Manès Sperber (1905 – 1984) Psychologe, Philosoph und Schriftsteller

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Manès Sperber ist als Psychologe und Philosoph sowie als Schriftsteller im 20. Jahrhundert berühmt geworden. Diese Mehrfachbegabung auf hohem Niveau ist eine Seltenheit. In Europa gelang lediglich dem Niederländer Hans Keilson eine ähnliche Karriere – lebenslang berühmter Psychologe und Schriftsteller zu sein. In den USA lebte Irvin Yalom diese Doppelexistenz. Sperber war ein leidenschaftlicher Europäer. In Galizien als Sohn jüdischer Eltern geboren, lebte er vom 11. Lebensjahr an in Wien, dann 6 Jahre in Berlin und schließlich die längste Zeit seines Lebens in Frankreich. In der Psychologie war er eine zeitlang Schüler von Alfred Adler und widmete sich in Wien und in Berlin der Individualpsychologie. Für seine schriftstellerischen Leistungen erhielt er zahlreiche Literaturpreise, darunter auch die beiden höchsten deutschen Literaturpreise, den Georg-Büchner-Preis im Jahr 1975 und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Jahr 1983. Die Laudatio bei der Preisverleihung hielten Heinrich Böll und Siegfried Lenz. Im Jahr 2024 war als Gedenktag der 40. Todestag von Manès Sperber.

Kurzes biografisches Porträt

Manès Sperber wurde am 12. Dezember 1905 in Zablotow in Galizien als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern geboren. Wegen Pogromen gegen Juden floh die Familie im Jahr 1916 nach Wien. In Wien wurde er Schüler von Alfred Adler und widmete sich als Psychologe fortan der Individualpsychologie. Seine wichtigsten Forschungsthemen waren Macht und Gewalt. Alfred Adler ermunterte Sperber, im Jahr 1927 nach Berlin zu ziehen und dort für die Verbreitung der Individualpsychologie in Deutschland zu sorgen. Mit Adler kam es bereits 5 Jahre später zu Zerwürfnissen und Meinungsverschiedenheiten, so dass die beiden Individualpsychologen in Zukunft getrennte Wege gingen. Im Jahr 1933 wurde Sperber wegen seiner jüdischen Herkunft in Berlin von der Gestapo verhaftet. Wegen seiner österreichischen Staatsangehörigkeit durfte er nach Wien ausreisen. Von dort übersiedelte er schließlich über Jugoslawien nach Paris. In Frankreich lebte er schließlich mehr als ein halbes Jahrhundert (von 1933 bis 1984). Im Winter 1939 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger bei der französischen Fremdenlegion, war aber nicht in Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs involviert. Sperber lebte bis zu seinem Tod am 5. Februar 1984 in Paris und wurde dort auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt. Ausführliche Biografien über Manès Sperber wurden zu dessen 20. Todestag im Jahr 2003 von Rudolf Isler und Mirjana Stancic vorgelegt.

Manès Sperber als Psychologe

Das psychologische Werk von Manés Sperber ist durch die Individualpsychologie von Alfred Adler geprägt. Bereits mit 21 Jahren veröffentlichte er ein Buch über die Individualpsychologie von Adler (Sperber 1926). Mit 65 Jahren schrieb er ein weiteres Buch über seinen ehemaligen Mentor mit dem Titel „Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie.“ (1970). Dieses Werk ist deutlich kritischer als das erste Buch über Adler.  Sperbers psychologisches Hauptinteressensgebiet waren Fragen von Macht und Gewalt. Darüber schrieb er 1972 und 1978 zwei Bücher mit dem Thema „Sieben Fragen zur Gewalt“. Während Sperber früher eine pazifistische Grundhaltung vertrat, kam er über die Jahrzehnte und die Erlebnisse von Verhaftung, Flucht, Exil und Zweitem Weltkrieg zu einer Grundposition der Wehrhaftigkeit oder gewalttätigen Verteidigungsbereitschaft. Kurz vor seinem Tod wurde ihm im Jahr 1983 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner Dankrede begründete er seine Abkehr vom Pazifismus. Im Jahr 1978 wurde er Ehrenmitglied der Internationalen Gesellschaft für Gestalttheorie. Sperber war als junger Erwachsener theoretisch und praktisch vorwiegend Psychologe, besonders in seiner Wiener und Berliner Zeit. Nach den Kriegswirren des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich immer mehr zum Schriftsteller und Philosophen. 

Das literarische Oeuvre von Manès Sperber

Im Gesamtwerk von Manès Sperber überwiegen die schriftstellerischen und philosophischen Werke. Die zahlreichen Auszeichnungen, die er erhielt, waren überwiegend Literaturpreise. Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann er, Romane und Essays zu schreiben. Die ersten drei Romane waren „Der verbrannte Dornbusch“ (1949), „Tiefer als der Abgrund“ (1950) und „Die verlorne Bucht“ (1955). Diese drei Romane fasste er zu einer Romantrilogie zusammen, die 1961 erstmals erschien und im Jahr 1980 im Taschenbuch-Format aufgelegt wurde (dtv-Taschenbuchverlag München). Sie trägt den Titel „Wie eine Träne im Ozean“. Viele Jahre erschienen seine Bücher im Europaverlag, der leider schon längere Zeit die Sperber-Bücher nicht mehr im Programm hat. Insofern galten seine Bücher jahrelang als „vergriffen“ und waren nur noch antiquarisch erhältlich. Erfreulicherweise entschied sich der Wiener Sonderzahl-Verlag zur Publikation einer dreibändigen Werkausgabe. Der Band 1 enthält die autobiographischen Schriften von Manès Sperber, Band 2 die Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ und Band 3 enthält das wichtige Buch „Zur Analyse der Tyrannis“ und weitere politische oder philosophische Essays. Die Werkausgabe ist in den Jahren 2023 und 2024 erschienen und umfasst mehr als 2.100 Druckseiten. Die Rezensionen in den großen deutschsprachigen Zeitungen wie FAZ oder NZZ sind eindrucksvoll positiv (Schimanng 2024, Jandl 2024, Ebel 2024, Martin 2024, Linsmayer 2024). Besonders der Band 3 wird von vielen Rezensenten als sehr bedeutsam und lesenswert empfohlen, weil darin die Kritik an totalitären oder autokratischen Staaten, insbesondere im Kommunismus und Sozialismus, enthalten sind. Diese Totalitarismuskritik erschien erstmals im Jahr 1939 unter dem Titel „Zur Analyse der Tyrannis“. Bis 1937 war Sperber überzeugter Marxist, Kommunist und Mitglied der KPD (Kommunistische Partei Deutschland). Als Reaktion auf die „Säuberungen“, den Terror und die Schauprozesse von Stalin wurde Sperber zum leidenschaftlichen Kritiker des Stalinismus und autokratischer sozialistischer Systeme. Im NZZ-Beitrag von Paul Jandl (2024) wird Sperber die Erkenntnisleistung zugeschrieben, dass er die Entwicklung autokratischer Herrscher als einer der Ersten psychologisch erklärt hat, insbesondere die Interaktion von Führern und Verführten. Insofern sei nach Jandl Sperber ein wichtiger Vordenker, der den Aufstieg von Herrschern wie Putin oder Trump hellsichtig vorausgesehen hat.

Wandlung vom Saulus zum Paulus?

Die Lebensentwicklung von Manès Sperber bezüglich Religion, Weltanschauung und politischer Überzeugungen ist sehr spannend und vielschichtig. Diesen Prozess zu durchleuchten, wäre eine eigene Abhandlung wert. Seine Kindheit verbrachte Manès Sperber in Galizien in der Tradition des jüdischen Chassidismus. Mit 11 Jahren floh er mit seiner Familie nach Wien und entwickelte zunehmend eine großstädtisch-urbane und säkularisierte Lebenswelt. Sein jüdischer Glaube wurde zunehmend durch atheistisches psychoanalytisches Denken verdrängt. Die meisten Psychoanalytiker dieser Zeit waren jüdischer Herkunft und opferten irgendwann ihren Glauben der Psychoanalyse. Sigmund Freud selbst und viele seiner Schüler hielten die Religion für eine „kollektive Zwangsneurose“. Sperbers Mentor Alfred Adler war ebenfalls jüdischer Herkunft. Nach dem Zerwürfnis mit Adler wandte sich Sperber dem Marxismus zu und wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands. Durch Stalins Terror wurde er schließlich um Kommunismus- und Sozialismus-Kritiker. Diese Haltung verfestigte sich und blieb. Sehr bemerkenswert ist auch die radikal veränderte Haltung von Sperber zu Pazifismus und Kriegsbereitschaft. Lange Zeit war er bekennender Pazifist. Ein halbes Jahr vor seinem Tod erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine Dankesrede wurde von seinem Freund Alfred Grosser vorgelesen, weil Sperber selbst krank war. In dieser Rede befürwortete er die Kriegsbereitschaft und die Abschreckung. Dies gipfelte in dem Satz: „Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“ Über diese Rede Sperbers haben deutsche Politiker und Intellektuelle viel und kontrovers diskutiert. 41 Jahre später erhielt die amerikanisch-polnische Politikwissenschaftlerin Anne Applebaum ebenfalls den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Die Preisträgerin des Jahres 2024 hat viele Gemeinsamkeiten mit Sperber, weil sie ebenfalls zentral Totalitarismus-Kritik vertritt und gegen autokratische und antidemokratische Systeme argumentiert. In ihrer Dankesrede hat Anne Applebaum (2024) mehrmals Manés Sperber zitiert und vor falschen Pazifismus-Idealen gewarnt (vgl. Csef 2024).

Literatur

Applebaum, Anne, Wider den Pessimismus. Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 20. Oktober 2024

Csef, Herbert, Anne Applebaum – eine moderne Kassandra. Gedanken zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2024. Tabularasa Magazin vom 28. Oktober 2024

Ebel, Martin, Manès Sperber wiederentdeckt. Ein enttäuschter Kommunist und seine Botschaft an uns. Tagesanzeiger vom 27. September 2024

Isler, Rudolf, Manès Sperber. Zeuge des 20. Jahrhunderts. Eine Lebensgeschichte. Mit einem Vorwort von Daniel Cohn-Bendit. Sauerländer & Cornelsen. Aarau 2003

Jandl, Paul, Manès Sperber analysierte die Psychologie politischer Aufsteiger wie Putin und Trumps Narzissmus, bevor sie die Weltbühne betraten. Neue Zürcher Zeitung vom 7. Dezember 2024

Linsmayer, Charles, Manès Sperbers Werk wirkt wider das Vergessen. Der Standard vom 27. Januar 2024

Martin, Marko, Manès Sperber. Der Abtrünnige. Jüdische Allgemeine vom 5. Februar 2024

Schimanng, Jochen, Vom göttlichen Ziegelsteinwurf getroffen. Buchrezension Manès Sperber. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juli 2024

Sperber, Manès, Alfred Adler – Der Mensch und seine Lehre. Wien 1926

Sperber, Manès, Alfred Adler oder das Elend der Psychologie. Wien 1970

Sperber, Manès, Leben in dieser Zeit. Sieben Fragen zur Gewalt. Europaverlag, Wien 1972

Sperber, Manès, Sieben Fragen zur Gewalt. Wien 1978

Sperber, Manès, All das Vergangene… Ausgewählte Werke, Band 1, Sonderzahl-Verlag, Wien 2023

Sperber, Manès, Wie eine Träne im Ozean. Ausgewählte Werke, Band 2, Sonderzahl-Verlag, Wien 2024

Sperber, Manès, Zur Analyse der Tyrannis. Ausgewählte Werke, Band 3, Sonderzahl-Verlag, Wien 2024

Stanicic, Mirjana, Manès Sperber – Leben und Werk. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2003

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

 

Über Herbert Csef 152 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.