Zum Tag der Deutschen Einheit – Demokratie braucht Optimismus

Stück Mauer, Foto: SGL

Wir veröffentlichen hierden Berliner Ordnungsruf vom Cemtrum für Europäische Politik

Warum Demokratie und Marktwirtschaft wieder den Optimismus der Anstrengung brauchen

Die großen Umbrüche der Gegenwart lösen eine Zeitenwende aus. Es ist Zeit für neue Ideen und eine progressive Ordnungspolitik: Wie können wir unsere Werte schützen und zukunftsfähige Visionen entwickeln? Und welche Rolle spielt Europa dabei?

Ein Ruck müsse durch Deutschland gehen. Diese Forderung richtete im Jahr 1997 der damalige Bundespräsident Roman Herzog an das damals gerade erst seit sieben Jahren wiedervereinigte Land. Von Verkrustungen war die Rede, von einem Mentalitätswandel, der nötig sei, um den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen zu sein. Das war nur wenige Jahre bevor der Economist vom „kranken Mann Europas“ sprach. Die „Agenda 2010“ von Kanzler Schröder brachte das Land damals wieder in die Spur zurück.

Wieder der kranke Mann Europas

Fast fünfundzwanzig Jahre und einen langen Aufschwung später wiederholt sich Geschichte. Wieder titelt der Economist von Deutschland als „krankem Mann“. Wieder hat sich hartnäckige Verkrustung gebildet. Die Bürokratie hat das Land fest im Griff, Mehltau liegt auf allem. Die Spätphase einer goldenen Ära des Wohlstands wird überall sichtbar – auf den Schienen und Straßen, in den Schulen und Krankenhäusern.

Inzwischen steht die Wirtschaft vor einem gefährlichen Kipppunkt. Eine ideologisch betriebene Energiewende bringt das Land an den Rand einer Deindustrialisierung. Auch die Demokratie scheint so gefährdet wie seit der Wiedervereinigung nicht. Der Verlust an Vertrauen in Politik und Institutionen befindet sich auf einem Rekordwert und hat – bis in ihre Mitte hinein – weite Teile der Gesellschaft erreicht. Gefährliche Bruchlinien spalten die Gesellschaft, sie verlaufen längst nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Stadt und Land, zwischen Generationen und Milieus.

Die Krise des demokratischen Kapitalismus

Martin Wolf, Mitherausgeber und Kolumnist der Financial Times, hat in seinem jüngsten Buch die „Krise des demokratischen Kapitalismus“ eingehend beschrieben. Der einst stabile Zusammenhang zwischen Demokratie und Marktwirtschaft ist schwächer geworden. Das Parlament ist nicht mehr die Herzkammer der Demokratie, der Markt nicht mehr das Prinzip der Marktwirtschaft. Während die Lobby den Markt aushebelt, ziehen die NGOs in die Parlamente.

Was ist das Versprechen der Demokratie? Es ist nicht Gerechtigkeit, sondern politische Gleichheit und politische Freiheit. Was ist das Versprechen der Marktwirtschaft? Es ist nicht Wohlstand, sondern wirtschaftlicher Wettbewerb und wirtschaftliche Freiheit. Demokratie und Marktwirtschaft sind lediglich die beste Voraussetzung für, aber keine Garantie von Gerechtigkeit und Wohlstand. Es ist wie bei einem Muskel: Wenn die politische und wirtschaftliche Freiheit nicht gelebt wird, verkümmern Demokratie und Marktwirtschaft. Ihr Versprechen existiert nicht als Recht und Anspruch, sondern vor allem als Pflicht und Verantwortung.

Demokratie und Marktwirtschaft sind gut darin, Fortschritt und Wohlstand zu bringen, weil sie die Politik und die Märkte zum konstruktiven Umgang mit der Realität zwingen. Diktaturen interessieren sich nicht sonderlich für die Realität. Nur mit Bezug zur Realität wird aus Visionen Fortschritt. Ohne Realitätsbezug werden Visionen zu Ideologien.

Realitätsverweigerung und Vermögensillusion

Doch genau mit dem Realitätsbezug hapert es derzeit. Die Politik will alles gleichzeitig: Gebäude sanieren, Windräder bauen, Verteidigungsausgaben erhöhen. Politik schüttet Probleme erst mit Geld zu, sorgt damit selbst für strukturelle Defizite, um schließlich die gestiegenen Preise großzügig zu subventionieren. Eine gefährliche Vermögensillusion entsteht: Der Mangel wird verwaltet, die Lasten werden umverteilt, aber Wohlstand, der immer notwendig auf Leistung und Anstrengung basiert, wird dadurch nicht erzeugt. Im Gegenteil: Der Kuchen schrumpft. Die krisenhafte Gegenwart stellt nun ihre Rechnung für eine untätige Vergangenheit. Eine weitere Anleihe bei der Zukunft ist nicht möglich. Die Rechnung geht nicht mehr auf, und die Menschen ahnen das.

Doch wer soll jetzt, da sich die Politik an den Krisenmodus und die Menschen an den großzügigen Staat gewöhnt haben, eine Politik machen, die nicht nur löscht, sondern wieder aufbaut? In vielen Bereichen beträgt der Investitionsrückstand zehn Jahre und mehr: Bildung, Energiesicherheit, Infrastruktur, Verteidigung, Digitalisierung. Die Demografie verschlechtert gleichzeitig die Situation von Fachkräften sowie bei Rente und Pflege. Wer spricht die unbequeme Wahrheit aus, dass es jetzt Jahre braucht, um diesen Rückstand aufzuholen? Wer macht wieder eine Politik der langen Wege und nimmt das politische Risiko in Kauf, nicht wiedergewählt zu werden?

Mehr Optimismus wagen

Heute hilft kein „Wumms“ mehr und auch kein „Doppelwumms“. Ein „Ruck“ ist wieder nötig. Und heute ist es eigentlich schon ein „Doppelruck“. Wenn Politik den Eindruck vermittelt, Wohlstand sei anstrengungs- und risikolos vom Staat garantiert, dann ist es kein Wunder, dass ein demokratischer Sozialismus oder ein autokratischer Kapitalismus plötzlich attraktiver erscheinen als eine anstrengende Demokratie und eine mühsame Marktwirtschaft. Wenn nach dem Wumms aber nicht bald ein Ruck kommt, macht es irgendwann Rumms.

Die Wende zum Guten ist immer noch möglich. Aber haben wir den Mut dazu? Mut ist nicht die Überwindung der Angst, in der Deutschland ja (Welt-)Meister ist. Mut ist eine Kombination aus der Ambition, etwas erreichen zu wollen, und dem (Selbst-) Vertrauen, es schaffen zu können. Weder Ambition noch Vertrauen beschreiben heute dieses Land. Doch Optimismus steht am Anfang von allem, was man selbst anpackt. Er ist damit eine unverzichtbare Zutat von Demokratie und Marktwirtschaft, eine Zutat, die man in Diktaturen vergeblich sucht. Was für ein Glück, trotz allem optimistisch sein zu dürfen.

Mit herzlichen Grüßen zum Tag der Deutschen Einheit,
Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik

Quelle: Centrum für europäische Politik

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