Die Vorgaben für dieses außergewöhnliche Ereignis waren klar: Vor 80 Jahren wurde das Hauptwerk des Ökonomie-Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek veröffentlicht. Dieses einzigartige Werk hat eine Welt-Gesamtauflage von fast 2,5 Millionen Exemplaren und wurde in fast 50 Sprachen übersetzt. Hayek verfasste dieses hervorragende Buch während der Zeit des Zweiten Weltkriegs und es ist durchaus durch diesen historischen Hintergrund geprägt. Inhaltlich ist es ein leidenschaftliches Plädoyer für Freiheit und Demokratie und eine bittere Kritik am Sozialismus. Hayek war in erster Linie Ökonom, aber auch Sozialphilosoph und politischer Philosoph. Wirtschaftspolitisch enthält sein Hauptwerk ein Postulat für das freie Spiel der Kräfte in einem freien Markt und eine fundamental liberale Grundhaltung. Hayek sah sich selbst als „Liberaler“ und er wird von vielen Experten als Vordenker des Neoliberalismus eingeordnet (vgl. Csef 2024).
Hayek wehrte sich heftig gegen planwirtschaftliche Strukturen der Ökonomie, gegen Subventionen und staatliche Interventionen. An den renommierten London School of Economics war er zwei Jahrzehnte lang Professor und Gegenspieler des ebenfalls sehr bekannten Ökonomen John Maynard Keynes. Dieser war für staatliche Interventionen, Subventionen und Interventionismus. Hayek war strikt gegen solche Versuche der staatlichen Beeinflussung der Wirtschaftsdynamik. Die Kontroverse Keynes versus Hayek gipfelte in dem Satz, den Hayek seinem Kontrahenten Keynes entgegenhielt: „Brot heute – Hunger morgen“. Die heute aufgenommenen Schulden für Brot werden für den Hunger in zukünftigen Krisen verantwortlich sein. Entsprechend wäre in der aktuellen wirtschaftlichen Lage Deutschlands Keynes für Subventionen und Aufhebung der Schuldenbremse. Hayek würde die Gegenposition vertreten.
Vorgegeben für die Hayek-Gedenkveranstaltung in Berlin im März 2024 war das Thema „80 Jahre Weg zur Knechtschaft“. Die wesentlichen politischen Akteure aus Deutschland waren Bundeskanzler Olaf Scholz als Sozialdemokrat und Finanzminister Christian Lindner als „Liberaler“. Die Ministerpräsidentin von Estland, Kaja Kallas, die zwei Jahre zuvor den Internationalen Preis der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung verliehen bekam, hielt den Eröffnungsvortrag. Es folgten der Vortrag von Bundeskanzler Olaf Scholz und eine Diskussion. Bundesfinanzminister Christian Lindner vertrat anschließend in einem Interview seine liberale Position. In einer Podiumsdiskussion tauschten sich Mitglieder des Kuratoriums der Hayek-Stiftung aus (Udo di Fabio, Otmar Issing und Bundeskanzler a.D. Wolfgang Schüssel). Das Schlusswort sprach Jens Weidmann, der Vorsitzende des Kuratoriums der Hayek-Stiftung und ehemalige Präsident der Deutschen Bundesbank.
Symbolträchtige Inszenierung
Die Wahl des Tagungsortes darf als gelungene Inszenierung gewürdigt werden. Die Hayek-Gedenktagung fand am 19. März 2024 in der deutschen Hauptstadt Berlin statt. Konkret war es im „Berliner Hotel de Rome“. Dieses Hotel war zu DDR-Zeiten der Sitz der ostdeutschen Zentralbank. Das Gebäude liegt am Bebel-Platz, der der Hauptschauplatz für Bücherverbrennungen der Nazi-Diktatur im Jahr 1933 war. DDR-Diktatur, Nazi-Herrschaft, Geldpolitik – Totalitarismus in mehreren Generationen und staatliche Lenkung der Geldströme – alles Themen, die Friedrich August von Hayek intensiv beschäftigten.
Nun war 80 Jahre später hier in Berlin alles sehr verdichtet präsent. Nach dem Eröffnungsvortrag von Kaja Kallas kamen die Beiträge von zwei deutschen Politikern, die gerade zur Wirtschaftspolitik Hayeks extreme Antipoden sind: Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner. Scholz will die Schuldenbremse aufheben und die Wirtschaft mit massiven Subventionen ankurbeln – Lindner beharrt hartnäckig auf der gesetzlich vorgeschriebenen Schuldenbremse und lehnt Subventionen ab.
Eröffnungsvortrag der Ministerpräsidentin von Estland Kaja Kallas
Die estnische Ministerpräsidentin gab ihrem Vortrag den Titel „Fighting for freedom requires strong resolve in a time of hesitation”. Die Formulierung „in einer Zeit des Zögerns oder Zauderns“ bezieht sich nicht auf die ausgeprägten Bedenken des deutschen Kanzlers bezüglich bestimmter Waffenlieferungen für die Ukraine. Vielmehr ist es ein Zitat aus dem Vorwort der englischsprachigen Erstausgabe von „Der Weg zur Knechtschaft“ („The Road to Serfdom“), das John Chamberlain geschrieben hat und der von einer „time of hesitation“ sprach. Kaja Kallas nahm mehrmals Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Eine Unterwerfung unter das gewalttätige Regime Russlands im Falle eines Sieges der Angreifer hätte in der Tat Knechtschaft zur Folge. Hayek warnte in seinem Buch gezielt vor dem sowjetischen Sozialismus und Totalitarismus. Genau dessen schier grenzenlose Destruktivität erlebt die Welt zurzeit. Bezüglich der ökonomischen Situation in der Europäischen Union warnte Kallas vor Subventionen und der Tendenz vieler Unternehmen, Verluste durch staatliche Unterstützung auszugleichen und Gewinne zu privatisieren. Subventionen führen ihrer Meinung nach in eine „Kultur der Abhängigkeit“ und sie lähmen die Kräfte der Wettbewerbsfähigkeit. Wiederholt warnt Kallas vor der russischen Aggression. Der Kreml sehe die liberale Demokratie als den grössten Feind. Deshalb sei Russland eine extreme Gefahr für den Frieden und die Freiheit. Der Westen brauche deshalb eine feste Entschlossenheit.
Am Schluss ihres Vortrags erzählte Kallas von ihrem Vater, der in Estland Finanzminister war und vor 23 Jahren das Vorwort zur estnischen Ausgabe von „Der Weg zur Knechtschaft“ geschrieben hat. Sie zitierte ihren Vater: „Why should today’s reader read a book that was published in 1944? The answer is: to wonder, to be amazed at how relevant the Nobel laureate’s thoughts are even now, so many years later. This book is a classic.”
Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz
Der deutsche Bundeskanzler sprach ausgehend von den aktuellen Krisen über die Notwendigkeit, durch technologischen Fortschritt, Innovationen und Wandel wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen. Er analysierte Wachstumsbremsen wie Arbeitskräftemangel und Bürokratismus. Scholz lobte wesentliche Gesetzgebungen der Ampelregierung: Das Arbeitskräfteeinwanderungsgesetz, das Gesetz zur Eindämmung der irregulären Migration und das Bürokratieabbaugesetz.
Die Fähigkeit zur Innovation und Transformation seien aber Grundvoraussetzungen für Wirtschaftswachstum:
„Es ist die Wahrheit: Wir werden in einer innovativen Gesellschaft mit vielen Disruptionen von den Dingen, die wir vor 20 Jahren konnten, nicht mehr viel Einkommen erwarten dürfen. Es müssen Sachen sein, die wir noch nicht kennen und erst entwickeln müssen. Dafür ist zum einen notwendig, Wachstumsbremsen zu lösen, zweitens gilt es, Wachstum gerade in Zukunftsbranchen möglich zu machen – und dafür müssen wir die nötigen Investitionen tätigen. Da kann der Staat helfen – das muss er auch in Zeiten der Transformation – und das durch Anreize unterstützen.“ (Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am 19. März 2024)
Bundesfinanzminister Christian Lindner
In einem Interview mit der Moderator Nikolaus Blome griff Finanzminister Christian Lindner die Position von Olaf Scholz auf. Lindner ist kritisch zum Lösen der Wachstumsbremsen, wenn Investitionen durch Schulden finanziert werden oder Subventionen den freien Wettbewerb verzerren. Bezüglich Transformation und Innovationen sieht er insbesondere in der Energie- und Klimapolitik einen problematischen „Top-down-Ansatz“. Es werde von oben nach unten geplant, ohne zu wissen, welche Technologien bis zum Zieljahr 2045 noch entwickelt würden. Lindner betont die Skepsis, die Hayek gegenüber staatlichen Planungen und Steuerungsversuchen hatte. Vielmehr solle im freien Spiel der Märkte und Kräfte das ausprobiert werden, was sich als erfolgreich erweist und bewährt.
Resonanz und Medienecho
Die Hayek-Tagung von Berlin war kein großer Kongress, vielmehr eine Konferenz in kleinen Kreis, gestaltet von der Hayek-Stiftung mit zwei ausgewählten Vorträgen von führenden Regierungsrepräsentanten zu einem Thema von Friedrich August von Hajek. Die Resonanz in den Medien war groß. Fast alle bedeutenden deutschen Zeitungen berichteten ausführlich darüber (Schäfers 2024, Böcking 2024). Im Internationalen Medienecho imponiert ein ausführlicher Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung (Höltschi 2024). Der Autor fokussiert die konträren Positionen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner, bei denen nur die Spitze des Eisbergs sichtbar wurde. Der Großteil blieb unter der Oberfläche. Das passt auch zum Stil der kleinen Konferenz mit überwiegend geladenen Gästen. Kontroverse Diskussionen waren gar nicht vorgesehen. Deshalb zwei Hauptvorträge und ein Interview. Im Podiumsgespräch diskutierten dann wieder andere. René Höltschi von der NZZ brachte doch in zwei kurzen Zwischenüberschriften das Wesentliche auf den Punkt: „Scholz lobt sich selbst“ und „Lindner spöttelt“. So der nachbarschaftliche Blick aus der Schweiz. Da war es sehr ausgleichend und inspirierend, dass der Gast aus Estland, die Ministerpräsidentin Kaja Kallas, am deutlichsten das hervorragende geistige Erbe von Friedrich August von Hajek dargestellt hat.
Literatur
Böcking, David (2024), Scholz und Lindner unter Neoliberalen. Tagung der Hayek-Stiftung. Spiegel vom 19. März 2024
Brunetti, Anna, Singh, Rajnish (2024), Kaja Kallas warnt Deutschland vor der Abhängigkeit von Subventionen. Euractiv (The Trust Project) vom 19. März 2024
Csef, Herbert (2024), Friedrich August von Hayek (1899 – 1992) – vor 80 Jahren erschien sein populärstes Werk „Der Weg zur Knechtschaft“. Tabularasa Magazin vom 12. März 2024
Hayek, von, Friedrich August (2014), Der Weg zur Knechtschaft. Reinbek/München: Lau-Verlag OLZOG Edition
Höltschi, René (2024), „Weg zur Knechtschaft“: Scholz und Lindner streiten über die Thesen des antisozialistischen Ökonomen Hayek. Neue Zürcher Zeitung vom 20. März 2024
Kallas, Kaja (2024), Fighting for freedom requires strong resolve in a time of hesitation. ERR News. 19th March 2024
Schäfers, Manfred (2024), Die geknechtete Freiheit: Hajeks Wert für heute. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 2024
Scholz, Olaf (2024), Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Konferenz der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung zum achtzigjährigen Jubiläum der Veröffentlichung „Weg zur Knechtschaft“ am 19. März 2024 in Berlin. Die Bundesregierung, Berlin
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef
Email: herbert.csef@gmx.de