Kriegsmacht Deutschland?

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Viele glauben, die Debatte um Deutschland als „Führungsmacht“, um die Außen- und Sicherheitspolitik, die Zeitenwende, die „enorm teure“ Aufrüstung der Bundeswehr, um die Lieferung von Kampfpanzern und Kampfflugzeugen etc. sei ausgelöst worden durch den Ukrainekrieg. Tatsächlich aber wurde diese Diskussion schon vor rund zehn Jahren in Fachkreisen im Umfeld des Auswärtigen Amts geführt. Dokumentiert und analysiert wurde diese Fachdebatte in einem 2018 veröffentlichten Buch der Akademie Bergstraße: Kriegsmacht Deutschland? Eine öffentliche Auseinandersetzung mit dieser für Deutschland brandgefährlichen, möglicherweise schicksalhaften Entwicklung blieb allerdings aus.

Weithin unbekannt ist, dass Expertinnen wie Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Grunde seit vielen Jahren schon bereit stehen, um wie jetzt ständig in Talkshows zu sitzen, um den Hang der Deutschen zur „militärischen Zurückhaltung“ in Frage zu stellen.

Im Kern geht es um seit langem schon bestehende „internationale Erwartungen an Deutschland“, seine jahrzehntelang praktizierte „Politik der militärischen Zurückhaltung“ aufgeben zu sollen – man könnte auch sagen: aufgrund wachsenden äußeren Drucks aufgeben zu „müssen“.

Deutschland soll sich als „führende“, u.a. auch militärische Ordnungsmacht in Europa, im Nahen Osten und in Teilen Afrikas engagieren, und genau das geschieht derzeit scheibchenweise, indem Deutschland „wider Willen“ in eine „dienende Führungsrolle“ hineingedrängt wird.

Man setzte sich mit dem Buch „Kriegsmacht Deutschland?“ vermutlich auch deswegen nicht frühzeitig und vertieft auseinander, weil die von der Akademie Bergstraße dokumentierte Debatte und das Ergebnis der Analyse vielen Seiten nicht gefiel. In „transatlantischen“ Kreisen stößt sicherlich auf, wenn offengelegt wird, dass mit dem „Chatham House“ ein führender Londoner Think Tank mit massivem Erwartungsdruck eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik einfordert.

In linken und „friedensbewegten“ Kreisen gefiel vermutlich das Ergebnis nicht, wonach die deutsche Regierungspolitik jahrzehntelang doch weitaus weniger „aggressiv“ war, als man gerne den Anschein erwecken möchte. Abgesehen insbesondere von der Beteiligung am Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999 – bereits Folge massiven internationalen Drucks – war diese Politik von einer „militärischen Zurückhaltung“ geprägt. Der Politologe Stephan Bierling hat diesem Charakteristikum der zurückliegenden deutschen Außenpolitik ein 2014 veröffentlichtes Buch mit dem aussagekräftigen Titel „Vormacht wider Willen“ gewidmet. Detailreich stellt Bierling dar, dass es der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen wie in Afghanistan anhand restriktiver Einsatzregeln zumindest offiziell untersagt war, Offensivoperationen der Partner zu unterstützen.

So ist zu erklären, dass keine der Seiten, die sich vor Jahren schon für außen- und sicherheitspolitische Fragen interessierten, diese Debatte aufgegriffen haben, analysieren und diskutieren wollten, während die breite Öffentlichkeit kaum ahnte, was sich hinter den Kulissen im Grunde schon seit der deutschen Wiedervereinigung mit wachsender Macht zusammenbraute. Und wenn jetzt Teile der Bundesregierung immer wieder zaudern und zögern, um dann am Ende doch dem internationalen Erwartungsdruck nachzugeben, dann mag das manche politische Beobachter in den Talkshows wie „Illner“ belustigen, in der Wirklichkeit geht es darum, dass dabei mit knallharten Bandagen über Deutschlands und Europas Zukunft verhandelt und entschieden wird.

Ein Buch wie „Kriegsmacht Deutschland?“ ist natürlich irritierend, da herausgearbeitet wurde, in welch schwerwiegendem Dilemma sich die deutsche Außenpolitik seit langer Zeit schon befindet: Sowohl eine Beteiligung als auch eine Nicht-Beteiligung an Kriegen könnte künftig – im ungünstigsten Fall – als „neue Schuld“ ausgelegt werden und zu massivsten schädlichen Folgen in vielfacher Hinsicht, u.a. an unserer Volkswirtschaft führen.

Dies ist ein äußerst brisanter Punkt, der nicht leicht zu verstehen, nicht leicht „zu verdauen“ und in seinen Konsequenzen alles andere als leicht zu akzeptieren ist.

Gerade deswegen ist es ein schweres Versäumnis, dass es keine politische Kraft bislang geschafft oder vonnöten gehalten hat, diese Debatte von vor etlichen Jahren in die breite Öffentlichkeit zu tragen, um sich mit diesem Dilemma vertieft zu befassen, welches in ein neues deutsches Trauma führen könnte.

Deutlich verwiesen wurde in dieser außenpolitischen Debatte auf die geschäftlichen Erfolge Deutschlands, die langjährigen Exporterfolge. Der scharfe Vorwurf lautete, Deutschland sei ein „Trittbrettfahrer“, der nur seine Wirtschaftsinteressen verfolge, während andere Staaten wie die USA, Großbritannien und Frankreich als militärische „Ordnungsmächte“ einen hohen Preis im Interesse aller zahlen würden, diese aber zusehends „militärisch überdehnt“ seien.

Als mögliche Konsequenz steht dabei im Raum, dass Deutschlands Handelserfolge, Deutschlands Prosperität, Deutschlands Wohlstand künftig in Frage stehen, wenn auch weiterhin keine Kampfpanzer, Kampfflugzeuge und Kampftruppen an die Kriegsschauplätze Europas, Nordafrikas und in den Nahen Osten geschickt werden. Die aktuellen Deindustrialisierungs-Tendenzen in Deutschland, die mit der Zerstörung der Versorgung der deutschen Industrie mit billiger Energie durch die Sprengung der Erdgas-Pipeline „Nordstream 2“ beschleunigt wurden, könnten auch damit in Verbindung stehen. Hat sich Deutschland zu lange geweigert, sich aktiv an Kriegen zu beteiligen?

Es ist notwendig, sich mit diesen Hintergründen deutlich vertiefter zu befassen, als allein nur den Streit um das Verhältnis zu Russland wiederzubeleben. Denn die Wirklichkeit scheint sehr viel komplexer, verschachtelter und verborgener zu sein, als es in den aktuellen Debatten abgebildet wird. So sagte beispielsweise der damalige Außenmister der USA, Rex Tillerson, 2017 in einer außenpolitischen Grundsatzrede mit Blick auf den Syrienkrieg, „Russland ist natürlich Teil unseres Engagements in Syrien“. Zuvor hatte der russische Präsident Vladimir Putin 2015 in der UNO-Vollversammlung „eine wirklich umfassende Anti-Terror-Koalition“ zur Durchsetzung „gemeinsamer Interessen“ im Nahen Osten vorgeschlagen.

Der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“, Bernd Ulrich, schrieb schon 2011 in seinem Buch „Wofür Deutschland Krieg führen darf – Und muss“, von einer „Weltordnungsarmee“, einer weltweit agierenden Armee von „hochspezialisierten Profis“, einer globalen „Ordnungsmacht“ mit erdrückender militärischer Überlegenheit. Die deutsche Politik versäumte es bis heute, sich mit diesem Buch kritisch auseinanderzusetzen.

In diesem Kontext wäre es auch notwendig, über eine Aussage im Buch „Neue Kriege“ des bekannten Berliner Politologen Herfried Münkler vertieft nachzudenken und zu diskutieren. Münkler charakterisierte neue Kriege weniger als eine Auseinandersetzung zwischen Kriegsparteien, sondern als Krieg gegen die Zivilbevölkerung: „Es gibt keine Fronten mehr, und deshalb kommt es auch nur selten zu Gefechten und eigentlich nie zu großen Schlachten, sodass sich die militärischen Kräfte nicht aneinander reiben und verbrauchen, sondern sich gegenseitig schonen und die Gewalt stattdessen gegen die Zivilbevölkerung richten.“ Dass sich in den neuen Kriegen „die Gewaltanwendung von den gegnerischen Streitkräften“ auf die Zivilbevölkerung verlagert, ist nach Auffassung Münklers „das Ergebnis kalkulierter Planung“.

Beim Syrienkrieg deutete vieles darauf hin, dass Münklers Beschreibung zutrifft. Hinsichtlich des Ukrainekriegs steht eine entsprechende Analyse aus.

Bis dato werden diese und andere Merkwürdigkeiten, Ungereimtheiten bzw. Ungeheuerlichkeiten nicht aufgegriffen, vertieft untersucht, erläutert und diskutiert. Es interessiert einfach nicht, weil es möglicherweise erforderlich machen würde, gewohnte Denkmuster zu hinterfragen und nochmals ein paar Schichten tiefer zu graben. Es würde auch erforderlich machen, nach Fachleuten mit Insiderwissen Ausschau zu halten, die Erklärungen oder zumindest Erklärungsmöglichkeiten für derart gravierende Aussagen haben.

Insbesondere ist auch die Energie- bzw. die Erdgaspolitik verstärkt in den Blick zu nehmen. Nordstream 2 ist keineswegs die erste Erdgas-Pipeline, die im Kontext eines Kriegs außer Betrieb gesetzt wurde: Am 22. Februar 2011, nur fünf Tage nach dem Beginn des Krieges gegen Libyen, wurde die „Greenstream“-Pipeline außer Betrieb genommen, durch die zuvor die libyschen Erdgas-Exporte nach Europa zwischen 2003 und 2010 ganz erheblich ausgeweitet worden waren. Durch den Libyenkrieg 2011 kam es zum massiven Einbruch der Erdgasförderung in dem nordafrikanischen Land. An dem internationalen Militäreinsatz gegen Libyen waren zahlreiche konkurrierende Erdgas-Lieferanten Europas beteiligt. Norwegen beispielsweise stellte für den damaligen Luftkrieg sechs F-16-Kampfflugzeuge zur Verfügung – möglicherweise ebenfalls aufgrund von „internationalen Erwartungen“. Und: Erdgas-Exporteur Russland enthielt sich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 11. März 2011 bei der Abstimmung über de n Luftkrieg gegen Erdgas-Exporteur Libyen.

Die Energie- bzw. Erdgaspolitik ist ein Schlüssel bei der Frage über Krieg und Frieden in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika. Denn die außenpolitischen und militärischen Auseinandersetzungen drehen sich maßgeblich auch darum, wer wie viel Erdgas zu welchem Preis nach Deutschland und in andere europäische Staaten liefern darf. Trotz aller Rhetorik um die Knappheit dieses Rohstoffs: In Wirklichkeit ist das Erdgasangebot unglaublich groß, wir sind quasi umringt von potenziellen Lieferländern, u.a. in Südosteuropa, dem Nahen Osten und Nordafrika. Hinzu kommen Staaten wie die USA und Quatar als Flüssiggas-Anbieter. Der Kampf um Anteile am europäischen Erdgasmarkt wird nicht zuletzt auch mit militärischen Mitteln ausgetragen.

Dies unterstreicht die Sinnhaftigkeit, über die eurasischen Erdgasgeschäfte zu verhandeln, was nichts anderes als Verhandlungen zur Wiedererlangung des Friedens in Europa wären. Die Akademie Bergstraße hatte deswegen 2018 die Durchführung einer „Eurasischen Energie- und Friedenskonferenz“ angeregt.

Wenn nun Sarah Wagenknecht in der Talkshow bei „Illner“ Friedensverhandlungen mit Russland forderte, so sollte man diesen Ansatz in eine inhaltlich erweiterte Matrix überführen: Deutschland sollte Verhandlungen um Erdgas, Verhandlungen um die eurasischen und euro-afrikanischen Energielieferbeziehungen anregen, um eine wesentliche Ursache des Konflikts zu bearbeiten und idealerweise einer Verhandlungslösung zuführen.

Eine solche konstruktive und potenziell friedensstiftende Rolle der deutschen Außenpolitik würde zwar das skizzierte Dilemma fragwürdiger „internationaler Erwartungen“ alleine nicht lösen, es wäre jedoch ein partiell möglicherweise zielführender Ansatz, denn ohne Ausgleich der unterschiedlichen energiepolitischen Interessen in und rund um Europa wird eine Befriedung unseres Kontinents kaum möglich sein.

Es ist jedenfalls eine besonnene Handlungs-Alternative zu den Denkmustern der amtierenden deutschen Außenministerin, die erklärtermaßen einen Krieg gegen einen anderen Staat führen und dessen Wirtschaft zerstören möchte, was sicherlich nicht dem Willen der deutschen Bevölkerung entspricht.

Quelle: Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung

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