Im Blutrausch: Tödliche Messerattacken durch Kinder und Jugendliche

tatort verbrechen messer teppichmesser, Quelle: kalhh, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Tötungsdelikte durch Kinder und Jugendliche werden aktuell in öffentlichen Debatten besonders kontrovers diskutiert. Besondere mediale Aufmerksamkeit erhalten dabei „Bluttaten“ oder tödliche Messerattacken. Experten stellen diese Taten nicht selten als „schreckliche Einzelfälle“ dar. Andere Gewaltforscher sprechen in diesem Kontext von einer „Einzelfall-Lüge“. Im Jahr 2022 gab es nach der Polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland 19 Tötungsdelikte durch Kinder und 206 durch Jugendliche. Alles nur Einzelfälle? Zu diesem Aufsehen erregenden Thema gibt es sehr kontroverse Diskussionen. Bedeutsamer erscheinen jedoch die Erklärungsversuche der Ursachen und die Frage der Präventionsmöglichkeiten.

Gewaltkriminalität durch Kinder und Jugendliche in der Polizeilichen Kriminalstatistik

In der Polizeilichen Kriminalstatistik PKS des Bundeskriminalamts zeigt sich im Vergleich von 2022 und 2023 ein deutlicher Anstieg der Gewaltkriminalität von Kindern und Jugendlichen. 12.377 tatverdächtige Kinder (Anstieg von 17 %) und 30.224 tatverdächtige Jugendliche (Anstieg von 14 %) sind die besorgniserregende Bilanz (BMI 2024). Mit diesen Zahlen sind folgende Gewaltdelikte erfasst: Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Einfache Körperverletzung ist in diesen Zahlen nicht enthalten. Unter den Gewaltdelikten im engeren Sinn der PKS sind bei Kindern und Jugendlichen Körperverletzung und Raub am häufigsten.

Zunahme von Messerangriffen in Deutschland?

Ob Gewaltdelikte durch Messer in Deutschland eine Zunahme zeigen oder nicht, hängt entscheidend von den Vergleichsjahren ab. Wegen der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen haben viele Deliktarten in den Jahren 2021 und 2022 abgenommen, auch bei den Messerangriffen. Diese Deliktgruppe wird erst seit dem Jahr 2020 in der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA gesondert ausgewiesen. Drei Bundesländer erfassen seit 2019 jährlich die Gewaltkriminalität mit dem „Tatmittel Messer“ und haben auch bereits Zahlen für 2023 veröffentlicht. Dies sind NRW, Niedersachsen und Hamburg. In diesen drei Bundesländern wurden im Jahr 2023 etwa 5.730 Gewaltdelikte mit Messern registriert. Diese drei Bundesländer haben zusammen 28,1 Millionen Einwohner, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Hochgerechnet dürften sich also in Deutschland im Jahr etwa 17.200 Gewaltdelikte mit Messern ereignet haben. Bei den Tatverdächtigen hatten 51,5 % keinen deutschen Pass. (Zahlen nach Langemann 2024). Die Zunahme der Migration könnte bei dieser Deliktart eine große Rolle spielen. Die häufigsten Tatorte für Messerangriffe sind Züge und Bahnhöfe. Hier ist die Bundespolizei zuständig, die entsprechende Fälle gesondert erfasst. Die Situation zu Messerangriffen an Schulen ist dadurch gekennzeichnet, dass immer mehr Schüler mit Messern bewaffnet in die Schulen gehen. Der Gewaltforscher Jens Luedtke gab an, dass etwa 20 % der Schüler ein Messer mit in die Schule nehmen (Luedtke 2024). Aktuell wird ein Messerverbot an Bahnhöfen, in Zügen und an Schulen diskutiert. Ob und wie dies kontrolliert wird und was die Konsequenzen sind, ist noch offen.

Chronologie tödlicher Messerattacken durch Kinder und Jugendliche in der Gegenwart

In den letzten 12 Monaten gab es zahlreiche Messerattacken durch Kinder und Jugendliche, die als Mord, Totschlag oder versuchter Mord/Totschlag eingeordnet wurden. Genannt werden im Folgenden die acht Fälle, die besondere Aufmerksamkeit und Berichterstattung in den Medien hatten. Der Großteil dieser Taten fand in einer Schule statt.

Der erschütternde Auftakt war im März 2023 in Freudenberg. Zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren haben ein ihr bekanntes Mädchen im Wald mit etwa 70 Messerstichen getötet (ausführlichere Darstellung unten). Diese grausame Bluttat ist besonders herausfordernd durch das junge Alter der Täterinnen und das Phänomen des „Übertötens“.

Im Juli 2023 verletzte ein 16 Jahre alter Schüler im sächsischen Bischofswerda in der Schule einen 8 Jahre alten Jungen mit einem Messer. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich einen Monat später in einer Schule in Harsewinkel (NRW). Der Täter war 13 Jahre alt, das Opfer 12 Jahre alt. In Pragsdorf (Neubrandenburg) erstach im September 2023 ein 14 Jahre alter Jugendlicher einen ihn bekannten Spielkameraden mit einem Messer. Im Mai 2024 wurde der Täter nach einem Geständnis vom Landgericht Neubrandenburg wegen heimtückischen Mordes zu 7 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Im Dezember 2023 stach in einer Schule in Cuxhaven eine 16 Jahre alte Schülerin mit einem Messer auf eine 15 Jahre alte Mitschülerin ein. In Pforzheim verletzte ebenfalls in der Schule ein 18 Jahre alter Schüler zwei 17 Jahre alte Mitschüler mit einem Messer.

Im Februar kam es in einer Schule in Wuppertal zu einem Amoklauf mit einem Messer als Tatwaffe. Ein 17 Jahre alter Schüler verletzte in einem Gymnasium 5 Mitschüler und dann sich selbst. Er sitzt in Untersuchungshaft und ist angeklagt wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung.

Im April 2024 überfielen 4 Kinder und Jugendliche einen Obdachlosen im Dortmunder Hafengelände. Der geständige Haupttäter war 13 Jahre alt und hat den Mann mit einem Messer erstochen.

Bei den meisten der geschilderten vollendeten oder versuchten Tötungsdelikte mit einem Messer waren Täter und Opfer im Kindes- und Jugendalter und der Tatort war meistens die Schule. Das Messer als Tatwaffe haben sie jeweils in die Schule mitgenommen. Insofern sind aktuell Messerverbote an Schulen in der Diskussion und die Frage, wie diese kontrolliert werden sollen und welche Konsequenzen bei entsprechenden Verstößen gegen das Verbot folgen sollen.

Die Freudenberger Messerstecherinnen

In Freudenberg (NRW) wurde die 12 Jahre alte Luise von zwei anderen ihr bekannten Mädchen (12 und 13 Jahre alt) erstochen. Es war ein besonders grausames Tötungsdelikt mit „Übertöten“: das Opfer wurde mit 70 Stichen eines längeren Messers getötet. Vermutlich waren die ersten Stiche bereits tödlich. Die Täterinnen im Kindesalter müssen sich in einen regelrechten Blutrausch hineingesteigert haben, wie er teilweise von Kindersoldaten in Afrika beschrieben wird. Die Täterinnen haben ihre Mordtat gestanden. Wegen Strafunmündigkeit erfolgte keine Anklage und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden eingestellt. Kein anderes Tötungsdelikt durch Kinder wurde deutschlandweit so intensiv und langdauernd diskutiert wie die Freudenberger Bluttat.

Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat sich mit der Freudenberger Bluttat beschäftigt und gab eine Studie zum Anstieg der Kinder- und Jugendgewalt in Auftrag. Ein Jahr nach der Tat erfolgten Gedenkfeiern und zahlreiche Medienberichte. Eine vergleichbare Tat gab es in der Nachkriegszeit in Deutschland nicht. Dass zwei Mädchen eine bekannte Schulkameradin so grausam und bestialisch erstechen, ist eine außergewöhnliche Ausnahme.

Tötung der lesbischen Ex-Partnerin durch eine weibliche Heranwachsende 

Im Jahr 2015 hat sich eine ähnlich grausame Bluttat in Senden bei Münster ereignet. Eine zur Tatzeit 18 Jahre alte Heranwachsende hat ihre lesbische Ex-Partnerin (17 Jahre alt) auf offener Straße brutal erstochen und verstümmelt. Nach 49 Messerstichen, von denen vermutlich bereits die ersten tödlich waren, hat sie wie im Blutrausch immer wieder auf ihre ehemalige Liebespartnerin eingestochen, bevorzugt auf das Gesicht. Schließlich hat sie mit mehren Werkzeugen und harten Gegenständen das Gesicht des leblosen Opfers bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Ein barbarisches Massaker, das selbst den erfahrenen zuständigen Staatsanwalt Ralph Hinkelmann erschütterte. Er sagte bei seinem Schlussplädoyer: „Es ist ein zutiefst erschütterndes Verbrechen, was in der Geschichte des Strafverfahrens in Münster so ohne Beispiel ist.“ Die junge Täterin wurde im Jahr 2016 von der Jugendstrafkammer des Landgerichts Münster angeklagt.  Nach anfänglicher Mordanklage wurde sie schließlich wegen Totschlags zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt, verbunden mit der Auflage einer Unterbringung in der Psychiatrie. Anlass für das Tötungsdelikt war die Trennung der Ex-Partnerin (ausführliche Darstellung von Csef 2020 in dieser Zeitschrift).

Der Blutrausch des Übertötens mit einem Messer

Die beiden grausamen Bluttaten aus Freudenberg und Senden sind sicherlich extreme Ausnahmefälle, die in dieser Art selten vorkommen. Das junge Alter zum Tatzeitpunkt und das weibliche Geschlecht sind sicherlich außergewöhnlich. Die in der obigen Chronologie dargestellten Messerangriffe in deutschen Schulen sind in dieser Art viel häufiger. Nur ein Teil dieser Angriffe war tödlich.

Die beiden schrecklichen Fälle aus Freudenberg und Senden verdeutlichen ein Phänomen, das es bei tödlichen Messerattacken häufiger gibt: das Übertöten. Wie im Blutrausch wird immer wieder zugestochen, obwohl das Opfer bereits leblos oder tot ist. Dies erinnert Gewaltforscher an Forschungen über den Blutrausch von Kindersoldaten, die mit Messern oder Macheten grausam töten. Diese Bluttaten sind meist mit einem großen längeren Aggressionsstau und mit massiven Affekten wie Wut, Hass, Rache oder Vergeltungsdrang verbunden. Ähnliche „Blutbäder“ gibt es bei Intimiziden, wenn der Liebespartner im Affekt mit einem Messer getötet wird. Die Zahl der Messerstiche verdeutlicht die Intensität der zugrundeliegenden mörderischen Affekte.

Ursachen von Messerkriminalität 

Die aussagekräftigsten deutschen Studien zur Messerkriminalität wurden durch Mitarbeiter der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden durchgeführt. Diese gehen auch auf Risikofaktoren, Tätercharakteristika, Tatumstände und mögliche Ursachen ein. Untersucht wurden in einem Vergleich 519 bzw. 452 Fälle von Gewaltkriminalität der Jahre 2013 und 2018 im Bundesland Rheinland-Pfalz (Rausch et al 2022, 2023). Die Täter waren rechtskräftig verurteilt und es wurde Gewaltkriminalität mit oder ohne Messer verglichen. Die beiden Gruppen unterschieden sich nicht signifikant in soziodemographischen Daten, wohl aber in Risikofaktoren und möglichen Ursachen. Die Täter von Messerkriminalität hatten häufiger psychische Erkrankungen und eigene Viktimisierungs-Erfahrungen in der Vorgeschichte, d.h. die Täter waren früher selbst Gewaltopfer, meist von häuslicher Gewalt durch die Eltern. Unter den situativen Faktoren spielten Alkohol und Drogen eine große Rolle. Das Verhältnis von Tätern zu Täterinnen war in beiden Stichproben etwa 10 : 1. Das Alter lag zwischen 14 und 90 Jahren mit einem Durchschnittsalter von 30,4 bzw. 32,4 Jahren. Es überwogen hinsichtlich Beziehungsstatus und Täter-Opfer-Beziehung eindeutig Intimizide von Männern an ihren Frauen. Für das Thema der Messerkriminalität durch Kinder und Jugendliche sind deshalb die beiden Studien nur bedingt aussagekräftig. Systematische Studien an dieser Altersgruppe zur Messerkriminalität gibt es im deutschen Sprachraum noch nicht. Hierin liegt eindeutig ein erhebliches Forschungsdefizit.

Präventionsmöglichkeiten

Die wichtigste Botschaft der beiden oben zitierten Messerkriminalitäts-Studien der Forschergruppe um Elena Rausch (Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden) dient der Prävention. Risikokinder mit einem erhöhten Aggressionspotential stammen danach oft aus Gewaltfamilien. Durch häusliche Gewalt entsteht Gewalt bei Kindern. Hier sollte Prävention so früh wie möglich ansetzen. Es gibt bereits kriminalpräventive Ansätze der Polizei in Kitas (Wagner et al 2023). Hier liegt die größte Präventionschance bezüglich Messerkriminalität von Kindern und Jugendlichen. Weitere kriminalpräventive Maßnahmen wurden für Schulen entwickelt. Bewährt haben sich multiprofessionelle Schulteams zur Beratung, Gewaltprävention und Krisenintervention. In diesen sollten die Schulleitung, spezifische geschulte Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, der Hausmeister und die Schulsekretärinnen vertreten sein (Striewski 2023). Ob generell Messerverbote an Schulen eingeführt werden sollen sowie ob und wie diese kontrolliert werden, ist aktuell Gegenstand kontroverser Diskussionen.

Literatur

Bundeskriminalamt BKA (2023): Häusliche Gewalt. Bundeslagebild 2022. Bericht vom 11. Juli 2023. Wiesbaden: Bundeskriminalamt

Bundesministerium des Inneren und für Heimat (Hrsg.) (2024): Polizeiliche Kriminalstatistik 2023. download vom 9. April 2024

Csef, Herbert (2020): Blutiges Ende einer lesbischen Beziehung. Die Bluttat von Senden bei Münster im Jahr 2015. Tabularasa Magazin vom 9. April 2020

Csef, Herbert (2024): Gewaltkriminalität bei Kindern und Jugendlichen. Prävalenzzahlen, Opfer-Täter-Transition, Prävention. Die Kriminalpolizei Nr. 4

Langemann, Simon (2024): „Es war ein ganz normaler Abend“. Steigt in Deutschland die Zahl der Messerangriffe? Die Zeit vom 2. Mai 2024

Luedtke, Jens (2024): „Jeder Fünfte nimmt ein Messer mit in die Schule“. Interview mit Anant Agrawala. Die Zeit vom 11. März 2024

Rausch, Elena, Hatton, Whitney, Brettel, Hauke, Rettenberger, Martin (2022): Ausmaß und Entwicklung der Messerkriminalität in Deutschland: empirische Erkenntnisse und kriminalpolitische Implikationen. Forensische Psychiatrie Psychologie Kriminologie 16: 42-50

Rausch, Elena, Hatton, Whitney, Brettel, Hauke, Rettenberger, Martin (2023): Messergewalt in Deutschland: Eine empirische Untersuchung zu Risikofaktoren sowie Täter- und Tatcharakteristika. Forensische Psychiatrie Psychologie Kriminologie 17: 327-337

Striewski, Rainer (2023): Messer in der Schultasche: Was tun? Klare Regeln gegen Messerattacken an Schulen. WDR Aktuelle Stunde vom 5. September 2023

Wagner, Teresa, Simon-Erhardt, Franziska, Pfeffer, Simone, Storck, Christina (2023): Resilienz und Sicherheit als Ressourcen gegen Gewalt – Prävention von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Kindertageseinrichtungen mit dem Projekt ReSi+. Forum Kriminalprävention 3, 8 – 10

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.