Die Weitergabe von unbewältigten Traumata an die nächsten Generationen- Zum Filmdrama „Sterben“ von Matthias Glasner

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Das Filmdrama „Sterben“ ist auf dem Weg, einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Filme des Jahres 2024 zu werden. Die Premiere fand im Februar 2024 bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin statt und wurde mit einem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Für den Deutschen Filmpreis, der am 3. Mai 2024 verliehen wird, hat er durch 9 Nominierungen erhebliche Vorschusslorbeeren. Am 25. April war der Kinostart in Deutschland.

Regie und Drehbuch von Matthias Glasner

Der fast 60 Jahre alte Matthias Glasner ist durch seine hochdramatischen Filme erfolgreich und bekannt. Filme wie „Requiem“ (1987), „Der freie Wille“ (2006), „Gnade“ (2006) und „Das Boot“ (2020) brachten ihm große Anerkennung. In seinem Film „Gnade“ spielen die beiden Hauptdarsteller Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel ein nach Norwegen ausgewandertes deutsches Ehepaar. Dabei geht es um Schuld und Vergebung wegen eines tödlichen Verkehrsunfalles. Für seinen neuen Film „Sterben“ schrieb Glasner selbst das Drehbuch und war auch Regisseur. In Interviews betonte er, dass der Film sehr autobiografisch geprägt sei: „Der Film wurde geboren, als meine Eltern gestorben sind“. Der in Hamburg geborene Filmemacher lässt seinen Film überwiegend in Norddeutschland spielen. Die Film-Eltern wohnen in Winsen/Luhe und eine Orchesteraufführung spielt in der Hamburger Elbphilharmonie. Seine leiblichen Eltern waren ähnlich gebrechlich wie die Protagonisten in „Sterben“. Glasner widmete seinen Film seiner Familie – „den Lebenden und den Toten“.

Starbesetzung mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger

Für sein Filmdrama „Sterben“ konnte Matthias Glasner eine deutsche Starbesetzung gewinnen. Corinna Harfouch spielt in der Hauptrolle die Mutter Lissy Lunies. Lars Eidinger hat die Rolle ihres Sohnes Tom, der als Dirigent lebt. Robert Gwisdek ist im realen Leben der Sohn von Corinna Harfouch und ebenfalls Schauspieler. Er spielt Bernard, den Freund von Tom, der als Komponist das Musikstück „Sterben“ erschaffen hat. Hans-Uwe Bauer spielt den demenzkranken Ehemann und Vater Gerd Lunies. Das bizarre und alkoholsüchtige Liebespaar von Ellen Lunies (Schwester von Tom) und ihres Zahnarzt-Liebhabers wird von Lilith Spangenberg und Ronald Zehrfeld gespielt.

Handlung

Das Filmdrama „Sterben“ dauert drei Stunden. Er ist in Kapitel unterteilt, deren Titel jeweils mit Fingerfarben an eine weiße Wand gemalt sind. Im ersten Kapitel wird der körperliche und seelische Verfall des Ehepaares Lunies gezeigt. Beide sind Mitte 70 Jahre alt. Gerd Lunies leidet unter Parkinson und ist dement. In seinen Verwirrtheitszuständen läuft er meist hilflos herum und verlässt oft spärlich gekleidet und unterkühlt die Wohnung. Lissy ist auch schwer krank. Sie leidet schon länger unter Diabetes, ist zusätzlich krebskrank, gerät ins Nierenversagen und ist fast erblindet. Die beiden Kinder Ellen und Tom wohnen weit weg in Hamburg und Berlin und kümmern sich nicht um die Eltern. In der Notlage springt eine Nachbarin hilfreich ein. Schließlich kommt Gerd doch in ein Pflegeheim und stirbt dort.

Im zweiten Kapitel wird ausführlich das Leben des Sohnes Tom gezeigt. Er ist Dirigent und bereitet mit seinem besten Freund Bernard dessen neue Komposition „Sterben“ vor. Privat kümmert er sich um seine Ex-Freundin Liv, die ein Kind von einem anderen Mann bekommt, mit dem sie aber nicht zusammenleben will. Also spielt Tom hinreißend den Ersatzvater. Die Geburt dieses Babys wird ausführlich gezeigt und Tom fungiert mit als Geburtshelfer. Allerdings hat Tom noch eine undurchsichtige Beziehung mit seiner Assistentin, die gegen Ende des Filmes von Tom schwanger wird und das Kind zur Welt bringt. In den Schluss-Szenen (Beerdigung der Mutter) taucht er mit der eigenen Familie auf.

In einem weiteren Handlungsstrang wird die enge Beziehung des Komponisten Bernard mit dem Dirigenten Tom dargestellt. Bernard ist schon lange depressiv-melancholisch und kündigte schon mehrmals seinen Suizid an. Er verknüpft sein existenzielles Scheitern eng mit der möglichen und gewünschten Vollendung seiner Komposition „Sterben“. In diesem Musikstück dominiert eine koreanische Cellistin mit Solosequenzen. Mit ihr hat Bernard eine Beziehung und sie hat einen Schlüssel zu seinem großen Haus. Das Finale nimmt seinen tragischen Lauf durch den Suizid von Bernard. Hierzu bestellt er Tom zu sich ins Haus, überreicht ihm die letzte vollendete Version seiner „Sterben“-Komposition und weiht ihn in sein Suizidvorhaben ein: Er hat sich ein tödliches Medikament besorgt und will sich in der warmen Badewanne zusätzlich die Pulsadern aufschneiden. Dann verbarrikadiert er sich nach einer Abschiedsumarmung im Badezimmer. Tom ist irritiert und hilflos. Er weiß nicht, was er tun soll. Er ist hochambivalent und innerlich zerrissen. Schließlich ist es nicht die erste Suizidankündigung von Bernard. Hilfesuchend ruft er mit seinem Handy die Ex-Freundin Liv an. Diese ermuntert ihn, Bernard zu retten und aus dem Bad herauszuholen. Doch seine Ambivalenz bleibt qualvoll. Erschöpft legt er sich aufs Sofa und schläft kurz ein. Als er wieder aufschreckt und schließlich doch die Badezimmertür aufbricht, findet er Bernard verblutet und in den letzten Zügen in der blutrot gefärbten Badewanne. Er verabschiedet sich, geht und ruft die Polizei. Er ist bereits verschwunden, als diese eintrifft.

In der zweiten Hälfte des Filmes taucht wiederholt Toms Schwester Ellen mit ihrem Liebhaber, einem verheirateten Zahnarzt auf. Beide trinken exzessiv Alkohol. Sexuelle Exzesse und schrille Szenen prägen dieses Kapitel. Höhepunkt dieser Eskapaden ist eine Aufführung von „Sterben“ in der Hamburger Elbphilharmonie, bei der Ellen und ihr Liebhaber anwesend sind. Ellen bekommt einen hysterischen Hustenanfall und kotzt schließlich andere vornehm gekleidete Zuhörer mit ihrem schwallartigen Erbrochenen voll. Sie stört die Aufführung ihres Bruders Tom, die unterbrochen wird. Ein Eklat sondergleichen.

Im letzten Kapitel folgt eine eindrucksvolle Aufführung der vollendeten letzten Version von „Sterben“. Im Mittelpunkt steht das Cello-Solo der koreanischen Cellistin. Dieses ist so eindrucksvoll und wundervoll, dass es wohl jedem Zuschauer im Gedächtnis bleiben dürfte. Für den Deutschen Filmpreis 2024 ist die Musik, die von Lorenz Dangel komponiert wurde, für die „Beste Filmmusik“ nominiert. Während dieses ergreifenden Cello-Solos weint der Dirigent Tom und sein „sprechendes Gesicht“ verstärkt diese Szene. Ganz zum Schluss wird kurz die Urnenbeisetzung der Mutter Lissy Lunies gezeigt. Diesmal sind erstmals beide Geschwister anwesend – während sie bei der Beerdigung des Vaters Gerd Lunies beide nicht da waren. Wortlos fast ist diese Schluss-Szene. Ellen kam allein mit einem alten klapprigen Auto – Tom kam mit seiner jungen „Familie“ und eigenem Kind. Der Tod hat wohl einmalig die beiden Geschwister zusammengebracht – dann gehen sie wieder auseinander getrennte Wege.

„Prädikat besonders wertvoll“ durch die Deutsche Film- und Medienbewertung 

Die Jury der Deutschen Film- und Medienbewertung hat das Filmdrama von Matthias Glasner hochgelobt und mit dem „Prädikat besonders wertvoll“ ausgezeichnet: ein exzellentes Drehbuch, ein großartiges Ensemble, eine zugespitzte Dramaturgie und ein Anreiz für existenzielle Fragen über das Lieben, das Leben und das Sterben. Der Film zeige die Geschichte einer dysfunktionalen Familie aus verschiedenen Perspektiven. Im Pressetext wird betont: „Der gestaute Ärger, der verdrängte Frust, die nie zugelassene Trauer lassen einzelne Dialogszenen förmlich explodieren, hin zu Offenbarungen, die auch für das Publikum schmerzvoll sein können.“

In der Jury-Begründung wird der Film wie folgt charakterisiert:

„Er zeichnet ein Kaleidoskop toxischer Familienstrukturen, emotionaler Kälte und Beziehungsunfähigkeit…Nicht nur das tabuisierte Motiv des Sterbens wird zum Hauptthema des Films, sondern auch andere tabubelastete Bereiche werden mitunter erstaunlich explizit behandelt: Das Phänomen „regretting parenthood“ („Ich habe dich nie geliebt“) etwa, die Dämonen des depressiven Künstlers, die Exponierung von Krankheiten und körperlichem Verfall. Es wird deutlich, dass Traumata nie aufgearbeitet, sondern meist an die nächste Generation weitergegeben werden.“

Zerrüttete Familien – beschädigte, traumatisierte und verletzliche Menschen

Der Film handelt nach der oben zitierten Jury-Begründung von dysfunktionalen Familien und von toxischen Familienstrukturen, von Lieblosigkeit, emotionaler Kälte und Beziehungsunfähigkeit. Betrachtet man die Hauptfiguren dieses Filmes, so trifft dies erschreckend zu. Es wird überhaupt nur eine Familie gezeigt – die der Eltern –  und diese ist furchtbar gescheitert (vgl. Ankelmann 2024). Die Eltern sind im Alter gebrechlich und hilflos. Sie haben zwei Kinder, doch diese kümmern sich nicht um sie und helfen ihnen nicht. Sie wohnen weit entfernt in der Großstadt und bleiben auf Distanz. Die chaotisch lebende Tochter Ellen hat schon viele Jahre gar keinen Kontakt mehr mit ihren Eltern. Totaler Beziehungsabbruch. Tom kommt selten widerwillig und mit schlechtem Gewissen. Die kranken Eltern brauchen Hilfe von fremden Menschen.

Die anderen Hauptpersonen des Filmes haben gar keine Familie gegründet. Tom schwankt zwischen seiner Ex-Freundin Liv und seiner Assistentin. An beide ist er nicht fest gebunden. Seine Schwester Ellen hat nur sexuelle Affären und keine Beziehungen. Ihr Partner, der Zahnarzt, ist verheiratet und geht fremd. Der Komponist Bernard lebt allein in einem großen Haus auf dem Lande und hat keine feste Partnerin. Liv bekommt ein Kind, will aber mit dem Kindsvater nicht zusammenleben und engagiert Tom als Ersatzvater. Die beiden Kleinkinder, die im Film auftauchen, leben in unsicheren Beziehungen. Keine Heirat, keine Ehe, keine Festlegung (vgl. Balkenborg 2024, Körte 2024). Die moderne Beziehungswelt, die im Film gezeigt wird, ist also durchaus geeignet, existenzielle Fragen zu stellen über die aktuelle Lebenswirklichkeit von Beziehungen, Liebe, Tod und Sterben. Nur – wie sehen die Antworten auf diese existenziellen Fragen aus?

Die Wiederholung des Traumas – unerwünschte Kinder in prekären Beziehungen

In der Jury-Begründung ist von der Weitergabe von Traumata die Rede. Das kindliche Trauma von Tom und Ellen ist die Lieblosigkeit und emotionale Kälte ihrer Mutter. Im Dialog mit ihrem Sohn Tom bekennt die Mutter Lissy – ebenfalls sehr herzlos und gefühllos – dass Tom kein Wunschkind war und dass sie ihn nie geliebt habe. Sie berichtet von mütterlicher Gewalt gegen den neugeborenen Tom. Sie habe ihn zu Boden fallen lassen oder absichtlich auf den Boden geworfen. Deshalb habe sie lange Angst und Schuldgefühle gehabt. Fürchtete jahrelang, dass er dadurch einen Hirnschaden haben könnte. Warum sagt die Mutter dies ihrem Sohn Tom – und das gerade am Tag der Beerdigung des Vaters?

Welche inneren Motive die Tochter Ellen für den jahrelangen Beziehungsabbruch mit den Eltern hatte, wird im Film nicht offenbart. Vermutlich war es dieselbe Lieblosigkeit und emotionale Kälte der Mutter.

Das Trauma des unerwünschten Kindes wiederholt sich im Film bei den neugeborenen Kindern, das von Ex-Freundin Liv und von Tom und seiner Assistentin. Beide Kinder waren keine Wunschkinder. Vielmehr Zeugungen, die passiert sind wie Verkehrsunfälle. Beide Kinder wachsen in unsicheren und ungeklärten Beziehungen auf. Das Trauma wiederholt sich und wird an die nächste Generation weitergegeben.

Transgenerationale Traumatransmission als aktuelles psychologisches Phänomen moderner Familien und Beziehungen

In der aktuellen Psychologie ist die „Transgenerationale Traumatransmission“ ein bedeutsames Thema. Unbewältigte sexuelle Traumata oder Gewalttraumata werden an die Folgegenerationen weitergegeben. Dies gilt auch für Suizide und Ehescheidungen. Scheidungskinder lassen sich signifikant häufiger scheiden als jene, bei denen die Eltern ein Paar geblieben sind. In der Gewaltdynamik gibt es zwei Muster der Weitergabe: Opfer bleiben Opfer (Reviktimisierung) und ihre Kinder werden wieder Opfer von Gewalt. Oder die Opfer werden zu Tätern (Opfer-Täter-Transition) und verüben später selbst Gewalttaten (Übersicht über diese Zusammenhänge bei Herbert Csef, Trauma und Resilienz 2024).

Die Macht des Todes – der Tod führt entzweite Menschen zusammen und trennt sie  

Das Filmdrama von Matthias Glasner trägt den treffenden Titel „Sterben“. Es zeigt drastisch, wie heute gestorben wird. Der Film erzählt von der Einsamkeit der Sterbenden, die von dem Soziologen Norbert Elias vor Jahrzehnten erkannt wurde und aktuell immer wieder Thema wird (Csef 2018, 2022). Das Sterben des alten Ehepaares Gerd und Lissy Lunies im Film ist nicht gerade würdevoll. Gerd stirbt allein im Pflegeheim nach einem Sturz aus dem Bett in der Nacht. Der Tod von Lissy wird nicht gezeigt. Ausführlich wird der Suizid des Komponisten Bernard im Film gewürdigt. Die vielen Suizidankündigungen und schließlich der blutige Vollzug desselben. Bernard ruft vor der Suizidhandlung noch seinen Freund Tom zu sich. Während Gerd Lunies allein und einsam stirbt und auch bei seiner Beerdigung keines seiner beiden Kinder anwesend ist, sind bei der Beerdigung von Lissy Lunies in der Schluss-Szene immerhin beide mit dabei. Der Tod führt sie noch einmal zusammen – dann driften sie wieder auseinander. Der Tod vereint und trennt zugleich.

Literatur

Ankelmann, Nicole (2024). Eine dysfunktionale Familie schenkt sich ein. Matthias Glasners „Sterben“. Ntv vom 25. April 2024

Balkenborg, Jens (2024). Herz und Gefühl vergleichen. Familiengeschichte „Sterben“ im Kino. Taz vom 24. April 2024

Csef, Herbert (2018). Die Einsamkeit der Sterbenden. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 2, S. 1 – 10

Csef, Herbert (2022). Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer Verlag, Regensburg

Csef, Herbert (2024). Trauma und Resilienz in der Psychoanalyse. Psychosozial Verlag, Gießen

Deutsche Film und Medienbewertung (2024). Pressetext und Jury-Begründung zum Film „Sterben“

Körte, Peter (2024). Alarm im Seelennotstandsgebiet. Glasners Film „Sterben“. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. April 2024

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.