Goldene Lola für „Sterben“ – „Liebe ist möglich“ – Matthias Glasner und seine Dankesrede für den Filmpreis von „Sterben“

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Bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises am 3. Mai 2024 stand das Filmdrama „Sterben“ von Matthias Glasner mehrmals im Mittelpunkt. Der Film ging mit 9 Nominierungen ins Rennen und erhielt vier Auszeichnungen: Die Goldene Lola für den Besten Spielfilm. Corinna Harfouch gewann den Preis als „Beste weibliche Hauptdarstellerin“. Lorenz Dangel wurde für die „Beste Filmmusik“ geehrt und Hans-Uwe Bauer für die „Beste männliche Nebenrolle“. Matthias Glasner war im Vorfeld auch für das „Beste Drehbuch“ nominiert. Lars Eidinger war für als „Bester männlicher Hauptdarsteller“ nominiert, den jedoch Simon Morzé für seine Hauptrolle im Film „Der Fuchs“ erhielt.

In mehreren Interviews wurde von Schauspielern des Films das Drehbuch sehr gelobt. Matthias Glasner war Drehbuchautor und Regisseur des Filmdramas „Sterben“. Das Drehbuch hat er in wenigen Wochen geschrieben – ein außergewöhnliches „Flow-Erlebnis“ der Kreativität. Dieser Flow wurde aus tiefen Quellen des eigenen Lebens von Matthias Glasner gespeist. Es ist sehr viel Herzblut darin enthalten, auch viel Leid. Er selbst betonte immer wieder in Interviews, dass das Drehbuch und der Film sehr autobiografisch geprägt seien und viele Szenen „eins zu eins“ aus seinem Leben stammen.

Das Filmdrama „Sterben“ über Lieblosigkeit und Kaltherzigkeit in Beziehungen

In dem Film werden viele existenzielle Themen dargestellt. Das oft im höheren Lebensalter auftauchende Leiden durch Krankheiten, Verfall, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit. Schließlich das faktische Sterben – am Filmanfang des Vaters, am Filmende der Mutter. Dazwischen der Suizid des Komponisten Bernard. Der rote Faden in der zerrütteten Familie ist die Lieblosigkeit und Kaltherzigkeit der Mutter Lissy Lunies. Zuneigung, emotionale Wärme oder herzliche Nähe sind wie Fremdworte für sie. Sie hat diese schwer zu ertragenden emotionalen Defizite an ihre Kinder weitergegeben und sie für das weitere Leben geschädigt. Die Tochter Ellen reagierte darauf mit einem kompletten Kontakt- und Beziehungsabbruch. Im Film ist keine einzige Szene von Ellen mit einem Elternteil zu sehen. Zur Beerdigung des Vaters kam sie nicht – bei der Beerdigung der Mutter waren beide Eltern tot. Tom suchte selten Kontakt, dann meist widerwillig und mit schlechtem Gewissen. Er besuchte immerhin in eindrucksvollen Szenen seinen Vater im Pflegeheim. In seinem Leben ist er relativ beziehungsunfähig. Seine Beziehungen zur Ex-Freundin Liv und zu seiner Assistentin sind unsicher und ambivalent. Die Weitergabe von Traumata, Beziehungsängsten oder dysfunktionalen Beziehungsmustern wird also in dem Film zu einem Hauptthema.

Der erschütternde Mutter-Sohn-Dialog am Küchentisch

In der Mitte des Filmdramas wird eine Dialog-Szene zwischen der Mutter Lissy und dem Sohn Tom Lunies zu einem der Höhepunkte des Filmes. Sie ereignet sich unmittelbar nach der Beerdigung des Vaters am Küchentisch in der elterlichen Wohnung. Corinna Harfouch und Lars Eidinger spielen diese Szene grandios. Sie ist der tragische Kulminationspunkt der unbewältigten und konfliktreichen Mutter-Sohn-Beziehung. Relativ unvermittelt gesteht Lissy ihrem Sohn Tom, dass er kein Wunschkind war und dass sie ihn nie geliebt habe. Vielmehr habe sie ihn sogar einmal auf den Boden fallen lassen oder absichtlich zu Boden geworfen. Sie habe deshalb lange Zeit Schuldgefühle gehabt und habe gefürchtet, er könnte einen Hirnschaden dadurch erlitten haben. Tom kontert mit einer Szene aus dem vermutlich achten Lebensjahr, in der die Mutter ihn einen ganzen Tag damit schikanierte, er solle sich für etwas entschuldigen, ohne dass er wusste, wofür. Die Mutter konnte sich gar nicht mehr daran erinnern. Tom wird immer wortkarger und immer mehr spricht sein Gesicht, das einen starken unterdrückten Affekt signalisiert. Plötzlich schlägt Tom mit seiner Faust auf den am Tisch stehenden Kuchen. Dann verlässt er wortlos und verstört den Raum. Diese Szene offenbart genial das kommunikative Scheitern, unter dem Tom in seinem Leben immer gelitten hat.

Vom selbsterlebten „Trauma“ zur schöpferischen Kreativität

Wenn der Drehbuchautor und Regisseur Matthias Glasner in Interviews wiederholt betonte, wie stark autobiografisch diese Filmgeschichte ist, so ist er selbst wohl das Alter-Ego von Tom Lunies oder umgekehrt. Lars Eidinger spielt sehr eindrucksvoll, was Matthias Glasner selbst mit seinen Eltern durchlitten hat. Auch er hatte lieblose Eltern und war ebenfalls distanziert und abwesend als die Eltern nach langem Siechtum starben. In einer Selbstdarstellung in der Zeitung „Der Freitag“ schrieb er über die Entstehungsgeschichte seines Drehbuches. Er saß in einem Coffee Shop gleich neben seiner Wohnung und sah „die Gespenster seiner Eltern“. Die aufsteigenden Erinnerungen weckten in ihm einen eigenartigen Wunsch:

„Ich will ihnen verdammt nochmal endlich nahekommen, was mir Zeit ihres Lebens nicht gelungen ist. Und die einzige Methode für mich, überhaupt irgendetwas oder irgendwem nahe zu kommen, ist es, einen Film zu machen. Also fange ich an zu schreiben.“

So ging er zwei Monate lang fast täglich in diesen Coffeeshop, um dort im Kaffeemaschinenlärm und Stimmengewirr sein Drehbuch für den Film „Sterben“ zu schreiben. Zwischen Übermüdung und manischer Getriebenheit habe er geschrieben. Nach zwei Monaten hatte er immerhin 200 Seiten produziert.

Die berührende Dankesrede von Matthias Glasner

Die Dankesrede von Matthias Glasner bei der Verleihung der Goldenen Lola für den besten Spielfilm beim Deutschen Filmpreis war aufschlussreich. Er sagte zuerst: „Ich muss zugeben, es war ein echt aufregender Abend. Ich bin ganz schön durch den Wind, ehrlich gesagt.“

Glasner beendete seine Dankesrede wohl mit dem wichtigsten Punkt: Er bedankte sich bei seiner im Publikum sitzenden Ehefrau und bei seinen Kindern dafür, dass sie ihm die Liebe gelehrt haben, die er ihm Leben vorher oft vermisst hat. Sein Bekenntnis gipfelt in den Worten: „Liebe ist möglich!“ Dies war für mich persönlich der schönste Moment bei der Übertragung der Filmpreis-Veranstaltung. Sehr emotional und authentisch wirkten diese Worte. Vermutlich hat Matthias Glasner das erlebt, was viele Menschen nach einer Kindheit mit gefühlsarmen, gefühllosen oder lieblosen Eltern erlebt haben: dass sie in einer glücklichen und gelingenden Partnerbeziehung etwas wunderbar Neues erfahren können und damit das „frühe Leid“ Schritt für Schritt bewältigt werden kann. Falls diese positive Erfahrung ausbleibt – was leider auch oft vorkommt – wiederholt sich das frühe Leid in wiederkehrenden Erfahrungen von Enttäuschungen. Das qualvoll erlittene „Kindheits-Trauma“ wird dann zu einem Wiederholungszwang.

Glasner nimmt an, dass die meisten Künstler eine schwierige Kindheit hatten und dass diese Leiderfahrung konstitutiv für die spätere Kreativität ist:

„Ich glaube, dass die meisten Künstler groß geworden sind mit dem Gefühl, ungeliebt, unrichtig, falsch zu sein.“ Und „Menschen, die glücklich sind, sind mir total fremd.“ (zitiert nach Interview mit Carolin Ströbele, Die Zeit).

„Liebe ist möglich“ – ein hoffnungsvoller Ausblick für die Zukunft

Mit seinem hoffnungsvollen Plädoyer für die mögliche Liebe gab Matthias Glasner seiner jetzigen Familie und den Zuschauern eine Hoffnung für die Zukunft. In einer Zeit von Krisen und Hass kann dies gar nicht hoch genug geschätzt werden. Ehrengast bei der Veranstaltung war die 102 Jahre alte Margot Friedländer, die in der Nazizeit das Konzentrationslager überlebt hat und mahnende Worte sprach. Der weltberühmte Philosoph Karl Popper betonte wiederholt: „Die Zukunft ist offen“. Mit den Worten „Liebe ist möglich“ von Matthias Glasner erfährt diese Offenheit der Zukunft eine besonders schöne und hoffnungsvolle Gestalt.

Literatur

Glasner, Matthias (2024). „No hope no fear”. Kommentar. Der Freitag vom 22. April 2024

Glasner, Matthias (2024). „Menschen, die glücklich sind, sind mir total fremd.“ Interview mit Carolin Ströbele. Die Zeit vom 3. Mai 2024

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.