Kissinger verstand sich als Protagonist des historischen und politischen Realismus. In seinen Büchern wie in seiner politischen Praxis wandte er sich gegen hochfliegenden Idealismus, wie er ihn im „Wilsonianismus“ („the war to end all wars“; „ro make the world safe for democracy“) verkörpert sah. Letztlich bedeutete dies auch die Zurückweisung der Idee Kants vom ewigen Frieden. Kritikern erschien sein persönliches Machtstreben, erst recht seine Machtpolitik im Dienste der Weltmacht USA als amoralischer Machiavellismus, was zumindest für Kissingers Leitbegriff eines von Mal zu Mal zu tarierenden machtpolitischen Gleichgewichts in der Staatenwelt nicht zutrifft.
Sein Konzept einer auch noch im 21. Jahrhundert praktikablen Weltordnung entwickelte er 2014 unter dem Stichwort „Westfälischer Frieden“ (siehe dazu meinen Rezensionessay https://www.iablis.de/iablis/themen/2016-die-korruption-der-oeffentlichen-dinge/rezensionen-2016/115-kissingers-amerikanische-weltordnung). Leadership verband er in seinem letzten Buch (2022) – unter dem deutschen Titel erschienen als „Staatskunst“ – mit den Namen Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar as-Sadat, Lee Kuan Yew und Maragaret Thatcher.
Als Historiker beschrieb Kissinger, ausgehend von der „realistischen“ Großmachtdiplomatie auf dem Wiener Kongress, die Wirkkraft der Fakten und sparte mit der Ausgestaltung von Hypothesen oder kontrafaktischen Überlegungen. Anstelle eines weiteren Nachrufs sei die Überlegung gestattet: Was wäre aus Henry Kissinger – geboren im deutschen Krisenjahr 1923 in Fürth, 1938 vor den Nazis aus Deutschland geflohen -, was wäre aus dem Land seiner Geburt geworden, wenn anno 1933 nicht die „Machtergreifung“ Hitlers – realiter die aus einem Intrigenspiel resultierende Machtübertragung – stattgefunden hätte?