Nicht nur vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs stellt sich die Frage nach tragfähigen Friedenskonzepten in Europa und allgemein in einer unfriedlichen Welt. An den Proklamationen der Grünen, der Partei, die in ihren Anfängen in den 1980er Jahren – neben und mit der protestantischen Kirche – als Hauptträger der damaligen Friedensbewegung hervortrat, lässt sich der stets latente Umschlag von pazifistischem Bekenntnis zu moralisch begründeten Feinderklärungen und Kriegsentschlossenheit ablesen. Herbert Ammon, der in den 1980er Jahren auf die „deutsche Frage“ als Kern des im militärstrategischen Streit um Mittelstreckenraketen erneut eklatierten Konfliktes zwischen den „Supermächten“ und deren Militärblöcken verwies, schrieb einen Nachruf auf seinen Freund Hans Sinn, einen hierzulande vergessenen Protagonisten der gesamtdeutschen Friedensbewegung. In Bezug auf dessen unzweideutigen Pazifismus heißt es: „Sein friedenspolitisches Engagement war gänzlich selbstlos motiviert, ohne den bei Aktivisten oft anzutreffenden eifernden Anspruch auf moralische Überlegenheit.“
Das Lebensende vor Augen, schrieb der Deutsch-Kanadier Hans Sinn vor etwa einem halben Jahr auf Facebook, der Tod sei eingebettet in die alles umfangende Ewigkeit. Noch am 20. Juni 2023 würdigte er die „ehemaligen DDR-Bürger“, die das SED-Regime zu Fall brachten („ihre Ost-Deutsche Regierung beispielhaft gewaltlos heruntergebracht“). Allerdings, fügte er – unzutreffend bezüglich der Fakten – hinzu, „die ostdeutschen Bürger“ hätten im Zwei-plus-Vier-Vertrag ihre historische Chance verfehlt, indem sie „ein Abkommen unterschrieben, in welchem Ostdeutschland der Wiederaufruestung Gesamtdeutschlands zugibt“. Die „heutigen Deutschen“ hätten – erneut – „um Nachkriegs-Deutschland zu vereinigen die Gelegenheit verpasst einen neuen Anfang zu machen.“
In derlei brüchig gewordener Sprache brachte Hans ein letztes Mal seine Vision eines neutralen, entmilitarisierten Deutschland als eines geläuterten Friedensbringers zum Ausdruck. In seinem unzweideutigen Pazifismus verschmolzen Kriegserfahrungen – als begeisterungsfreier Hitlerjunge das im Feuersturm „Gomorrah“ (Juli 1943) zerstörte Hamburg vor Augen, anfangs 1945 zum „Volkssturm“ rekrutiert, auf die Nachricht von Hitlers Tod Anfang Mai aus einem SS-Ausbildungslager in Dänemark desertiert (siehe meine Buchbesprechung https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1114-amanda-west-lewis-the-pact,-markham,-ontario-%E2%80%93-brighton,-mass-red-deer-press-2016,-352-seiten) – die philosophisch-theologischen Reflexionen eines Teilhard de Chardin im Atomzeitalter, patriotische Friedenshoffnungen mit Mahatma Gandhis Lehren der Gewaltlosigkeit.
Einem wohlwollenden Offizier („Give him a chance“) verdankte Hans, angezogen vom Inserat einer Holzfällergesellschaft, den Stempel für die Einreise nach Kanada. Von dort kehrte er für einige Jahre nach Deutschland zurück, um sich – im Nachhall der Stalin-Note von 1952 und der – selbst nach dem Nato-Beitritt der Bundesrepublik 1955 – noch anhaltenden Debatte in neutralistisch-pazifistischen Friedenszirkeln zu engagieren. Insbesondere warb er – lange ohne große Resonanz – ab 1959 für einen „Zivilen Friedensdienst“. Danach entschloss er sich zur endgültigen Auswanderung nach Kanada.
Ohne die deutschen Dinge aus dem Blick zu verlieren, sah er seine geistige und politische Heimat fortan in friedensbewegten Gruppen zwischen Vancouver, Toronto und Ottawa. Anno 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau versuchte er, zusammen mit ein paar Gleichgesinnten, mit einem „Friedensmarsch“ von Vancouver bis nach Berlin das Weltgewissen hinsichtlich des durch die Mauer befestigten Kalten Krieg und der derart stillgelegten „deutschen Frage“ aufzurütteln. Das Unternehmen endete unbeachtet in Berlin nach zwei Jahren.
1981 gründete er zusammen mit dem Quaker-Aktivisten Murray Thomson die Friedensinitiative Peace Brigades International (PBI). Daraus ging eine Menschenrechtsorganisation hervor, die in Techniken der Gewaltlosigkeit unterwiesene Freiwillige in Konfliktgebiete – in Lateinamerika, Asien und Afika – entsendet. Im Jahr 2018 zählten die Gruppen von PBI über 1000 Mitglieder. Von seinem in der Nähe von Ottawa gelegenen Wohnort Perth, Ontario, aus engagierte sich Hans zudem in der sozialdemokratisch geprägten New Democratic Party.
Anfang der 1980er Jahre erregte in Deutschland und Europa die – hauptsächlich von der protestantischen Kirche sowie von den soeben gegründeten „Grünen“ getragene – Friedensbewegung Aufsehen. Der Auslöser war der im Kontext der Nuklearstrategien der Militärblöcke im Dezember 1979 – nahezu zeitgleich mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan – erfolgte „Nachrüstungs“-Beschluss der NATO zur Aufstellung von neuen Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa („auf deutschem Boden“). Entgegen den Absichten einiger DDR-affinen Initiatoren brachte der – mit nationalpatriotischen Anklängen („Keine neuen Atomraketen auf deutschem Boden!“, „Schießplatz der Supermächte!“) aufgeladene westdeutsche Protest in der DDR eine unabhängige Friedensbewegung hervor. Mit dem mit Unterschriften aus Ost und West versehenen „Havemann-Brief“, der Forderung nach Friedensverträgen und Truppenabzug der Siegermächte kam – für einen spektakulären Augenblick – unüberhörbar die „deutsche Frage“ in Spiel.
In die Hochphase der damaligen Friedensbewegung fällt der Beginn meiner Freundschaft mit Hans Sinn. In einem Brief stellte er sich und sein Friedensprojekt PBI vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hans bereits Kontakte zur unabhängigen Friedensbewegung in der DDR – namentlich zu Michael Kleim und Christian Dietrich sowie Edelbert Richter an der kirchlichen Hochschule Naumburg – geknüpft. Naturgemäß reagierte die Stasi mit einem Einreiseverbot, als Hans, aus Kanada angereist und alsbald befreundet mit Petra Kelly und Gerd Bastian, den friedensbewegten Führungsfiguren der frühen Grünen, seine Mitstreiter jenseits der Grenze besuchen wollte. Nach persönlicher Kontaktaufnahme zu Bürgerrechtlern in Ost-Berlin wurde auch ich anno 1983 mit einer Mauersperre bedacht, zum Glück ohne Verbot der Nutzung der Transit-Wege.
In den folgenden Jahren widmete Hans seine Energie dem Schicksal von Kindersoldaten, Kriegskindern und Kindern als Opfern häuslicher Gewalt. Außerdem setzte er sich für die Belange der First Nations in Kanada ein. An der Ohio State University initiierte er Studien zum Thema „ethnische Säuberungen“, was das studentische Interesse auch auf die im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 legitimierten – in Amerika nahezu unbekannten – Vertreibungen der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa weckte. Seine Zielvorstellung eines gänzlich entmilitarisierten Landes in der Mitte Europas lag stets außerhalb der politischen Realität. Immerhin kamen die Impulse zur 1999 erfolgten Gründung eines Zivilen Friedensdienstes (ZFD) als Unterorganisation des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) im Rahmen des Entwicklungshelfergesetzes (EhfG) (https://www.ziviler-friedensdienst.org/en/about-us/history) nicht unwesentlich von Hans Sinn.
Hans und mich, den im Krieg geborenen, aber eine ganze Generation Jüngeren, verband über Jahre hin – ungeachtet der Differenz zwischen meiner „realpolitischen“ Betrachtung des Unfriedens in der Welt und der in nuce machtpolitischen Aspekte der „deutschen Frage“ und seines religiös fundierten Aktivismus – eine innige Freundschaft. Ich nahm Anteil an seinem Schmerz über den Verlust seiner „Nachzüglerin“ geborenen Tochter Rachel, die mit 15 Jahren an einem unheilbaren Gehirntumor starb. Ihr Wunsch war es gewesen, noch einmal ein „echtes deutsches Weihnachten“ zu erleben. Daraufhin fuhr ich mit Hans, seinem Sohn Nicky und mit Rachel im Dezember 1993 (?) zu einem folkloristisch angelegten Adventsabend im verschneiten Erzgebirgsort Seifen.
Hans Joachim Sinn war ein Mensch voll Herzensgüte. Sein friedenspolitisches Engagement war gänzlich selbstlos motiviert, ohne den bei Aktivisten oft anzutreffenden eifernden Anspruch auf moralische Überlegenheit. Er starb friedlich im Alter von 94 Jahren im Kreise seiner Lieben im Great War Memorial Hospital in Perth am 29. Juni 2023.