Das Gedenken an den Widerstand im Zeichen der „Weißen Rose“, den Hans und Sophie Scholl, Christl Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Kurt Huber und Hans Leipelt mit ihrem Leben bezahlten, gehört seit langem zum historisch-politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem die Biographien von Hans und Sophie Scholl haben eine ganze Anzahl von Autoren und Autorinnen gefunden. In seinem biographischen Essay zu Sophie Scholl rekonstruiert der Historiker Klaus-Rüdiger Mai die historisch-biographischen Umstände, unter denen die Scholl-Geschwister von anfänglicher Hitler-Begeisterung zu todesmutigen Kämpfern gegen das verbrecherische NS-Regime wurden. Das psychologische Motiv jugendlicher Freiheitssehnsucht verknüpft Mai mit – im Hinblick auf die Bedeutung des französischen Rénouveau catholique und des Münchner „Hochland“-Kreises um Carl Muth und Theodor Haecker philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden – Reflexionen über die christlich-religiösen Ressourcen, aus denen Sophie Scholl, ihre Geschwister und ihre Freunde schöpften.
Im Sommer 1946 entdeckte die Cellistin Susanne Hirzel in der Zeitung einen Aufruf von Ricarda Huch Zeugnisse für ein Buch zum Gedenken der „Heldenmütigen“ zu sammeln, die den Versuch gewagt hatten, das „klug gesicherte Schreckensregiment“ zu stürzen. Die Schriftstellerin, über ihren Schwiegersohn Franz Böhm dem Widerstand des 20. Juli verbunden, hatte es sich „zur Aufgabe gemacht, Lebensbilder dieser für uns Gestorbenen“ für ein solches Gedenkbuch aufzuzeichnen, „damit das deutsche Volk daran einen Schatz besitze, der es mitten im Elend noch reich macht.“
Die Ulmer Pfarrerstochter Susanne Hirzel, seit 1935 mit der gleichaltrigen Sophie Scholl befreundet, war im zweiten „Weiße Rose“-Prozess des „Volksgerichtshofs“ unter Roland Freisler, der Kurt Huber, Alexander Schmorell und Willi Graf im April 1943 zum Tode verurteilte, mit einer halbjährigen Strafe davongekommen. Sie antwortete der Schriftstellerin – die das geplante Werk vor ihrem Tod (1947) selbst nicht vollenden konnte – mit einem langen Brief, in dem sie an den Todesmut ihrer Freundin Sophie Scholl erinnerte. Im Januar 1943 habe ihr Sophie von den Flugblattaktionen ihres Münchner Freundeskreises erzählt. Einer müsse den Mut haben, anzufangen. „Wenn ich Gelegenheit hätte, Hitler zu erschießen, so müßte ich es tun, auch als Mädchen.“
Diktatur und „Eigensinn“
Mit seinem biographischen Essay zu Sophie Scholl legt Klaus-Rüdiger Mai ein Buch vor, das – ungeachtet einiger lässlicher Ungenauigkeiten – inmitten der reichhaltigen Literatur über die „Weiße Rose“ über das Gedenkjahr 2023 hinaus Beachtung verdient. Auch in diesem schmalen Buch geht es um das Grundthema aller Scholl-Biographien (siehe zuletzt: https://globkult.de/geschichte/rezensionen/2151-fritz-schmidt-juergen-reulecke-hans-scholl ) – von der anfänglichen Hitler-Begeisterung über Abwendung von der NS-Diktatur hin zu offenem, todesmutigen Widerstand. In seinem Sophie-Scholl-Porträt vertieft der Historiker Mai – unter anderem Verfasser einer Biographie der Märtyrerin Edith Stein – das im Lebensweg angelegte Thema auf vielschichtige Weise. Da geht es zum einen durch die Einordnung des NS-Regimes in dessen historische Bedingungen, zum anderen um die Willkürerfahrungen von selbstbewussten – „eigensinnigen“ – jungen Menschen wie der Scholls und ihrer Freunde mit totalitärer Praxis. Das psychologische Motiv verknüpft Mai mit – im Hinblick auf die Bedeutung des französischen Rénouveau catholique und des Münchner „Hochland“-Kreises um Carl Muth und Theodor Haecker philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden – Reflexionen über die christlich-religiösen Ressourcen, aus denen Sophie Scholl, ihre Geschwister und ihre Freunde schöpften.
Die politische Atmosphäre Deutschlands in der Endphase der Weimarer Republik kennzeichnet Mai mit erhellenden Zitaten. Das eine stammt von dem im italienischen Faschismus verwurzelten Schriftsteller Curzio Malaparte, der anno 1931 beobachtete, dass Hitler sich anschickte, die „gefährliche Rolle des Catilina aufzugeben und die ungefährlichere eines plebiszitären Diktators zu übernehmen.“ Andere Beobachtungen hielt 1931 der französische Sozialist Pierre Viénot in einem Buch „Ungewisses Deutschland“ fest. Er registrierte den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung sowie einen „krankhaften Hang [der Deutschen] zur Selbstanalyse“. Er stellte zugleich eine tiefe Verwurzelung der Idee de „Fürsorgestaats“ fest, „der gewiss nicht der bürgerlichen Kultur [angehört]. Hier treten wir in das weite Gebiet des Sozialismus ein.“
Es handelte sich um das Verlangen nach Volksgemeinschaft, in der aller Parteienstreit, Klassenkonflikte und Klassenschranken überwunden seien. In den „Bünden“ der bürgerlichen Jugendbewegung verschmolzen Naturromantik, Nationalromantik und Sozialromantik. Den Traum von einem „Neuen Reich“ verkündete 1927 der in der bündischen Jugend verehrte Stefan George in einem Gedicht. Mit derlei Emotionen bewegten sich die „Bünde“ in enger Nähe zum Nationalsozialismus. Der Jubel über die „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 erfasste auch den jungen Reichswehroffizier Stauffenberg bei einem SA-Aufmarsch in Bamberg. Der spätere NS-Gegner Ernst Forsthoff proklamierte 1933 in seinem Buch „Der totale Staat“: Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert“. Für „die Verheißung einer besseren Zukunft“ komme es darauf an, „die letzten Reserven aus dem Volk herauszuholen.“
Inspiriert von ihrem Umfeld – Schule, Kirche und Altersgenossen – teilten die Scholl-Geschwister, obenan die älteste Tochter Inge mit einem Hitler-Bild an der Wand, die nationalen Hochgefühle. Der Ulmer Stadtpfarrer Oehler nannte im Religionsunterricht den Tag von Potsdam (21.März 1933) „ein wunderbares Ereignis“. Inge Scholl konnte es nicht erwarten, dass Bruder Hans mit seinem „Verein“ – dem Jungvolk des Ulmer CVJM – geschlossen in die Hitler-Jugend übertreten würde. Sie selbst avancierte alsbald als erste der Geschwister zur BDM-Führerin.
Die HJ-Begeisterung der jungen Geschwister war Teil des pubertären Ablösungsprozesses vom Elternhauses. Mit dem agnostischen, pazifistisch und antinazistisch gesinnten Vater Robert Scholl geriet insbesondere Hans in einen häuslichen Dauerkonflikt, was indes den engen Familienzusammenhalt, gestärkt durch die pietistisch geprägte Mutter Magdalena Scholl, zu keiner Zeit gefährdete. Die Familie gab den emotionalen Rückhalt an allen Stationen des Wegs in den Widerstand.
Zu Recht betont Mai, dass Antisemitismus im Hause der Scholls keinen Platz hatte. Starker Eigenwille und intellektuelle Neugier zeichnete den draufgängerischen Hans („Feuerkopf“) aus, musische Begabungen und poetische Sensibilität die als „Buben-Mädel“ im BDM zunächst nicht minder engagierte Sophie. Von ihr zitiert Mai den Satz: „Wer Heinrich Heine nicht kennt, kennt die deutsche Literatur nicht.“
„Bündische Umtriebe“
Die Ideale und Gefühlsmomente der „Bündischen“ beschrieb Susanne Hirzel in ihrem oben erwähnten Brief: Letzten Endes ging es um die ´Freíheit. Diesem Ziel wollten wir unser Leben weihen, hätten jedoch niemandem genauer sagen können, was das ist ´Freiheit´“. Die Interpretation liefert Autor Mai: Es war die Gefühlswelt des Sturm und Drang. Mai hat seinem Buch eine Passage aus dem Beat-Kultbuch „On the Road“ vorangestellt, wo Jack Kerouac von den „Verrückten, die verrückt sind aufs Leben… schreibt und fragt: „Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland?“ „Freiheit“ schrieb Sophie Scholl zweimal auf die Rückseiten der ihr am Tag vor der Hinrichtung ausgehändigten Anklageschrift. „Es lebe die Freiheit!“ rief Hans auf dem Weg zum Schaffott.
Die spezifisch bündischen Tendenzen – von Baldur von Schirach bereits 1933 scharf abgelehnt – wurden innerhalb der HJ noch bis 1935 toleriert, ab 1936 unter der Rubrik „bündische Umtriebe“ strafrechtlich verfolgt. Im Gestapo-Verhör im Februar 1943 begründete Sophie ihre Entfremdung von BDM und Nationalsozialismus „in erster Linie“ mit ihrer und ihre Geschwister Verhaftung „wegen sog. bündischer Umtriebe“ im Herbst 1937. Die „Umtriebe“ wurden mit Anklagen gegen Hans Scholl und Inges Freund Ernst Reden wegen Verstoßes gegen § 175 unterlegt. Unter Verweis auf homoerotische Anwandlungen in Pubertätsjahren widerlegt Autor Mai den Theologen Robert Zoske, der – zeitgeistgemäß – in seinen Biographien Hans Scholl für bisexuelle Prägung und Sophie für latent lesbische Neigungen vereinnahmen möchte.
Der christliche Glaube
Zum tragenden Motiv des ins Martyrium führenden Widerstands wird – für Hans und Sophie auf unterschiedliche Weise – ihr christlicher Glaube. Als Hans – kurz vor seiner eigenen Festnahme – von der Verhaftung seiner Geschwister erfährt, bedankt er sich bei seiner Mutter für den Trost in einem „wunderbaren“ Bibelwort: „Es half mir, wieder meine alte Fassung zurückzugeben.“ Über Bruder Werners katholischen Freund Otl Aicher, dem wegen seiner Weigerung, der HJ beizutreten, die Zulassung zum Abitur verweigert wird, kamen die Scholl-Geschwister 1939/40 mit der Geisteswelt des französischen Rénouveau catholique – mit Namen wie Georges Bernanos, Paul Claudel und Jacques Maritain – in Berührung. Über den glaubensstarken, auf Konversion der Geschwister sinnenden Aicher, gelangten Hans und Sophie in den reformkatholischen Kreis dr inneren Emigration um Carl Muth.