jeder Buchseite getrennt – oben die aktuellen Ereignisse der Reise – unten die Nachrichten von Flora aus der Unterwelt der Toten.  Für den Roman „Das Ungeheuer“ erhielt die Autorin den angesehenen Deutschen Buchpreis.

Im dritten Band der Trilogie mit dem Titel „Auf dem Seil“ ist Darius Kopp die Asche seiner Frau immer noch nicht losgeworden. Mittlerweile sind mehr als drei Jahre vergangen und er reist nach Sizilien. Dort trifft er zufällig seine 17 Jahre alte Nichte Lorelei, die ebenfalls wie er alleine unterwegs ist und schwanger ist. Er spürt in sich Verantwortung für die hilfsbedürftige Nichte und sie reisen von nun an gemeinsam. Die Asche von Flora verstreut er auf dem Vulkan Ätna auf Sizilien. Darius und Lorelei kehren gemeinsam nach Berlin zurück und Darius ordnet sein Leben dort neu. Er fügt sich in das, was er im ersten Band vermieden hat: die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, das Sich-Bewähren in der harten Realität. Er sucht eine Wohnung, bezahlt seine Schulden und sucht einen neuen Job. Nach all dem Scheitern der letzten Jahre also ein gewisses Happy-End.

oder Die Hälfte des Lebens“ (2023)

In den ersten vier Erfolgsromanen erzählte Terézia Mora jeweils von einer männlichen Hauptfigur. Frauen wie Flora spielten eine Nebenrolle und verschwanden bald. Als dasTage- und Arbeitsbuch „Fleckenverlauf“ der Autorin im Jahr 2021 erschien, war sie gerade 50 Jahre alt. Dort kündigte sie an, dass sie jetzt über eine weibliche Roman-Trilogie schreiben wolle mit weiblichen Protagonistinnen. Weibliche Hauptfigur im ersten Band ist die 18 Jahre alte Muna Appelius. Sie ist in der fiktiven DDR-Stadt Jürisaufgewachsen und steht kurz vor dem Abitur. Ihr Vater ist frühzeitig an Lungenkrebs gestorben, ihre Mutter war Schauspielerin und ist dem Alkohol verfallen. Der Roman beginnt damit, dass die Mutter einen Suizidversuch unternimmt und mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren wird. Muna will Redakteurin und Journalistin werden. Bei einem Praktikum lernt sie den um einige Jahre älteren Französisch-Lehrer und Fotografen Magnus kennen. Sie verliebt sich in ihn und schnell folgt die erste sexuelle Begegnung. Danach verabschiedet er sich zu einer Radtour, von der er nicht zurückkehrt. Später stellt sich heraus, dass er sang- und klanglos in den Westen geflüchtet ist. Er ist einfach verschwunden. Auf ihre zahlreichen Briefe hat er nicht geantwortet. Muna ist zuerst sehr enttäuscht, besinnt sich aber bald auf ihre Fähigkeiten: sie ist jung, klug, gebildet, hübsch, bei anderen Gleichaltrigen beliebt. Der Roman beginnt im Jahr 1989 – dem Jahr des Mauerfalles, des Endes der DDR und des Zusammenbruches des Eisernen Vorhangs. Wie die Autorin Mora selbst ist auch Muna im Jahr 1971 geboren und studiert wie diese Literatur in Berlin. Während ihres Studiums in Berlin hat sie eine sexuelle Affäre mit einem schottischen Dozenten. Anschließend ist sie als Babysitterin in einer Londoner Familie, in der sie die Abgründe einer destruktiven Ehe vor Augen hat. Sie setzt ihr Literaturstudium in Wien fort. Dort begegnet sie dem Exoten Arnold, der sie fast vergewaltigt. Sie macht also erste Erfahrungen mit übergriffigen und grenzverletzenden Männern. Wieder nach Berlin zurückgekehrt, trifft sie zufällig im Theater ihren heißbegehrten Magnus. Sieben Jahre nach der einmaligen Erstbegegnung. Ihre Leidenschaft für Magnus flammt sofort auf wie eine Stichflamme. Es folgt eine jahrelange Paarbeziehung, die immer gewalttätiger wird und an der sie fast zugrunde geht. Magnus schlägt, betrügt und demütigt sie regelmäßig bis zum psychischen Zusammenbruch. Die Beziehung wird immer einseitiger und toxischer. Der Roman lässt die ratlosen Leser mit der bangen Frage zurück: Warumfällt es Frauen so schwer, sich aus gewalttätigen Paarbeziehungen lösen? Warum verlassen sie ihre brutalen Männer nicht?

Literatur

Terézia Mora, Seltsame Materie. Erzählungen. Rowohlt, Reinbek 1999

Terézia Mora, Alle Tage. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2004

Terézia Mora, Der einzige Mann auf dem Kontinent. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2009

Terézia Mora, Das Ungeheuer. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2013

Terézia Mora, Auf dem Seil. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019

Terézia Mora, Fleckenverlauf. Ein Tage- und Arbeitsbuch. Luchterhand Literaturverlag, München 2021

Terézia Mora, Muna oder Die Hälfte des Lebens. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2023

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

Muna oder Die Hälfte des Lebens — Roman – Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.