Alijews Schlag gegen Berg Karabach schafft neue Fakten im Kaukasus

EU-Ratspräsident Michel mahnt "würdige Behandlung der Armenier" an

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In einer Art „Blitzkrieg“ überwältigte der aserbeidschanische Präsidenten Ilham Alijew die Armenier in der Enklave Berg Karabach. Im Schatten des Ukrainekriegs nutzte er – wie schon im September 2020 – die Schwäche Armeniens, das unter dem Präsidenten Paschinjan die Bindung an die russischen Schutzmacht unter Putin gelockert hatte. Im Falle der Armenier in dem isolierten Territorium der „Republik Arzach“ fand das Prinzip „Selbstbestimmung“ zu keiner Zeit Befürworter. Jetzt droht – unbeeindruckt von  Worten unserer Außenministerin Baerbock und des EU-Ratspräsidenten Michel den Karabach-Armenien – die Vertreibung. Herbert Ammon kommentiert die Geschehnisse, durch die im Kaukasus neue Fakten geschaffen wurden.

Die jüngsten Ereignisse in und um die armenische Region Berg Karabach finden nur mäßiges mediales Interesse. Die Zahl der Opfer des aserbeidschanischen Angriffs – die Angaben liegen zwischen 25 und 200 – waren nicht spektakulär. Die Bilder einer dicht gedrängten Menge Menschen, die, zur Flucht entschlossen, auf dem Flughafen von Stepanakert zusammenströmten, konnten nicht mit denen von auf überfüllten Booten in Lampedusa gelandeten Migranten (und/oder „Geflüchteten“) konkurrieren. Die Nachricht, dass das – keineswegs selbst stets nur friedfertige – durch Krieg und Emigration geschwächte Armenien 40 000 der auf 120 000 bis 140 000 bezifferten Bewohner aus der – nach dem im letzten Krieg im September 2020 um ein Drittel reduzierten – Enklave aufnehmen will, blieb eine Randnotiz. Inzwischen rechnen Beobachter mit dem Exodus – sprich: Vertreibung – der gesamten Bevölkerung.

Der aserbeidschanische Machthaber Ilham Alijew kann zufrieden sein. Voll Genugtuung verkündete er – unter Berufung auf das Völkerrecht – die „Wiedereingliederung“ der Bergregion. Sein schneller Schlag machte das anno 2020 von Putin vermittelte – und durch Stationierung russischer Truppen vermeintlich garantierte – Abkommen obsolet. Denn obgleich bei dem Angriff auch russische Soldaten getötet wurden, stieß die Gewaltaktion in Moskau, unlängst noch Armeniens Schutzmacht, nicht einmal verbal auf Widerspruch. Damit reagiert Putin auf die sich unter Ministerpräsident Paschinjan abzeichnende Annäherung Eriwans an den Westen. Zudem pflegt er seit Beginn des Ukrainekrieges ein besonderes Verhältnis zu dem türkischen Präsidenten Erdogan, was die Anerkenung und Stabilisierung der Achse Ankara-Baku impliziert.

Ähnlich begrenzt scheint – nach einem Waffenstillstand, bei dem die Armenier von Karabach ihrer Entwaffnung und dem faktischen Ende ihrer territorialen Eigenständigkeit zustimmten, das Interesse der westlichen Politik an der Zukunft der armenischen Bergregion. Die zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates angereiste grüne Außenministerin Annalena Baerbock erklärte in New York, Aserbeidschan und Russland müssten „dafür sorgen, dass die Menschen in ihrem eigenen Zuhause sicher sind.“ Der EU-Ratspräsident Charles Michel teilte mit, er habe Alijev telefonisch aufgefordert, „für einen vollständigen Waffenstillstand“ und eine „sichere und würdige Behandlung der Armenier in Karabach“ zu sorgen. Von einer Forderung nach Autonomie für die christliche Region innerhalb der Republik Aserbeidschan ist nirgendwo die Rede, erst recht nicht von „Selbstbestimmungsrecht“.

Unausgesprochen bleibt, dass auch im Westen, in Washington und in der EU, nicht selten Bekenntnisse zu „Werten“ und Völkerrecht von materiellen Interessen überlagert sind. Im Falle von Berg-Karabach handelt es sich um ein Territorium, das seine völkerrechtliche Definition den Grenzziehungen in Sowjetrussland nach den Vorgaben des damaligen Nationalitätenkommissars Stalin verdankt. Auf realpolitischer Ebene geht es – vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs – um die Interessen Europas an Öl und Gas aus Baku. Des weiteren geht es – nach dem faktischen Scheitern einer gesamteuropäischen Friedensordnung in den 1990er Jahren – um schiere Machtpolitik: um die Interessen und Projektionen Putins, des Westens, des NATO-Eckpfeilers Türkei, schließlich des Mullah-Regimes im Iran. Im Schatten des Ukrainekriegs nutzte Alijew seine Chancen und schuf im Kaukasus neue Fakten. Des weiteren zielt er auf eine direkte Landverbindung zur an die Türkei angrenzende Exklave Nachitschewan.  Zur Hand kommt der Begriff Max Webers von der Normativität des Faktischen, der mit den Maximen von Recht, Moral und Völkerrecht kollidiert. Auch in manch anderen Regionen der Welt erleben derzeit erneut die Macht des Faktischen. Ein weiterer Testfall wird der Ausgang des Ukrainekriegs sein.

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Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.