„Jage die Ängste fort!“ Das Rezept zur Angstbewältigung von Mascha Kaléko (1907 – 1975)

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Mascha Kaléko erlebt derzeit eine Renaissance ihrer lyrischen Werke. Ihre Gedichte gehören heute noch zu den meistgelesenen in Deutschland. Auf der Liste der Top25 der deutschen Lyrik stehen 6 Gedichtbände von Mascha Kaléko. Sie zählt damit neben Rainer Maria Rilke und Erich Kästner zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Erste große Erfolge hatte sie als Berlinerin in der Zeit der Weimarer Republik. Das Nazi-Regime bereitete ihr als Jüdin ein jähes Ende ihres dichterischen Erfolgs: Publikations- und Schreibverbot, Bücherverbrennung, Flucht ins Exil. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zögerlich einige Neuauflagen. Sie kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Ihre letzte einsame Lebensphase war in Israel und gestorben ist sie in Zürich an ihrer Krebserkrankung.

Im 21. Jahrhundert begann sukzessive eine erfreuliche Renaissance ihrer Werke. Zahlreiche Neuauflagen und Publikationen erschienen zu ihrem Jubiläum des 100. Geburtstages im Jahr 2007. Die Germanistin und Schriftstellerin Jutta Rosenkranz trug erheblich zur Verbreitung des lyrischen Oeuvres von Mascha Keléko bei: Im Jahr 2007 publizierte sie eine umfangreiche Biografie über die Schriftstellerin (Rosenkranz 2007) und 5 Jahre später gab sie eine Gesamtausgabe in vier Bänden im Münchener dtv-Verlag heraus. Zum 50. Todestag am 21. Januar 2025 erschienen Neuauflagen ihrer wichtigsten Gedichtbände und ein Sammelband ihrer Gedichte und Prosa, der von dem bekannten Gegenwartsdichter Daniel Kehlmann herausgegeben wurde (Kehlmann 2025).

Zwischen Angst und Heiterkeit

Mascha Kaléko hat ein bewegtes Leben gelebt. Ihre erste Lebensphase war von Unsicherheit und Angst geprägt. Sie ist als uneheliches Kind in Galizien geboren und aufgewachsen und floh in ihrem 7. Lebensjahr mit ihrer Mutter nach Deutschland. In diesem Jahr hat in Europa gerade der Erste Weltkrieg begonnen. Sie lebte in ärmlichen Verhältnissen, konnte sich aber als junge Frau im Berlin der Weimarer Republik gut etablieren. Ihre ersten Gedichte erschienen in Berliner Zeitungen und waren beliebt. Mit 26 Jahren erschien ihr erster Gedichtband „Das lyrische Stenogrammheft“ im angesehenen Rowohlt-Verlag und wurde zum Erfolgsdebüt. Das Nazi-Regime beendete ihre Erfolgssträhne abrupt: Publikations- und Schreibverbot sowie die Flucht ins Exil. In den USA konnte sie ihre lyrischen Schöpfungen nicht wie in Berlin fortsetzen: der Existenzkampf als jüdische Emigrantin und die Sprachprobleme schränkten sie ein. Erst im letzten Kriegsjahr 1945 erschienen ihre Exilgedichte in den USA mit dem Titel „Verse für Zeitgenossen“. Ihrem Mann zuliebe (jüdischer Dirigent, der überwiegend hebräisch sprach) zog sie für ihre letzten 15 Lebensjahre nach Israel. Sie wurde dort nie heimisch und fühlte sich sehr einsam. Die zwei Menschen, die sie am meisten liebte, starben vor ihr. Sie blieb allein, kraftlos und vereinsamt zurück. Auch ihr Krebstod in Zürich folgt der Chiffre der „Einsamkeit der Sterbenden“ wie sie der Soziologe Norbert Elias treffend beschrieben hat.

Die schönste Zeit ihres Lebens waren die zwanzig Jahre in Berlin in den Jahren 1918 bis 1938. Berlin und das damalige Lebensgefühl prägten lebenslang ihre Sehnsucht sowie ihre Trauer und Melancholie über das unwiederbringlich Verlorene. Zweimal in ihrem Leben erlitt sie Lebensbedrohung, Flucht und Exil. Sie war selbst Emigrantenkind und wurde später selbst zur Emigrantin. Diese Umbrüche und Krisen waren mit viel Unsicherheit und Angst verknüpft. Sie hat in ihrem Leben mehrmals alles verloren: in der Kindheit ihre Heimat in Galizien, mit 31 Jahren ihr geliebtes Berlin, schließlich ihren Sohn Steven und ihren Ehemann, die beiden Menschen, die sie am meisten liebte.

Angst, Trauer und Melancholie begleiteten viele Jahre ihres Lebens. Sie rappelte sich immer wieder auf, hatte auch eine optimistische, lebensfrohe und heitere Wesensart. Durch das Leben wurde sie auch zu einer Meisterin der Angstbewältigung. Diese Fähigkeit hat sie in einem ihrer bedeutendsten Gedichte beschrieben.

Rezept zur Angstbewältigung – von Mascha Kaléko

Das Gedicht „Rezept“ hat ist eines der späten Gedichte von Mascha Kaléko. Sie hat es im Jahr 1966 in Jerusalem geschrieben und es ist erst posthum im Gedichtband „Die paar leuchtenden Jahre“ (2003) veröffentlicht worden. Sie war damals fast 60 Jahre alt und zwei Jahre später ist ihr geliebter Sohn Steven gestorben. Das Gedicht hat eine sehr existenzialistische und melancholische Grundmelodie und hat nicht mehr die Leichtigkeit und Heiterkeit der in früheren Jahren in Berlin geschriebenen Gedichte. Sie lebte seit 1960 in Israel und fühlte sich dort sehr unwohl, isoliert und vereinsamt.

Rezept

Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
Wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
Und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
Wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
Sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
Geht es um dich oder ihn.
Den eignen Schatten nimm
Zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
Und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
Unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im großen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.

aus: Die paar leuchtenden Jahre

Wege und Ratschläge zur Angstbewältigung

In dem Angst-Gedicht „Rezept“ thematisiert Mascha Kaléko zahlreiche grundlegende Lebensweisheiten, die bei der Angstbewältigung hilfreich sein können. In aktuellen Büchern von renommierten Angstforschern (Bandelow 2004, Domschke 2019, Domschke & Zwanzger 2025) finden sich ähnliche Hinweise und Erkenntnisse. Die adäquate Wahrnehmung und Akzeptanz der Realität ist dabei ein wichtiger Faktor. Es gibt Realangst (rational begründbare Ängste) und krankhafte Ängste. Angstkranke können oft das eine nicht vom anderen unterscheiden (Csef 1998). Sie haben vor den falschen Dingen und Situationen zu viel Angst. Annahme der Realität und konstruktiver Umgang mit Leid sind deshalb von großer Bedeutung. Bei Kaléko klingt dies wie folgt:

„Es ist wahr, was sie sagen: Was kommen muss, kommt.

Geh nicht dem Leid entgegen.

Und ist es da, sieh ihm still ins Gesicht.

Es ist vergänglich wie Glück.“

Schicksalsschläge und Krisen können wir Menschen oft weder voraussehen noch verhindern. Wir sollen und müssen das annehmen, was kommt und da ist (Csef 2024). Dem Leid sollen wir nicht entgegengehen, wir sollen es nicht herbeireden und uns nicht in irrealen Ängsten oder apokalyptischen Visionen verlieren. Dem nicht vermeidbaren Leid sollen wir „still ins Gesicht sehen“ und uns immer bewusst sein, dass auch alles Leid vergänglich ist wie Glück.

Erwartungen und Pläne sind ebenfalls bedeutsam für die Angstentstehung ebenso wie für die Angstbewältigung. Zu hohe Erwartungen führen oft zu Enttäuschung und Angst vor Enttäuschung. Der kurze und eindringliche Apell von Mascha Kaléko „Erwarte nichts“ akzentuiert dies. „Zerreiß deine Pläne“ geht in dieselbe Richtung. Bei all dieser Härte und dem innewohnenden Realitätssinn hat Kaléko aber auch einen sehr zuversichtlichen und hoffnungsvollen Rat:

„Sei klug und halte dich an Wunder.“

Literatur

Bandelow, Borwin, Das Angstbuch. Woher Ängste kommen und wie man sie bekämpfen kann. Rowohlt, Reinbek 2004

Csef, Herbert, Angst im Jahre 2000. Moderne zeittypische Ängste und existentielle Grundängste. Daseinsanalyse 15, Sonderausgabe, 1998, S. 68 – 80

Csef, Herbert, Trauma und Resilienz in der Psychoanalyse. Psychosozial Verlag, Gießen 2024

Domschke, Katharina, Angst in der Kunst. Ikonografie einer Grundemotion. Kohlhammer, Stuttgart 2019

Domschke, Katharina, Zwanzger, Peter, Das Alphabet der Angst – 200 Fakten rund um unsere wichtigste Emotion. Herder Verlag, Freiburg 2025

Kaléko, Mascha, Die paar leuchtenden Jahre. Dtv, München 2003

Kaléko, Mascha, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben und kommentiert von Jutta Rosenkranz. Dtv, München 2012

Kehlmann, Daniel (Hrsg.), Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. Dtv, München, 2. Auflage 2025

Rosenkranz, Jutta, Mascha Kaléko. Biografie. Erweiterte und aktualisierte TB-Ausgabe. Dtv, München 2012

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.