Memento mori und Zeitenwende – vor 100 Jahren erschien Thomas Manns Jahrhundertroman „Der Zauberberg“

Thomas mann, Denkmal, Haustier, Quelle: bboellinger, Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig

Vor 100 Jahren – am 20. November 1924 – erschien im Fischer-Verlag der Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Viele Literaturwissenschaftler und auch Leser halten diesen Roman für den bedeutsamsten aus seiner Feder. In seiner hervorragenden Werkbiografie widmet Dieter Borchmeyer dem Roman „Der Zauberberg“ immerhin 120 Seiten (Borchmeyer 2022). Der Romanautor Thomas Mann spricht in seinem fast 1000 Seiten umfassenden Werk von der „Sympathie mit dem Tod“, ist von der Psychoanalyse beeinflusst und betont die Ambivalenz der Todessehnsucht. Gestorben wird in dem Roman durch Dahinsiechen an der Krankheit Tuberkulose. Das Damoklesschwert des finalen Blutsturzes durchzieht als Todesangst wie ein roter Faden den ganzen Roman. Der Romanprotagonist Hans Castorp räsoniert viel über die „Sympathie mit dem Tod“ – überlebt, aber geläutert. Thomas Mann selbst und seine Frau Katia waren lungenkrank. Die Behandlung seiner lungenkranken Frau im Davos im Jahr 1912 war für Thomas Mann ein wesentlicher Impuls für seinen Roman (vgl. Biografien von Kurzke 2002 und Reich-Ranicki 2005). Seine Krankenbesuche im schweizerischen Sanatorium in Davos inspirierten ihn zu dem Roman. Im Jahr 1946 wurde bei dem 71jährigen Thomas Mann in seinem Exil in den USA ein Bronchialkarzinom diagnostiziert und operativ behandelt. In Chicago wurden ihm in einer großen Operation eineinhalb Lappen seiner rechten Lunge entfernt. Seine Krebsdiagnose wurde ihm verschwiegen und er selbst verdrängte vollkommen seine Krebserkrankung. Er gab sich bis zu seinem Lebensende damit zufrieden, an einem harmlosen Lungen-Abszess operiert worden zu sein (Stobbe 1983, Csef 2016).

 „Der Zauberberg“ von Thomas Mann (1924)

Der Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann gehört mit den „Buddenbrooks“ zu den wichtigsten Werken des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann. Die hohen Auflagen und zahlreichen Übersetzungen machten ihn schnell zu einem Bestseller. Bereits nach vier Jahren konnte der Verlag die 100. Auflage präsentieren. Der Roman beginnt im Jahr 1907, als der Hamburger Kaufmannssohn Hans Castorp seinen Vetter Joachim Ziemßen in einem Davoser Sanatorium für Tuberkulosekranke besucht. Er endet mit dem „Donnerschlag“ des Ersten Weltkriegs. Aus einem geplanten Kurzbesuch von drei Wochen wurde schließlich für Castorp ein Aufenthalt von 7 Jahren. Der „Held“ der Geschichte versinkt in der entrückten Bergwelt und in der morbiden Sanatoriums-Atmosphäre. Er verliert sich selbst und den Blick für die Realitäten des Lebens. Stattdessen saugt ihn die existentielle Spannung von Leben und Tod auf – das fast alltägliche Sterben und die blutigen Hustenanfälle werden zu einer neuen und anderen Realität. Er, der sich als naiver „philosophischer Taugenichts“ erlebt, gerät in das Spannungsfeld von zwei Mentoren, die ihn durch kluge, aber extreme Gegenpositionen überzeugen oder mitreißen wollen. Da ist der gebildete Literat Lodovico Settembrini, ein Humanist, Freimaurer und „individualistisch gesinnter Demokrat“. Er lässt sich vollkommen vom Leitstern der „Sonne der Aufklärung“ als der einzig wahren Orientierung lenken. Der Gegenspieler und Antipode zu Settembrini ist Naphta, ein asketischer Jesuitenschüler, der vom Judentum zum Katholizismus konvertiert ist. Er ist ein brillanter Redner und Diskutant, eloquent und rhetorisch begabt. Als sophistisch geschulter Intellektueller ist er in seiner religiösen Überzeugung streng und strebt einen totalitären Gottesstaat an. Settembrini und Naphta verkörpern Grundprinzipien, die auf der Welt ewig im Kampf liegen – die Gegensätze von Macht und Recht, von Tyrannei und Freiheit, von Glauben und Wissen, von Beharren und Fortschritt. Gegen Ende des Romans eskaliert der Streit von Naphta und Settembrini. Es kommt zu einem finalen Pistolenduell. Settembrini feuert den Schuss auf Naphta absichtlich in die Luft. Darüber ist Naphta so wütend und verzweifelt, dass er sich schließlich selbst erschießt. Mit dem Donnerschlag des Ersten Weltkrieges endet für Hans Castorp die siebenjährige Exkursion in die Scheinwelt der Berge und des Sanatoriums-Lebens. Das Sanatorium leert sich, die „Gäste“ und Lungenkranken kehren in die Realität des flachen Landes und des beginnenden Krieges. Die Lebensspur von Hans Castorp verliert sich auf den Schlachtfeldern in Frankreich. Vermutlich hat er diesen Kugelhagel der harten Realität nicht überlebt.

Der Protagonist Hans Castorp beschäftigt sich im Roman ausführlich mit der „Sympathie mit dem Tod“, die als Ausdruck von Todessehnsucht verstanden werden kann. Eine Schlüsselszene ist gegen Ende des Romans ein lebensbedrohlicher Schneesturm, in den Hans Castorp gerät. Im Schnee-Traum setzt sich Castorp mit den existentiellen Fragen von Leben und Tod auseinander. Die Antinomie von Leben und Tod gipfelt in seiner folgenden Synthese:

„Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“.

Memento mori – „Bedenke, dass du sterben wirst“

Der Thomas Mann-Experte Dieter Borchmeyer sieht im Roman „Der Zauberberg“ eine moderne Memento-mori-Inszenierung (Borchmeyer 2024). Memento mori geht auf ein römisches Ritual zurück, in dem siegreiche Feldherrn beim Triumphzug an ihre eigene Sterblichkeit erinnert wurden. Ein Sklave begleitete den Sieger und wiederholte ununterbrochen die Worte „Memento mori“ – „Bedenke, dass du sterben wirst.“ Damit wurden Bodenhaftung und Realitätsbezug gefördert und eine gewisse „Größenwahn-Prophylaxe“ versucht. In den folgenden Jahrhunderten gab es bis in die Gegenwart symbolische Handlungen oder Rituale, die Menschen an die Sterblichkeit und Vergänglichkeit erinnern sollen und damit ein „rechtes Maß“ der Selbsteinschätzung vermitteln. Im Roman „Der Zauberberg“ erinnert das alltägliche Dahinsiechen und das Miterleben des Sterbens von Tuberkulosekranken jeden an die eigene Sterblichkeit. Die Tuberkulose war zu der Zeit, in der der Roman spielt, also kurz vor dem Ersten Weltkrieg, eine todbringende Erkrankung. Etwa 100 Jahre später wurde die Menschheit auf der ganzen Welt in den Jahren 2020 bis 2022 durch die Corona-Pandemie ähnlich bedroht und herausgefordert. In vielen Staaten starben innerhalb weniger Monate Hunderttausende oder Millionen Menschen an einer Corona-Infektion. Die schnelle Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes beendete die lebensbedrohliche Pandemie. Die Todesängste und Schrecken der Corona-Pandemie wurden zu einem eindrucksvollen „Memento mori“ des 21. Jahrhunderts.

Eros und Thanatos – Hans Castorp wird von Madame Chauchat verführt

Thomas Mann hat in vielen seiner Werke die Verschränkung von Liebe und Tod oder von Eros und Thanatos thematisiert, z.B. in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“. Im „Zauberberg“ verdichtet sich dieser Zusammenhang in der Figur von Madame Chauchat. Sie ist eine junge Russin, 28 Jahre alt, sexuell attraktiv und ausgesprochen verführerisch. Sie ist mit einem höheren Beamten verheiratet, der im Roman nicht auftaucht. Ehering trägt sie keinen, da dies ihrer Meinung nach ein „Symbol der Hörigkeit“ sei. Hans Castorp kann sich ihren Reizen nicht entziehen. Er verliebt sich in sie und verfällt ihr zunehmend. Da Madame Chauchat ebenfalls an Tuberkulose erkrankt ist, trägt sie beide Urkräfte in sich – Eros und Thanatos. Sie verlässt das Sanatorium, um später wiederzukommen, in Begleitung eines neuen Liebhabers, eines reichen Kaffee-Plantagenbesitzers aus Holland. Er heißt Mynheer Pieter Peeperkorn und wird im Roman als „königliche Persönlichkeit“ beschrieben. Er experimentiert mit Schlangengiften und bringt sich schließlich damit um. Nach seinem Tod verlässt Madame Chauchat das Sanatorium für immer.

Existentielle Gratwanderungen – Suizide im Roman und in der Familie von Thomas Mann

Thomas Mann war sehr sensibel für das Thema der Todessehnsucht. Ein klinisches Phänomen, bei dem die Todessehnsucht eine zentrale Rolle spielen kann, ist die Suizidalität. Potenzielle Selbstmörder haben oft lange Zeit vor ihrem Suizidversuch oder Suizid ausgeprägte Fantasien über ihren vorzeitigen Tod. Manche sehnen sich regelrecht danach. Dies trifft auf einige  Familienmitglieder von Thomas Mann zu. In seiner Familie haben sich sechs Menschen selbst umgebracht: seine beiden Schwestern Carla und Julia, seine beiden Söhne Klaus (Csef 2017) und Michael (Csef 2022, 2023), eine Schwägerin (zweite Ehefrau seines Bruders Heinrich Mann) und der Bruder Erik seiner Ehefrau Katia starben durch Suizid. Thomas Mann reagierte mit Abscheu und Verdrängung auf diese Suizide. Nach dem Suizid seines Sohnes Klaus Mann im Jahre 1949 weigerte er sich, an der Beerdigung teilzunehmen. Sein anderer Sohn Michael war der einzige aus der Großfamilie Mann, der an der Beerdigung in Cannes teilnahm (Csef 2017, 2022, 2023). Siebzehn Jahre später hat sich Michael Mann ebenfalls suizidiert. Thomas Mann erlebte diesen Suizid im Jahre 1976 nicht mehr, weil er im Jahr 1955 starb.

Im Roman „Der Zauberberg“ werden zwei Suizide geschildert. Mynheer Pieter Peeperkorn, der Liebhaber von Madame Chauchat, suizidiert sich mit Schlangengift. Der Jesuit Naphta erschießt sich selbst, nachdem er das Pistolenduell überlebt hatte.

Zeitenwende

Im Roman „Der Zauberberg“ werden die sieben Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs beschrieben. Diese Jahre bedeuten eine Zeitenwende und eine Umbruchsituation. Obwohl das Sanatorium „Berghof“ von der Außenwelt abgeschnitten ist und ein gewisses Eigenleben führt, sind Stimmung und Atmosphäre eigentümlich bezogen auf den bevorstehenden Umbruch, der sich im „Donnerschlag“ des Kriegsbeginns manifestiert.

Jetzt, 100 Jahre später, leben wir wieder in einer Epoche, für die der Begriff „Zeitenwende“ charakteristisch erscheint. In einer denkwürdigen Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz zu den Folgen des im Februar 2022 hereinbrechenden Ukraine-Krieges wurde die „Zeitenwende“ zu einem vielzitierten Schlüsselbegriff. Die Ungewissheit und Offenheit der Zukunft prägen das Bewusstsein heute wie vor 100 Jahren (vgl. Bernard 2024, Blume 2024).

Die Augsburger „Zauberberg-Stiftung“

An der Augsburger Universitätsbibliothek wurde durch den Thomas-Mann-Forscher Klaus W. Jonas und seine Ehefrau Ilsedore die „Zauberberg-Stiftung“ gegründet. Zum Anlass des 100. Jubiläums schrieb der Lieblingsenkel von Thomas Mann, der 84 Jahre alte Frido Mann, einen Festvortrag mit dem Titel „Um der Güte und Liebe willen“, der von seinem Freund Dirk Heißerer vorgetragen wurde. Er thematisierte dabei einen zentralen Gegensatz der heutigen Zeit, jenen zwischen Humanismus und Totalitarismus, den Thomas Mann bereits vor 100 Jahren deutlich vor Augen hatte. In den aktuellen Krisen durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten hat dieser Antagonismus leider nichts an Aktualität verloren.

„Fiebertraum & Höhenrausch“ – eine Lübecker Ausstellung zum Zauberberg-Jubiläum

Vom September 2024 bis März 2025 ist im St. Annen-Museum in Lübeck die Ausstellung „Fiebertraum & Höhenrausch“ zu sehen. Die Exponate geben einen Einblick in die Welt des Zauberbergs in Davos. Bilder und Videoinstallationen führen den Betrachter in die geheimnisvolle Atmosphäre des Zauberbergs, der vor etwa 100 Jahren auch Hans Castorp in seinen Bann gezogen hat. Der Ausstellungskatalog ist im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen (Eschenburg & Heuer 2024). Er enthält neben Abbildungen der Exponate auch sachlich-informative Texte über die Tuberkulose, über die damalige Art der Arzt-Patient-Beziehungen und psychoanalytische Aspekte des Zauberberg-Romans.

Literatur

Bernard, Andreas, Grand Hotel Abgrund. 100 Jahre “Zauberberg”. Spiegel vom 20. November 2024

Blume, Klaus, Thomas Manns Meisterwerk „Der Zauberberg“ hat auch heute noch viel zu sagen. Ntv-online vom 20. November 2024

Borchmeyer, Dieter, Thomas Mann. Werk und Zeit. Insel-Verlag, Frankfurt 2022

Borchmeyer, Dieter, Nach Goethes „Werther“ dauerte es volle 150 Jahre, bis ein deutscher Roman wieder die Weltleserschaft erreichte: Thomas Manns “Der Zauberberg“ wird 100 Jahre alt. Neue Zürcher Zeitung vom 4. Mai 2024

Csef, Herbert, Sigmund Freud und Thomas Mann als Krebskranke. Eine vergleichende Darstellung ihrer Krankheitsverarbeitung. Psychodynamische Psychotherapie 15 (2016) 75 – 79

Csef, Herbert, „Ich kann das Leben einfach nicht mehr ertragen.“ – Wege zum Suizid des Schriftstellers Klaus Mann. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 2/2017, S. 1 – 11

Csef, Herbert, Thomas Mann und die Suizide seiner beiden Söhne Klaus und Michael. In: Csef, Herbert, Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer Verlag, Regensburg 2022, S. 63 – 73

Csef, Herbert, 100 Jahre „Zauberberg“ und 250 Jahre „Werther“ – die beiden berühmtesten deutschsprachigen Romane über die Todessehnsucht. Tabularasa Magazin vom 21. August 2024

Eschenburg, Barbara, Heuer, Caren (Hrsg.), Thomas Manns Der Zauberberg. Fiebertraum und Höhenrausch. Königshausen & Neumann, Würzburg 2024

Kurzke, Hermann, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. Fischer, Frankfurt, 3. Auflage 2002

Mann, Thomas, Der Zauberberg. Roman. Fischer, Frankfurt 1924

Reich-Ranicki, Marcel, Thomas Mann und die Seinen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2005

Stobbe, Hans, Die Erkrankung von Thomas Mann während der Entstehung des „Doktor Faustus“. Medicamentum 24, Heft 2, 1983, S. 59 – 62

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

 

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Über Herbert Csef 151 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.