Sebastian Kleinschmidt / Friedemann Richert / Thomas A. Seidel (Hrsg.): Bild der Welt und Geist der Zeit. Dem Zerfall von Kirche und Gesellschaft begegnen, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2024, 387 S.
I.
Weniger als die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands– nur noch 47,45 % – gehörte anno 2023 noch den christlichen Kirchen an. ( https://fowid.de/meldung/kirchenmitglieder-47%2C45-prozent). Jedes Jahr verlassen über 200 000 Personen die Großkirchen. Es sind keineswegs nur die religiös Indifferenten, die Kirchensteuer sparen wollen, sondern nicht wenige Nachdenkliche – wie zuletzt Ferdinand Knauss, Redakteur bei Cicero -, die austreten, weil sie in der EKD keine christliche Sinnressource mehr erkennen.
Der innere Zustand beider Kirchen ist kennzeichend für den Gesamtzustand des Westens – genauer: der USA und Westeuropas – im Zeichen der Postmoderne. Im vorliegenden Buch skizziert der Mitherausgeber Sebastian Kleinschmidt die geistige Lage wie folgt: „Man hat den Eindruck: sittliche Übereinkunft und gesunder Menschenverstand, antikes und jüdisch-christliches Erbe, Aufklärung und pragmatische Vernunft befinden sich im freien Fall.[…] Wenn bis hin zur Geschlechtlichkeit nichts mehr sicher ist, wenn Logik, Sprache und Grammatik zuschaden werden, zerbricht der Rahmen, der eine…demokratische Gesellschaft zusammenhält.“ (8) Statt darüber in Kulturpessimismus zu verfallen, sind die Autoren des Bandes bestrebt, durch Analyse und Wegweisung dem Zerfall in Kirche und Gesellschaft entgegenzuwirken.
II.
Der Band ist in fünf Teile – Naturbild, Menschenbild, Gesellschaftsbild, Geschichtsbild, Gottesbild – gegliedert. Im ersten Teil untersucht zunächst der an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg lehrende Systematiker Dirk Evers das – anthropologisch und theologisch – grundlegende Verhältnis von Natur und Kultur. Unter Bezug auf Charles Darwin, der entgegen populärem, naturalistischen Missverständnis in seiner Evolutionstheorie eben auch der Emotion „in Man and Animal“ spezifische Bedeutung beimaß, sowie auf den Physiker Erwin Schrödinger betont er die Bedeutung kulturell bedingter Erkenntniss über Prozesse der Natur. Er leitet daraus die Chance auf „einen erneuerten Umgang mit der Natur jenseits von anti-intellektualistischer Natur-Romantik und naturalistischem Determinismus“ ab. (29f.) Im Hinblick auf die „grüne“ Apokalyptik und auf gegenwärtige und künftige Konflikte hätten diese Perspektiven indes noch einer genaueren Definition bedurft.
Vor dem Hintergrund des Ukraine- und des Gaza-Krieges ist die christliche Friedensbotschaft kaum noch zu vernehmen. Über Jahrzehnte hin bestand die Antwort der evangelischen Kirchen auf die bedrückenden Fakten des Weltgeschehens aus Variationen des ökumenischen Dreiklangs: „Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Eben dieses trinitarische Dogma des liberalen Protestantismus zerlegt der Systematiker Günter Thomas in seinem Aufsatz. Die Zielsetzung eines „gerechten Friedens“ sei im Hinblick auf stets nur bedingt „gerechte“, auf Kompromiss gegründete Friedensschlüsse letztlich utopisch. Eine andere Schwachstelle der theo-politischen Formel sei die fehlende christliche Gottesklage über die „Totenfelder der Geschichte“. (43)
Noch schärfer weist der Autor die Formel „Bewahrung der Schöpfung“ (in der lingua franca der Ökumene: integrity of creation) zurück. Schöpfungstheologische Appelle ignorierten die nicht menschengemachte, der Natur selbst inhärente Gewalt. Mehr noch: Hinter dem Heilung verheißenden Konzept „Gaia“ komme ein christlich verbrämtes Neuheidentum zum Vorschein.
Hinter dem Pathos, mit dem „Seher“ (bzw. Seherinnen) die Klimarettung als Ersatzreligion propagieren, treten Machtansprüche hervor. Im Gefolge der Öko-Religion ist auch ein gnostischer Antinatalismus wieder erstanden, was der Theologe Thoma wie folgt kommentiert: „Die Erde zu lieben, erteilt dann die Lizenz, den Menschen zu hassen.“ (52).
Thomas Kritik an der ökumenischen Doppelformel zielt auf den Kern politisch progressiver Theologie, die sich – zugespitzt in der Rede vom „Tod Gottes“ – weitgehend auf Dietrich Bonhoeffers Aussagen zum „Verzicht auf die Arbeitshypothese Gott“ in seiner späten Gefängnistheologie bezieht. Wenn es den Herausgebern um eine Kritik am progressiven Post-Theismus geht, so hebt sich davon der Text „Rede der Kreatur an die Kreatur“ des Pfarrers und Dichters Christian Lehnert ab. In einem dichterischen Essay plädiert er für einen Schöpfungsbegriff, der sich von dem von der Ökumene propagierten Bild kaum unterscheidet. In Reflexionen über das Verhältnis von Natur, Mensch als Subjekt und Gott, in denen er sich zum einen auf den lógos des Johannes-Evangeliums sowie auf das Bild des „kosmischen Christus“ (Kolosser 1,15-20), zum anderen auf den Mystiker Jakob Böhme und dessen „Urgrund“ bezieht, versucht er, den in Wissenschaft und Aufklärung verwurzelten Trandszendenzverlust zu überwinden.
II.
Die – ungeachtet der Rede von der „Rückkehr der Religion“ – fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft, die Ethisierung der Theologie sowie die Moralisierung des Sündenbegriffs haben das alte christliche Glaubenskonzept von Schöpfung-Fall-Erlösung aufgelöst. Allgemein wird im liberalen Protestantismus „Sünde“ durch Schuld ersetzt, was – politisch säkularisiert – nichts mehr mit dem alten Bekenntnis von „mea culpa“ gemein hat. Für Theologen wie Klaas Huising, der in einem Buchtitel „Schluss mit der Sünde“ proklamiert, vermittelt der Begriff „Sünde“ – als dem Einzelnen „zurechenbare Schuld“ – nur noch ein negatives Menschenbild. Bei Huising wird Sünde zu „zurechenbarer Schuld“, wie dem Beitrag von Annette Weidhas („Was den Menschen zum Menschen macht“) zu entnehmen ist. (106) Dagegen Weidhas: Der Verzicht auf die Sünde – als „Getrenntsein von Gott“ – entspringe dem Rousseauschen Irrglauben von der natürlichen Güte des Menschen, allgemein dem optimistischen Vernunftbegriff der Aufklärung. An dieser Stelle übersieht die Autorin allerdings die aufklärerische Skepsis eines David Hume. Zu Recht fragt sie jedoch – auch unter Bezug auf die politischen Fehlleistungen der Friedensaktivistin Dorothee Sölle – wer bestimme, was vernünftig sei.
Kennzeichnend für den in Politik und Kirche verbreiteten zivilreligiösen Moralismus ist die Leerstelle Metaphysik, erkennbar am Verschwinden des Wortes „Gott“ – etwa bei der Eidleistung von Amtsträgern – aus der öffentlichen Sprache. Von kirchlicher Seite ist dazu kaum Widerspruch zu vernehmen. Immerhin führt der in pathetischen Reden stets beschworene Begriff „Gerechtigkeit“ zurück auf Platon und über diesen zurück auf „Gott“ (hò theós). Explizit bekennt sich Friedemann Richert in seinem Beitrag („Seele und Glückseligkeit. Platon als Seelenlehrer“) – in Anlehnung an seinen Lehrer Robert Spaemann sowie an den Physiker, Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead (1861-1947) – zu Platon als geistigem Widerpart zur modernen bzw. postmodernen, seelenlosen, entzauberten Welt.
III.
Der Katholik und Sozialdemokrat Wolfgang Thierse spricht zwar auch von der Klimakrise als bedrohlichem Signum einer „Zeitenwende“, wendet sich jedoch deutlich gegen ideologische „Wokeness“-Diktate. „Wir sollten uns der Generalverdächtigung wehren dürfen, dieses (deutsche und europäische) Kulturerbe sei fundamental durch strukturellen Rassismus vergiftet, sei insgesamt patriarchalische und kolonialistische Kultur.“ (175)
Kritik an der inzwischen alle gesellschaftlichen Bereichen durchdringenden Ideologisierung – zum Diversity-Programm gehört der Buchstabe J für Justice (Dalferth, 204. Fn. 204) – wird reflexartig mit der Empörungsformel „rechts“ aus dem Diskursraum verbannt. Mit diesem Verdikt hat der Egon Flaig zu rechnen, der in seinem weitgespannten Aufsatz („Warum es historische Gerechtigkeit nicht geben kann“) die im Zuge des „Dekolonialismus“ verbreitete Vorstellung von „redemptive politics“ als ahistorisch zuückweist. Sie entstamme dem chiliastisch aufgeladenen Arsenal politischer Theologie.
Nicht nur am Beispiel der Rückgabe der Benin-Plastiken an die Nachfahren des dank Versklavung von Nachbarvölkern machtvoll aufgestiegenen westafrikanischen Königtums erweise sich der Begriff „historischer Gerechtigkeit“ als „Nonsens-Postulat“. Um den Widersinn zu belegen, zitiert Flaig zitiert den Kenyaner Ali Mazroni: „Twelve years of Jewish hell – against several centuries of black enslavement.“ (Zit. 217) Mazroni entstammt selbst einer Sklavenhändlerfamilie in Mombasa.
IV.
Nach einem theologischen Ausweg aus der Beliebigkeit der Postmoderne sowie aus dem Fangnetz „kulturprotestantisch propagierter Hypermoral und protestantischer Säkularapokalyptik“ (279) fragt der soeben aus seinem Amt als Vorstandsvorsitzender der Internationalen Martin Luther Stiftung (IMLS) verabschiedete DDR-Bürgerrechtler Thomas Seidel. Im Anschluss an eine präzise Rekonstruktion des Denkens von Karl Löwith (1897-1973) zielt er auf eine „zeitgemäße lutherische Theologie, die Gottvertrauen, Urteilskraft und und Weltverantwortung ermöglicht.“ (278).
Die moderne Geistesgeschichte – mit ihren mörderisch-totalitären Katastrophen – erscheint nach Löwith in „einem paradoxen Licht: sie ist christlich von Herkunft und antichristlich im Ergebnis.“ (Zit. 291). Die Betrachtung der säkularisierten Heilsgeschichte führte den lutherisch getauften, „frommen Agnostiker“ Löwith zu folgendem Resümee: „Am Ende führt der Nachweis des theologischen Sinnes unseres geschichtsphilosophischen Denkens über alles bloß geschichtliche Denken hinaus.“ (Zit. 285).
Die Antwort auf Fragen nach Sinn oder Unsinn der Geschichte findet Seidel in der conditio humana, wie sie im Segensfluch der biblischen Schöpfungsgeschichte (Gen. 3, 22) angelegt ist, sodann in der von Paulus (Galater 4, 36-37) beschriebenen Gotteskindschaft. Sie begründe, so Seidel im Anschluss an den Hermeneutiker Paul Ricoeur, eine „zweite Naivität“, die einen „aufgeklärten und zugleich für das Mysterium empfänglichen Blick“ öffne und „die Unterscheidung zwischen ´erfüllter´ und ´verlorener´ Zeit, zwischen ´Ewigkeit´und ´Erdenzeit´, zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ ermögliche. (319)
Seidel bezieht sich auf Dietrich Bonhoeffer als Protagonisten einer „realistischen“, der Utopie abholden Eschatologie sowie auf den 2017 verstorbenen Schriftsteller Ulrich Schacht. Für ihn kam es darauf an, den von den Geschichtsphilosophen – allgemein von der westlichen Philosophie – „aus der Welt hinausinterpretierten“ Gott, „in ihr wiederzuentdecken.“ (Zit. 324) Auch Schacht schöpfte seine Hoffnung aus dem platonischen Gottesbegriff bei Whitehead: Gott „schafft die Welt nicht, er rettet sie; oder genauer: Er ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von Wahrheit, Schönheit und Güte.“ (Zit. 333)
V.
Naturgemäß fordert eine solche platonische Fundierung des Christentums – wie sie nicht zuletzt im Christusbild des Apostels Paulus aufscheint – die Nietzschesche Verachtung für die „Hinterweltler“ heraus. Für den Schlussteil „Gottesbild“ im Buch wäre daher ein Text des Philosophen Holm Tetens („Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie“, 2015) wünschenswert gewesen.
Seit der Aufklärung hat sich im Westen der Glaube an den dreieinigen Gott zugunsten „einer fakultativen Möglichkeit religösen Bewusstseins“ verflüchtigt. Bereits Schleiermacher hielt in seiner „Glaubenslehre“ für ein christliches Selbstbewusstsein den Trinitätsglauben nicht für notwendig.
Körtner warnt vor einer – von umfassendem Glaubensschwund in der postchristlichen Gesellschaft beförderten – Verwischung der Unterschiede im Glauben an den „einen Gott“. Die von Mohammed empfangenen „Offenbarungen“ seien zwar eine Resonanz auf die jüdisch-christlichen Zeugnisse göttlicher Offenbarung, „aber keine neue Offenbarung“. Zudem handle es sich beim Islam im Unterschied zum christlichen Heilsgeschehen nicht um eine Erlösungsreligion. (333)
Nicht zufällig haben die Herausgeber einen Text aus der Glaubenswelt der östlichen Orthodoxie an den Schluss ihres Buches gestellt. In der Ikonographie – mit Christus als Pantokrator – , in der Heiligenverehrung sowie in der Liturgie der orthodoxen Kirchen wird das christliche Gottesbild in eindringlicher Ästhetik anschaulich. In seinem Essay „Vergöttlichung statt Selbst-Vergottung“ expliziert Erzpriester Martinos Petzolt die in der Orthodoxie lebendige – wiederum auf Platon zurückweisende – Vorstellung der Gottesschau.
VI.
Von christlich-religiöser Gewissheit ist die heute in den meisten evangelischen Kirchen gepredigte Botschaft himmelweit entfernt. Nichtsdestoweniger bedarf im Zeitalter der „vollendeten Gottlosigkeit“ – so Bonhoeffer in seiner „Ethik“ – christlicher Glaube der „letzten Wirklichkeit“ Gottes als einer jenseits unfundierter Ethik verankerten Transzendenz. Geht es in der postmodernen Gesellschaft um „Sinn“, so genügt dafür nicht die – nicht nur im progressiven Protestantismus – vorherrschende, meist von Bonhoeffer abgeleitete „horizontale Transzendenz“. Der Bezug zum Nächsten – zum „anderen“ – sowie an der widerspruchsvollen Realität orientierte christliche Weltverantwortung bedarf einer vertikalen Dimension im Gottesbild.
Wenn Seidel in seinem zentralen Beitrag den früheren EKD-Vorsitzenden Wolfang Huber zitiert, der vor der Selbstsäkularisierung der Kirche gewarnt hat, so stellt er zugleich fest, dass Huber die Tendenz zur Reduktion der evangelische Kirche auf eine bloße „moralische Agentur“ selbst befördert hat. Die Kirche als – eine vom Staat begünstigte – NGO tritt in einer Rede Hubers („Plädoyer für die Institution Kirche als Verband und Akteur der Zivilgesellschaft“, 2005) hervor. (299f.) Nicht nur für Konservative – erst recht für „Evangelikale“ – erscheint derlei Botschaft zu dürftig.
Das vorliegende Buch bietet kein fertiges Handlungskonzept, wohl aber geistige Orientierung. So bleibt zu hoffen, dass es in seiner Kritik an der vorherrschenden politisch-moralischen Selbstgenügsamkeit die Kirchenoberen – sofern sie den intellektuell anspruchsvollen Band nicht lieber übersehen – zum Nachdenken nötigt.