Brigitte Reimann (1933 – 1973) zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der DDR. Sie war befreundet mit Christa Wolf und anderen bekannten Schriftstellern. Leider ist sie früh an Krebs gestorben – mit 39 Jahren. Sie hat ein umfangreiches literarisches Oeuvre hinterlassen – Romane, Erzählungen, umfangreiche Tagebücher und Briefwechsel. Nach ihrem Tod sind nach und nach viele ihrer Bücher erschienen. Zuerst wurde sie in Westdeutschland durch ihre sehr lesenswerten Tagebücher bekannt. Ihr vor etwa 70 Jahren geschriebener Debütroman „Die Denunziantin“ ist erstmals im Jahr 2022 erschienen. Kürzlich wurde bei Bauarbeiten in Hoyerswerda die Originalfassung ihres Romans „Die Geschwister“ entdeckt, so dass im Jahr 2023 eine unzensierte Neuauflage herausgegeben werden konnte. In diesem Jubiläumsjahr erschien auch die erste ausführliche Biographie über Brigitte Reimann von Carsten Gansel.
90. Geburtstag und 50. Todestag im Jahr 2023
Nicht nur die vielen Neuerscheinungen, sondern auch das besondere Gedenkjahr 2023 bringen immer wieder Brigitte Reimann in die Medien und ins Gespräch. Am 21. Juli 1933 wurde sie in Burg bei Magdeburg geboren. Im Jahr 1968 ist sie an Brustkrebs erkrankt, wurde mehre Male operiert und erhielt Strahlentherapien. Den Kampf gegen den Krebs hat sie leider verloren. Am 20. Februar 1973 ist sie an ihrer Erkrankung in Berlin-Buch gestorben. Das Gedenkjahr 2023 erinnert also sowohl an ihren 90. Geburtstag als auch an ihren 50. Todestag.
Kurzes biografisches Porträt
Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 als erstes Kind des Ehepaares Reimann in Burg bei Magdeburg geboren. Sie hatte noch zwei jüngere Brüder und eine Schwester. Ihr Vater war von Beruf Journalist und Bankkaufmann. Er war ein Literaturliebhaber, so dass es im Elternhaus von Brigitte Reimann eine große Bibliothek mit klassischer Literatur gab. Mit acht Jahren las sie bereits den „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe und Dramen von William Shakespeare. In ihrem 14. Lebensjahr erkrankte sie an Kinderlähmung und hatte deshalb einen längeren Krankenhausaufenthalt. Sie war bereits als Jugendliche Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ in Burg. Im Jahr 1951 absolvierte sie erfolgreich das Abitur und arbeitete anschließend als Lehrerin. Der damalige Regierungschef Walter Ulbricht berief sie frühzeitig in die Jugendkommission beim Zentralkomitee der SED. Kurze Zeit arbeitete sie als IM der Stasi, löste sich jedoch bald aus der Verstrickung. Ihr Debütroman „Die Denunziantin“, den sie mit 19 Jahren schrieb, wurde von Verlagen abgelehnt und ist mehr als 70 Jahre später im Jahr 2022 erstmals veröffentlicht worden. Für ihre Erzählung „Die Geschwister“ erhielt sie im Jahr 1965 den Heinrich-Mann-Preis. Brigitte Reimann war gut vernetzt in den DDR-Schriftsteller-Kreisen. Mit Anna Seghers und Christa Wolf hatte sie einen ausführlichen Briefwechsel, die beide als Monografien erschienen sind. Ihr Privatleben war durch vier gescheiterte Ehen geprägt, die überwiegend wegen ihrer ausgeprägten sexuellen Affären zerrüttet wurden. Ihre ersten drei Ehen dauerten im Durchschnitt etwa fünf Jahre. Bei den zwei ersten Scheidungen lebte sie bereits mit dem neuen Ehemann zusammen. Bekannt wurde ihre zweite Ehe mit dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann. Beide galten als das Vorzeige-Autoren-Ehepaar der DDR. Sie schrieben sich viele Briefe. Der Briefwechsel wurde im Jahr 2013 von der Reimann-Kennerin Kristina Stella herausgegeben. Im Jahr 1968 ist sie an Brustkrebs erkrankt. Mehrere Krebsoperationen und Strahlentherapien erfolgten während des fünfjährigen Krankheitsverlaufes. Durch immer wieder aufflackernde Metastasen wurde ihre Brustkrebserkrankung unheilbar und sie starb daran viel zu früh mit erst 39 Jahren.
Ein bewegtes Leben – Lebensgier, Hunger nach Leben, Sehnsucht nach Liebe
In ihrem kurzen Leben war Brigitte Reimann viermal verheiratet und hatte nebenher zahlreiche Affären. Alle Beziehungen blieben kinderlos. Nach einer Todgeburt im Jahr 1954 unternahm sie einen Suizidversuch. An ihre Freundin Irmgard Weinhofen in Amsterdam schrieb sie: „Oh Gott, ich bin so hungrig aufs Leben!“. Diese Worte griff der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel auf und gab seiner Reimann-Biographie den Titel „Ich bin so gierig nach Leben“. Als im Literarischen Quartett im Jahr 1998 die Tagebücher von Brigitte Reimann besprochen wurde, betonte der namhafte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki besonders ihre Sehnsucht nach Liebe mit den folgenden Worten:
„Ich kann mich nicht erinnern, das Buch einer Frau in deutscher Sprache gelesen zu haben, in dem die Sehnsucht nach Liebe mit einer solchen Sinnlichkeit und Intensität gezeigt wurde.“
Im Jahr 2004 erschien eine Fernsehproduktion über Brigitte Reimann auf der Grundlage ihrer Tagebücher. Der Film trägt den Titel „Hunger auf Leben“. Die bekannte Schauspielerin Martina Gedeck spielte darin die Hauptrolle der Brigitte Reimann.
Die erste umfangreiche Biografie erschien zu ihrem 90. Geburtstag im Juli 2023. Sie wurde von dem Literaturwissenschaftler Carsten Gansel verfasst und hat einen Umfang von mehr als 700 Seiten. Der Biograph gab seinem Buch den treffenden Titel „Ich bin so gierig nach Leben.“ Brigitte Reimann war wohl auch gierig auf Sex und hatte viele Affären. Daran scheiterten alle vier Ehen. Schon erheblich durch ihre Krebserkrankung gezeichnet, heiratete sie im Jahr1971 den Arzt Rudolf Burgartz. Auch ihn hat sie wohl betrogen, so dass der wohl die Tagebücher ihrer letzten Jahre verschwinden ließ. Enge Vertraute von Brigitte Reimann – Ines Burdow, Juergen Schulz und ihre Jugendfreundin Irmgard Weinhofen – betonten wiederholt, dass sie bis zu ihrem Lebensende die Gewohnheit beibehielt, regelmäßig Tagebuch in broschierte schwarze A5-Schulhefte zu schreiben. Die Tagebücher der Jahre 1970 bis 1973 sind bis heute verschwunden. Der Nachlass nach ihrem Tod erhielt ihr vierter Ehemann, der Arzt Rudolf Burgartz.
Es gab bereits im November 1959 eine Vernichtungsaktion von Reimann-Tagebüchern – damals von eigener Hand. Es war zu Beginn der zweiten Ehe mit Siegfried Pitschmann. Sie wollte ein neues Leben anfangen und ihren bisherigen beziehungsschädlichen Lebensstil beenden. Deshalb hat sie damals alle früheren Tagebücher vor 1955 und viele Dokumente verbrannt. Sie wollte nicht, dass ihr zweiter Ehemann diese Schriftstücke einmal zu Gesicht bekommt oder liest. Ihre Vernichtungsaktion kommentierte sie in ihrem erhaltenen Tagebuch aus dem Jahr 1959 wie folgt:
„Meine Ehebrüche und widerwärtigen Betrugsmanöver, Dekadenz und Überdruss, verlorene Illusionen, quälerische Nächte über Büchern, die nie erschienen sind; Wochen und Monate in ständiger Besoffenheit, das Erwachen in fremden Betten…Morast, Irrwege, Irrtümer, billige Betäubungen“. (Reimann, Tagebücher 1955-1963).
Sie hat vieles verbrannt aus ihrer Vergangenheit – ihre „schmutzigsten und unglücklichsten Kapitel“ – gewandelt oder verändert hat sie sich leider nicht. Sie hatte weiterhin ihre sexuellen Affären und außerehelichen Beziehungen, Untreue, Lügen, Liebesverrat. Sie behielt diesen Lebensstil bis zu ihrem Tod. Selbst in der vierten Ehe mit einem Arzt und im Angesicht des nahenden Krebstodes ist sie vermutlich noch fremdgegangen.
Rezeptionsgeschichte
Brigitte Reimann ist 16 Jahre vor der Wende an ihrer Krebserkrankung gestorben. Der Großteil ihrer Werke ist in unzensierter Form erst nach dem Ende des SED-Regimes erschienen. Posthum und nach der Wende erschienen mehr als 20 Bücher von Brigitte Reimann, überwiegend Briefe und Tagebücher und Sammelbände mit ausgewählten Briefen und Tagebuch-Aufzeichnungen. In Westdeutschland wurde sie ebenfalls erst nach der Wende bekannt. Ausschlaggebend waren hier ihre Tagebücher. Die Tagebücher 1955 bis 1963 erschienen im Jahr 1997 unter dem Titel „Ich bedaure nichts.“ Im Jahr 1998 folgten die Tagebücher von 1964 bis 1970 unter dem Titel „Alles schmeckt nach Abschied“. Über die beiden Tagebücher-Bände erschienen in fast allen namhaften deutschen Zeitungen sehr positive Rezensionen. Das Literarische Quartett unter Leitung des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki besprach ausführlich die Tagebücher. Fast jährlich folgten dann neue Bände mit bislang unveröffentlichtem Briefwechsel – zuerst jene mit den Schriftstellerinnen Anna Seghers und Christa Wolf (1993), dann die mit Freundinnen (Freundin im Westen 1995 und Irmgard Weinhofen in Amsterdam 2003). Die Briefe mit dem bekannten Architekten Hermann Henselmann erschienen 2001, an die Eltern 2008 und an die Geschwister 2018. Am meisten Beachtung fand der Briefwechsel mit dem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann (2013). Dieser Band wird sicherlich in die Literaturgeschichte eingehen und wird in Zukunft in Anthologien über berühmte Schriftsteller-Paare aufgenommen werden. Er steht sicherlich in einer Reihe mit den Briefwechseln zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, von Ingeborg Bachmann und Max Frisch von Ivan und Claire Goll oder von Lou Andreas-Salome und Rainer Maria Rilke.
Im 21. Jahrhundert kam es durch die zahlreichen Publikationen von Tagebüchern und Briefen zu einer gewissen Brigitte-Reimann-Renaissance. Sie erhielt mehr Resonanz als die anderen DDR-Dichter. Es ist wie so oft die Dynamik des frühen Todes von Dichtern, der irgendwann bei großen Schriftstellern eine posthume Publikationswelle generiert. Die meisten Werke des mit 34 Jahren verstorbenen Dichters Heinrich von Kleist sind posthum erschienen.
Bei Brigitte Reimann kommen noch die Effekte der DDR-Zensur hinzu. Nach der Wende kam es zu unzensierten und vollständigen Neuausgaben. Die Originalmanuskripte zur bekannten Erzählung „Die Geschwister“ wurden erst im Jahr 2022 bei Bauarbeiten im ehemaligen Wohnhaus von Brigitte Reimann in Hoyerswerda entdeckt. Der Roman „Die Denunziantin“ aus dem Jahr 1952 wurde erst 70 Jahre später erstmals publiziert. Die jahrzehntelange anhaltende Resonanz führte nun im Jahr 2023 zum Anlass des 90. Geburtstages zur ersten umfangreichen Biografie über Brigitte Reimann durch Carsten Gansel.
Zerrissen zwischen Lust und Schmerz
Das bewegte und ambivalente, dabei sehr kurze Leben von Brigitte Reimann war zwischen den existenziellen Polen von Lust und Schmerz aufgespannt. Die Lustseite war geprägt durch intensive Lebensfreude, Neugier, positive Ausstrahlung, Begeisterungsfähigkeit, hohe Empathie und Emotionalität. Deshalb war sie so gewinnend. Aber sie war auch gierig und schier unersättlich. Daran scheiterten ihre Männerbeziehungen und vier Ehen. Sie tröstete sich schnell mit neuen Partnern über den seelischen Schmerz des Verlustes hinweg – die „billigen Betäubungen“ von denen sie selbst schrieb. Die Art und Weise, wie sie ihre Liebesbeziehungen selbst zerstörte, hat etwas psychopathologisch Autodestruktives. Es waren nicht nur Verletzungen des anderen – des Liebespartners – es waren auch seelische Selbstverletzungen. Da die umfangreiche Biografie von Carsten Gansel erst vor wenigen Tagen erschien, darf der Leser gespannt sein, ob sich darin psychologische Erklärungen für dieses selbstschädigende Verhalten finden. Bereits vor der Krebserkrankung bewegte sich also Brigitte Reimann in extremen Schwankungen zwischen Lust und Schmerz. Mit der Brustkrebs-Diagnose kam am Schmerzpol etwas Schwerwiegendes hinzu – der körperliche Schmerz und das Ausgeliefertsein an das Unheilbare. Operationen, Strahlentherapie, belastende Nebenwirkungen und körperliche Schmerzen prägten jetzt die Dimension des Schmerzes. Der Krebs ließ sich nicht leugnen, nicht betäuben und nicht betrügen. Er wurde immer mehr zur sehr harten und brutalen Realität. Er kostete ihr das einzige Leben.
Literatur
Gansel, Carsten, Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann. Die Biographie. Aufbau-Verlag, Berlin 2023
Reimann, Brigitte, Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher und Briefe 1948 bis 1973. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1984
Reimann, Brigitte, Sei gegrüßt und lebe. Briefwechsel mit Christa Wolf 1964 bis 1973. Aufbau Verlag, Berlin 1993
Reimann, Brigitte, Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955 bis 1963. Aufbau Verlag Berlin 1997
Reimann, Brigitte, Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964 bis 1970. Aufbau Verlag, Berlin 1998
Reimann, Brigitte, Franziska Linkerhand. Roman. Vollständige Ausgabe. Mit einem Nachwort von Withold Bonner. Aufbau Verlag, Berlin 1998
Reimann, Brigitte, Wär schön gewesen! Briefwechsel mit Siegfried Pitschmann. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013
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