13jähriger Junge tötet Mitschülerin. Zur Netflix-Serie „Adolescence“ über Cybermobbing und mordende Kinder

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Ein 13 Jahre alter Schüler ersticht eine gleichaltrige Mitschülerin. Dies ist die Kurzbeschreibung des Inhalts der zurzeit erfolgreichsten Netflix-Serie „Adolescence“. Inspiriert wurden die beiden britischen Drehbuch-Autoren Jack Thorne und Stephen Graham zu ihrem Film durch zwei reale Mordfälle, die sich kürzlich in London und Liverpool ereigneten und bei denen ein Kind ein anderes Kind tötete. Kinder sind viel häufiger Mordopfer, als dass sie als Täter von Tötungsdelikten in Erscheinung treten. Es werden zehnmal mehr Kinder umgebracht als umgekehrt.

In Deutschland erregten im Jahr 2023 drei Mordfälle großes Aufsehen, bei denen Kinder oder 14jährige Jungen als Täter ermittelt wurden. In Freudenberg (NRW) erstachen ein 12 und ein 13 Jahre altes Mädchen die 12 Jahre alte Schulkameradin Lisa auf einem Waldweg mit 70 Messerstichen. In Lohr am Main tötete ein 14jähriger Schüler einen ihm bekannten Gleichaltrigen mit einem Schuss in den Hinterkopf. Einige Wochen später erstach im norddeutschen Pragsdorf (Neubrandenburg) ein 14-Jähriger einen sechsjährigen Jungen, den er kannte und der in seiner Nähe wohnte.

In allen hier genannten realen Mordfällen und im Film „Adolescence“ kannten sich Täter und Opfer, alle waren noch sehr jung – und die Mordtaten waren geplant. Sie geschahen nicht aus einem Streit oder aus dem Affekt heraus. Bis auf den Freudenberger Mordfall, bei dem es wegen Strafunmündigkeit der Täterinnen keine Gerichtsverhandlung gab, wurde in allen drei anderen Fällen vom Gericht Mordmerkmale festgestellt und entsprechende Urteile gefällt. In allen genannten Mordfällen wurde von Experten der Einfluss von Social Media bei der Gewaltstimulation und Radikalisierung diskutiert.

In der Netflix-Serie „Adolescence“ geschah die Mordtat nach unbewältigtem Cybermobbing. Der selbstunsichere spätere Täter Jamie Miller, der die Nähe von Katie sucht, wird von ihr auf Instagram als sexuell unattraktiver Incel verspottet. Dies stürzt ihn in ein Wechselbad der Gefühle: Angst, Scham und tiefe Kränkung einerseits, überschäumende Wut und Racheimpulse andererseits. Das explosive Gemisch führt schließlich zur Mordtat. Gewalttaten, Tötungsdelikte und Suizide als Folge von Cybermobbing sind in der Gegenwart sehr reale Gefahren für junge Menschen (Csef 2019,2020).

Handlung der Netflix-Serie „Adolescence“

Früh morgens kommen zwei Polizisten in das Haus der Familie Miller und verhaften den 13 Jahre alten Sohn Jamie Miller wegen Mordverdachts. Sie bringen ihn aufs Polizeirevier und verhören ihn. Jamie leugnet die Tat, bis schließlich die Polizisten ihm und seinem Vater ein Beweisvideo zeigen, auf dem zu sehen ist, wie er auf einem öffentlichen Parkplatz seine Mitschülerin Katie Leonard mit mehreren Messerstichen tötet. In der zweiten Episode besuchen die beiden Ermittler die Schule von Jamie und suchen dort nach der Tatwaffe und nach Tatmotiven. Sie sprechen unter anderem mit der besten Freundin des Opfers, mit dem Freund von Jamie und mit Lehrern. Sie werden in beiden Punkten fündig: sie finden das Tatmesser und erfahren, dass Jamie kurz vor der Tat von seinem Opfer Katie auf Instagram gemobbt wurde. Cybermobbing war als ein wesentliches Tatmotiv. Die dritte Episode spielt in der Untersuchungshaft und zeigt die Gespräche von Jamie mit der forensischen Psychologin, die ihn für die Gerichtsverhandlung begutachten soll. Die vierte und letzte Episode spielt 13 Monate nach der Tat und zeigt das Familienleben der Restfamilie. Am 50. Geburtstag des Vaters Eddie Miller ruft ihn sein Sohn aus dem Gefängnis an, gratuliert ihm zum Geburtstag und teilt ihm mit, dass er bei der bevorstehenden Gerichtsverhandlung seine Mordtat gestehen will. Die Eltern von Jamie erkennen, dass sie den Onlineaktivitäten ihres Sohnes zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben und damit eine gewisse Mitverantwortung an dieser Tragödie haben.

Die aktuelle Krise der Männlichkeit – zwischen Selbstunsicherheit und toxischer Maskulinität, Incel-Kultur und Manosphäre

Der minderjährige Jamie Miller ist die tragische Figur der Serie. Er ist zuerst Opfer und wird zum Täter. Bei Gewaltdelikten ist es fast immer so, dass Opfer zu Tätern werden. Die meisten Täter haben eine Vorgeschichte mit eigenen Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen, mit Vernachlässigungen, Traumatisierungen oder Schicksalsschlägen. Die Aggressionsentwicklung von der Opfererfahrung bis zum Tötungsdelikt in oft ein langer Prozess. Bei Jamie Miller war die bedeutsame Opfererfahrung das Mobbing durch Katie. Er konnte die Kränkung durch das Cybermobbing und die darauffolgende Zurückweisung bei einem Annäherungsversuch nicht bewältigen. Angst, Scham und narzisstische Kränkung schlugen um in Wut, Hass und Racheimpulse Katie gegenüber. Sie hatte ihn vor anderen bloßgestellt, gedemütigt und zurückgewiesen. Cybermobbing rechtfertigt jedoch keinen Mord! Cybermobbing ist aktuell leider ein häufiges Phänomen. Täter oder Opfer kennen sich meistens und sind oft Schüler derselben Schule.

Es gibt jedoch einen psychosozialen Hintergrund für Cybermobbing. Die Verrohung und Radikalisierung im Internet. Social Media kann für Kinder und Jugendliche zur Gefahrenquelle werden. Die Filmserie „Adolescence“ hat einen sehr realen Hintergrund. Jamie ist gerade in der Pubertät und selbstunsicher. Von seinen Online-Aktivitäten haben seine Eltern keine Ahnung – wie sie am Schluss der Serie bekennen und bei sich eine Mitverantwortung und damit eine Mitschuld sehen. Sie kennen ihren Sohn zu wenig und sie wissen nicht, was ihn seelisch belastet. Als die Polizisten in die scheinbare familiäre Idylle einbrechen, um Jamie zu verhaften, ist zu spät. Als der Vater das Video mit den Szenen der Tötung Katies durch seinen Sohn Jamie sieht, bricht er vor den Polizisten in Tränen aus.

Sehr real ist auch, dass Katie ihren späteren Mörder als „Incel“ bloßstellt, kränkt und demütigt und diesen Vorgang in digitalen Medien mit anderen teilt. „Incel“ ist die Abkürzung von „involuntary celibate“ und bedeutet auf Deutsch „unfreiwillig zölibatär“. Incel wird abwertend auch für „sexuell unattraktiv“ verwendet. Der Begriff diffamiert Jungs, die zu ungeschickt und unattraktiv sind und deshalb keine Freundin kriegen, also quasi Versager beim Werben oder der Eroberung des weiblichen Geschlechts. Als Gegenmittel werden in der digitalen Incel-Kultur zahlreiche Tricks und Tipps empfohlen, wie man statt als Versager doch als Sieger vom Feld gehen kann. Die entsprechenden Empfehlungen tragen die Signatur einer „toxischen Maskulinität“ in der „Manosphäre“.

Jamie wird nicht unter vier Augen diskret zurückgewiesen, sondern vor aller Augen gedemütigt. Dies steigert die Scham und Wut enorm. Diese Beschämung kann nicht mehr zurückgenommen, relativiert oder ungeschehen gemacht werden. Jeder Mitschüler oder Bekannte, der diese Nachricht auf dem Handy empfangen hat, hat diese jederzeit verfügbar.

Frauen als Opfer: Frauenhass, Femizide und MeToo-Bewegung  

Katie ist das Mordopfer und ist an der Entwicklung der Tragödie nicht unwesentlich beteiligt. Ihr Cybermobbing hat die Gewaltlawine ins Rollen gebracht. Dadurch ist aber der Mord nicht zu rechtfertigen. Jamie hätte andere Reaktionsmöglichkeiten gehabt. Er hätte mit seinen Eltern sprechen können – wenn er gekonnt hätte. Die Eltern hingegen hätten sich mehr für seine Online-Aktivitäten interessieren können.

Frauen sind in vielen Gesellschaften viel zu oft Opfer von fehlgeleiteter männlicher Aggressivität und Gewalt. In Deutschland zeigen erfreulicherweise zahlreiche Gewaltdelikte eine rückläufige Tendenz (Pfeiffer 2019). Leider gilt dies nicht für die häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt und auch nicht für die Femizide oder Intimizide (Mann tötet seine Liebespartnerin). Besonders gefährlich für Frauen sind Trennungssituationen, in denen der Mann von der Frau verlassen wird und sich dadurch erheblich narzisstisch gekränkt fühlt. Die stark verbreitete sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch von Minderjährigen) hat weltweit die MeToo-Bewegung ausgelöst, in der sich Frauen gegen diese Verbrechen solidarisieren.

Die Netflix-Serie „Adolescence“ zeigt, dass bereits in der Pubertät zwischen männlichen und weiblichen Kindern oder Jugendlichen grenzüberschreitende oder kriminelle Tendenzen sichtbar sind. Was Kinder oder Jugendliche tagtäglich auf ihrem Smartphone an Pornographie, sexueller Gewalt oder anderen Gewaltdarstellungen sehen, hat Einfluss auf ihre noch prägsame Psyche und das spätere Verhalten. Hierin liegt eine große Verantwortung der Gesellschaft für die Steuerung der Social Media und die Vermittlung von Medienkompetenz für Kinder und Jugendliche.

Cybermobbing und die Gratwanderung von Gewalteskalation und Suizid

Cybermobbing ist eine sehr negative Folgeerscheinung des Internets. Bereits vor der Jahrhundertwende gab es Buchpublikationen und Fachartikel, die vor den Gefahren des Internets für Kinder und Jugendliche warnten (Übersicht bei Csef 2019). Je häufiger und je früher Kinder ein eigenes Smartphone besitzen, desto größer wurden die Gefahren, so dass mittlerweile neue Straftatbestände für Cyberkriminalität gegen Kinder und Jugendliche eingeführt wurden (z.B. wegen Cybergrooming oder Sexting). Während beim Cybergrooming überwiegend erwachsene Männer Kinder und Jugendliche bedrohen, sind beim Cybermobbing oft Kinder und Jugendliche sowohl Täter als auch Opfer. Das Mobbing verlagerte sich vom Schulhof oder Klassenzimmer ins Internet.

Erfreulicherweise nur in seltenen Fällen kommt es in der Folge zu Tötungsdelikten. Diese können als Fremdaggression auftauchen (Mord oder Totschlag) oder in der Autoaggression zum Suizid führen. In der Suizidforschung wird dann der Fachterminus „Bullycide“ verwendet (Csef 2020). Er beschreibt den Suizid nach vorherigem Cybermobbing.

Die Netflix-Serie „Adolescence“ trifft den Nerv der Zeit

Die Netflix-Serie trifft zweifelsohne den Nerv der Zeit. Innerhalb weniger Wochen wurde sie die erfolgreichste Netflix-Serie mit den höchsten Aufruf-Zahlen. Ihr Inhalt wurde weltweit ausgiebig und überwiegend lobend rezipiert. Sehr frühzeitig nahm der britische Premierminister Keir Starmer sehr positiv Stellung dazu und plädierte dafür, dass diese Serie in allen britischen Schulen diskutiert werden sollte. Die britischen Medien bescherten der Serie eine sehr positive Resonanz. In der „Times“, im „Guardian“ und „Independent“ erschienen sehr positive Kritiken. Auch im deutschsprachigen Raum wurde sie ausführlich besprochen: eine ganzseitige Darstellung in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ (Baum 2025) und eine Würdigung in der FAZ (Lapido 2025).

Warum diese außergewöhnliche Resonanz? Warum der der große Widerhall in den britischen und deutschsprachigen Medien? „Adolescence“ trifft in folgenden Bereichen den Nerv der Zeit:

  • Die Zunahme von Gewaltkriminalität bei Kindern und Jugendlichen
  • In fast allen europäischen Ländern nimmt die Gewalt bei Kindern und Jugendlichen zu. In der deutschen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigt sich seit 2015 eine deutliche Zunahme der Gewaltdelikte. Oft sind es zweistellige Zuwachsraten. Selbst wenn man das Phänomen der nicht-deutschen Tatverdächtigen herausrechnet, ergibt sich bei den deutschen Kindern ein Anstieg der Gewaltkriminalität zwischen 2015 und 2024 von etwa 66 Prozent (in Bayern Anstieg bei deutschen Kindern von 1182 auf 1965). Die PKS in Gesamtdeutschland nennt für das Jahr 2024 immerhin 45.138 tatverdächtige Kinder und Jugendliche bei der Gewaltkriminalität. Diese Zahlen sind besorgniserregend und erklärungsbedürftig. Wenn Kinder andere Kinder ermorden, ist dies der Gipfel der Gewaltkriminalität bei jungen Menschen. Genau dies ist der Focus von „Adolescence“.
  • Die Filmserie „Adolescence“ thematisiert die Probleme von Cybermobbing. Die destruktive Wirkung dieses Phänomens auf zwischenmenschliche Beziehungen ist offensichtlich: psychische Erkrankungen (z.B. Angststörungen, Depressionen) können die Folge sein, aber auch Gewalteskalationen und Suizid.
  • „Adolescence“ greift zahlreiche psychosoziale Phänomene auf, die eine Folge der Krise der Männlichkeit darstellen: männliche Unsicherheit und Verletzlichkeit, Konflikte der Rollenidentität, Gegenbewegung in „toxischer Maskulinität“, der Incel-Bewegung und der Manosphäre.
  • In der Serie „Adolescence“ begegnet uns ein weibliches Opfer. Katie Leonard wurde erstochen. Im Tathergang war sie verstrickt als Akteurin von Cybermobbing. Aber dies rechtfertigt keinen Mord. Das weibliche Opfer-Narrativ begegnet uns aktuell besonders in der Femizid-Diskussion und in der MeToo-Bewegung.

Gerade weil die Netflix-Serie „Adolescence“ so viele zentrale und konflikthafte Bereiche der familiären Beziehungen und der Mann-Frau-Kommunikation berührt, ist sie für moderne Menschen so bedeutsam. Der Film stellt viel mehr existentielle Fragen als er Antworten zu geben vermag. Die Drehbuchautoren Stephen Graham und Jack Thorne formulieren in Interviews überwiegend Fragen:

„Warum passiert das heute? Was geht vor sich? Wie sind wir an diesen Punkt gekommen?“ oder:

„Was passiert mit unseren jungen Männern heutzutage? Welche Einflüsse von Gleichaltrigen, dem Internet und sozialen Medien üben Druck auf sie aus?“

(Stephen Graham, zitiert nach Celina Capell 2025)

So viele Fragen. Wir alle sollten den Film und die aktuellen Phänomene wahrnehmen, unsere Gedanken und Gefühle dazu formulieren – und miteinander reden. Vielleicht finden wir Antworten. Die Zukunft unserer Kinder hängt davon ab, ob es uns gelingt oder nicht.

Literatur 

Baum, Antonie, Wir erschaffen das Monster. Ein 13-Jähriger tötet eine Mitschülerin. Und wer ist schuld? Das Internet. Die Zeit vom 3. April 2025, Seite 37

Capell, Celina, „Adolescence“: Die wahre Bedeutung hinter der Geschichte und dem Netflix-Titel erklärt. Kino.de vom 17. März 2025

Csef, Herbert, Cybermobbing. Erscheinungsformen, Epidemiologie, Folgen, Prävention. Die Kriminalpolizei Nr. 4, 2019, S. 4 -7

Csef, Herbert, Bullycide – ein neues Suizidphänomen im 21. Jahrhundert. Suizide nach Cybermobbing. NeuroTransmitter 31 (11), 2020, S. 42 -47

Csef, Herbert, Gewaltkriminalität bei Kindern und Jugendlichen. Prävalenzzahlen, Opfer-Täter-Transition, Prävention. Die Kriminalpolizei Nr. 4, 2024, S. 25 – 27

Lapido, Eva, Kleine Monster mit Internetanschluss. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 2025

Pfeiffer, Christian, Gegen die Gewalt. Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind. Kösel, München 2019

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

Über Herbert Csef 159 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.