Der 9. November 1938 und die deutsche Gegenwart

Steinmeier beschwört die Tragfähigkeit des Grundgesetzes

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In das Gedenken am 9. November ragen die Szenen des am 7. Oktober 2023 auf grauenvolle Weise von der Terror-Organisation Hamas eröffneten Gaza-Krieges hinein. In den Gedenkreden kommt die Problematik der deutschen Gedenkkultur in der „modernen Einwanderungsgesellschaft Deutschland“ nicht zu Sprache, schreibt Herbert Ammon in seinem Blog-Eintrag zum diesjährigen Gedenktag des 9/10. November 1938.

Am 9. November 2023 rückt in Deutschland die Erinnerung an die von nazistischen Schlägerbanden in zahllosen deutschen Städten und Dörfern verübten Schreckenstaten am 9. und 10.  November 1938 ins Zentrum des Gedenkens. Sie überlagert – abgesehen von Gedenkartikeln zum gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch vor 100 Jahren – die Erinnerung an andere geschichtsträchtige, mit dem Novemberdatum assoziierte Ereignisse, einschließlich des Mauerfalls. Nichtsdestoweniger ragen in das Gedenken am heutigen 9. November die Szenen des am 7. Oktober 2023 auf grauenvolle Weise von der Terror-Organisation Hamas eröffneten Gaza-Krieges hinein.

Auf eindringliche Weise stellt Chaim Noll in einem Aufsatz auf der „Achse des Guten“ die – beim Thema „Antisemitismus“- weithin gemiedene Verknüpfung zwischen der deutschen Vergangenheit und der heutigen deutschen Gesellschaft her: „[Deutsche Politiker] werden wunderbare Reden halten am 9. November über die Notwendigkeit, die Juden in Deutschland zu schützen und die Werte der Demokratie hochzuhalten, ein paar Feierstunden lang wird die Stimmung gehoben und zuversichtlich sein, und schon der nächste Tag wird zeigen: Die Reden sind gute Vorsätze, doch den grauen Alltag, den Schulhof, die Straße überlässt man wie damals den brüllenden Barbaren.“  https://www.achgut.com/artikel/zum_9._november_bruellende_barbaren

Nolls aufrüttelnde Sätze könnten sich auf die Rede beziehen, die Bundespräsident Steinmmeier anlässlich des 9. November vor einer Gruppe geladenern Gäste, daruntere die 102 jährigen Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, gehalten hat. Er bezeichnete Deutschland als ein „Land mit Migrationshintergrund“  und das Grundgesetz als „Fundament unseres Zusammenlebens, das freiheit für alle garantiert, Bedrohung und Diskriminierung aber ausschließt.“

Die Rede des Bundespräsidenten von „Deutschland als Land mit Migrationshintergrund“ ist gut gemeint. Die mit der allseits  beförderten Entwicklung zu einer „modernen Einwanderungsgesellschaft“ verknüpften Fragen nach der Integrationskraft einer bedrückenden und verstörenden Gedenkkultur bleiben in derlei Worten erneut unbeantwortet.

Von  Ausnahmen  – wie der oben zitierte Alarmruf von Chaim Noll –  abgesehen, stößt kritische Reflexion über die künftige ideelle Verfassung unseres Landes – jenseits des permanent als unverrückbar deklarierten Wertegrundlage des Grundgesetzes („Verfassungspatriotismus“) – sowie in concreto über die künftige Relevanz von historischen Gedenktagen auf Unverständnis oder auf indignierte Zurückweisung.  Wer auf die – in den Szenen auf deutschen Straßen und Plätzen manifesten – Gefahren kultureller Desintegration verweist, wird als „rechts“ verteufelt.

Anstelle einer umfassenden Kritik der Problematik nationalen Gedenkens in der postnationalen Gesellschaft der Bundesrepublik verweise ich auf einen bereits anno 2015verfassten Aufsatz: https://www.globkult.de/politik/deutschland/985-fragen-zu-deutschem-gedenken-unter-den-bedingungen-einer-neuen-gesellschaft Außerdem wird die Thematik in meinem Gedenkaufsatz für Ulrich Schacht berührt:  https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2081-historische-schuld-und-politische-gegenwart

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Über Herbert Ammon 98 Artikel
Herbert Ammon (Studienrat a.D.) ist Historiker und Publizist. Bis 2003 lehrte er Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der FU Berlin. Seine Publikationen erscheinen hauptsächlich auf GlobKult (dort auch sein Blog https://herbert-ammon.blogspot.com/), auf Die Achse des Guten sowie Tichys Einblick.