Helmut Schmidt: Überalterung und Schrumpfung zwingen zum Umbau

In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, davon sind 40 Millionen erwerbstätig. Sie arbeiten Voll- oder Teilzeit, einige sind selbständig. Weitaus die meisten sind Arbeitnehmer in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Die übrigen 42 Millionen Einwohner leben von dem Sozialprodukt, welches die kleinere Hälfte der Einwohner hervorbringt (und von unentgeltlichen Leistungen innerhalb der eigenen Familie oder Nachbarschaft). Die Erwerbsquote liegt also deutlich unter 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Rund 21 Millionen Einwohner erhalten eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung; das sind etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1957 hatte der Anteil nur rund 10 Prozent betragen, er wird aber weiterhin steigen. Etwa 6 Millionen Einwohner erhalten Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe (ihre Zahl stagniert, bei einigen Schwankungen, seit Mitte der neunziger Jahre). Insgesamt leben in Deutschland rund 27 Millionen Empfänger staatlicher Sozialleistungen, von denen die allermeisten keine Einkommensteuern und keine Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen haben.

Wer sich diese Zahlen und die weiter ansteigende Alterung unserer Gesellschaft vor Augen führt, wird auf einen Blick zwei für die Zukunft grundlegende Erkenntnisse gewinnen: Zum einen muß die Mehrzahl der Arbeitslosen in Lohn und Brot gebracht werden, wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates und damit seine Sozial- und Rentenpolitik langfristig gesichert bleiben sollen. Zum anderen muß ein weiteres dynamisches Anwachsen der Sozialleistungen gebremst werden. Eine hohe Arbeitslosenrate und ein hoher Rentneranteil an der Gesellschaft entsprechen einer niedrigen Erwerbsquote. Sollte es dabei bleiben, könnte der Sozialstaat in ernste Gefahr geraten. Gegen Ende der achtziger Jahre wurde das Problem bei uns erstmals erkannt. Aber seit der deutschen Vereinigung 1990 hat man vor dieser Gefahr lange Zeit die Augen verschlossen. Wir haben zwar 1990 mit innerer Überzeugung den Artikel 20 des Grundgesetzes auf ganz Deutschland ausgeweitet: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Tatsächlich aber haben wir den Sozialstaat seither zunehmend in Gefahr gebracht.

Es liegt kein Trost darin, daß Deutschland in Westeuropa und in der Europäischen Union nicht das einzige Land ist, das weder eine ausreichende Erwerbsquote erreicht noch den Wohlfahrtsstaat auf eine für die Zukunft ausreichende, finanziell gesunde Grundlage gestellt hat. Immerhin haben uns einige der kleineren Nachbarstaaten gute Beispiele gegeben – besonders Dänemark, Holland und Österreich. Daß die Staaten im Osten Mitteleuropas beim Vergleich deutlich schlechter abschneiden als wir, ist ebenfalls wenig tröstlich; Polen, Tschechien, Ungarn und andere werden noch Jahrzehnte unter den strukturellen Folgen planwirtschaftlicher kommunistischer Zwangswirtschaft leiden.

Tatsächlich ist der in Europa entworfene und weitgehend verwirklichte Wohlfahrtsstaat die größte kulturelle Leistung, welche die Europäer während des ansonsten schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben. In den meisten europäischen Staaten ist der Anspruch auf öffentliche Sozialleistungen gesetzlich verankert. In Deutschland umfaßt die soziale Absicherung eine Vielzahl von Leistungen: Kindergeld, Erziehungsgeld, Wohngeld, Sozialhilfe, Bafög, Leistungen während Elternzeit und Mutterschutz, Arbeitslosengeld und Grundsicherung für Arbeitsuchende, Krankenversicherung, Kriegsopferversorgung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung usw. Vor hundert Jahren gab es die Bismarcksche Alters- und Invaliditätsversicherung – und sonst fast gar nichts. Seither haben wir schrittweise den heutigen Wohlfahrtsstaat aufgebaut. Nur sehr zögernd sind einige außereuropäische Staaten dem Beispiel der Europäer gefolgt. Die europäischen Bürger aber erwarten von ihren Regierungen eine reibungslose Fortsetzung aller bisherigen Sozialpolitik. Trotz aller strukturellen Veränderungen und trotz der Überalterung ihrer Gesellschaften halten die allermeisten Menschen den bisherigen Wohlfahrtsstaat für selbstverständlich. Sogenannte Neoliberale, welche den Wohlfahrtsstaat prinzipiell zurückfahren wollen, gelten als Außenseiter der Gesellschaft und werden es wohl auch bleiben.

Wenn wir aber das Problem der Massenarbeitslosigkeit, besonders der älteren Jahrgänge und konzentriert im Osten Deutschlands, nicht beheben, können wir den bisherigen Sozialstaat nicht aufrechterhalten. Dann besteht durchaus die Gefahr, daß die Wähler sich massenhaft von den demokratischen Volksparteien abwenden. Populistische Politiker aber, die im Gegenteil zusätzliche Sozialleistungen versprechen, gefährden die Existenz des Wohlfahrtsstaats. Der Abbau der hohen Massenarbeitslosigkeit muß jedenfalls an erster Stelle stehen, bevor andere Korrekturen in die Wege geleitet werden können. Es ergibt keinen Sinn, mehr Teilzeitarbeit oder ein späteres Renteneintrittsalter zu propagieren, solange noch arbeitswillige Arbeitslose keine Arbeit finden, weil zusätzliche Arbeitsplätze nicht angeboten werden.

Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze war Bundeskanzler Schröders sogenannte »Agenda 2010« im Jahre 2003 ein erster, wenn auch sehr später Schritt in die richtige Richtung. Die Verwirklichung en détail war jedoch unzureichend, einige Korrekturen sind inzwischen erfolgt. Aber noch immer gelten mit Gesetzeskraft allgemeinverbindliche flächendeckende Lohntarife; immer noch dürfen Betriebsräte keine individuellen Lohn- und Arbeitszeit-Tarife mit der Geschäftsleitung abschließen; immer noch gilt der Innungszwang; immer noch bleiben Arbeitsplätze als Folge von Zumutbarkeitsregeln unbesetzt; immer noch können sehr viele Menschen vom Arbeitslosengeld oder von Sozialhilfe (heute meist mit dem Stichwort »Hartz IV« bezeichnet) und etwas Schwarzarbeit ausreichend gut leben. Immer noch entspricht die Schwarzarbeit wahrscheinlich rund 15 Prozent zusätzlich zum statistisch erfaßten Volkseinkommen.

Unser Arbeitsmarkt ist übermäßig hoheitlich und zugleich übermäßig durch die Tarifparteien, das heißt durch private Mächte, mit vielerlei Regeln eingeengt. Wir sprechen zwar von einem Markt; tatsächlich aber werden entscheidend wichtige Teile dieses Marktes von einander feindlich gesinnten Monopolen regiert. Mächtige monopolistische Arbeitgeberverbände und mächtige monopolistische Gewerkschaften entscheiden über Manteltarife und Lohntarife, und zwar ohne viel Rücksicht auf die Folgen für Gesellschaft und Staat. Wohl aber macht der Staat durch die von ihm verordnete »Allgemeinverbindlichkeit« beide Pole de facto zu Zwangskartellen (die durch Gesetz erzwungene Mitgliedschaft in handwerklichen Innungen, welche zugleich Tarifpartner sind – aus dem deutschen Mittelalter überkommen – ist die reinste Form eines Zwangskartells). Tarifautonomie – das heißt: Nichteinmischung des Staates in die Lohnfindung –, ist eine gute Sache. In Deutschland handelt es sich jedoch um die Autonomie von staatlich privilegierten privaten Bürokratien der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften.

Nur eine weitreichende Deregulierung des Arbeitsmarktes kann Abhilfe schaffen. Weitere und unvermeidlich schmerzhafte Veränderungen bleiben notwendig. Geschäftsleitungen und Betriebsräte müssen das Recht zur Vereinbarung von Arbeitszeiten und Löhnen erhalten. Die gesetzliche Allgemeinverbindlichkeit von Tarifen, die zwischen privaten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkartellen geschlossen werden, muß beseitigt werden. Die Kündigungsschutzgesetzgebung ist weiter einzuschränken. Ein gesunder Arbeitsloser, der einen ihm nachgewiesenen Arbeitsplatz nicht annimmt, sollte einen Teil seines Arbeitslosengeldes verlieren. Das Arbeitslosengeld II darf über mehrere Jahre nicht weiter angehoben werden, bis ein gehöriger Abstand zu den geringsten Löhnen erreicht wird, so daß ein Anreiz zur Annahme eines Arbeitsplatzes entsteht.

Keiner dieser Schritte wird populär sein. Sie waren bereits in den neunziger Jahren unpopulär, als ich sie zum ersten Mal erläutert habe. Manche Gewerkschaft, aber auch die Extremisten links und rechts werden Sturm laufen. Die Macht einiger Gewerk­schaften und einiger der großen Arbeitgeberverbände ist heute allzu groß geworden. Sie haben gemeinsam allzu viele Ältere in die Frühverrentung geschickt, das heißt deren Unterhalt dem Staat überlassen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben gemeinsam ihre Macht mißbraucht, zum Teil zu Lasten der Beschäftigung und zum Teil zu Lasten der Steuerzahler. Allerdings hat der Gesetzgeber ihnen diesen Mißbrauch ausdrücklich ermöglicht.

Es wird besonders der Sozialdemokratie, aber auch den Sozialausschüssen der Unionsparteien sehr schwer fallen, den deutschen Arbeitsmarkt aufzulockern und ihn von schädlichen staatlichen Vorschriften zu befreien. Wer jedoch an allen vermeintlichen Errungenschaften unserer Arbeitsgesetzgebung festhält, hält im Ergebnis an einer zu hohen Arbeitslosigkeit fest. Wer zusätzlich einen zu hohen gesetzlichen Mindestlohn einführt, der drängt Arbeitgeber zur Einsparung von Arbeitsplätzen. Denn industrielle Arbeitgeber können zusätzlich Teilfertigungen in einen anderen Staat verlagern, in dem ein niedrigeres Lohnniveau herrscht. Und Arbeitgeber, deren Arbeitnehmer nicht in der Produktion, sondern mit Dienstleistungen beschäftigt sind, die nicht ins Ausland verlagert werden können, werden dazu verleitet, Arbeitnehmer in steuer- und beitragsfreie Schwarzarbeit abzudrängen; dies gilt vor allem für häusliche und landwirtschaftliche Arbeitnehmer und insgesamt für Niedriglohngruppen. Deshalb darf ein staatlich vorgeschriebener Mindestlohn einerseits nicht so hoch sein, daß er zusätzliche Arbeitsverlagerung ins Ausland und zusätzliche Schwarzarbeit verursacht und somit die Zahl der im Inland verfügbaren regulären Arbeitsplätze mindert. Andererseits müßte der Mindestlohn aber deutlich über den Leistungen der Sozialfürsorge liegen, damit kein Arbeitnehmer verführt wird, auf einen regulären Arbeitsplatz zu verzichten, weil er dank der Fürsorge, verbunden mit ein wenig Schwarzarbeit, genausogut leben kann. Das Prinzip des Mindestlohns, das auf den ersten Blick einfach und verführerisch aussieht, ist bei näherer Betrachtung also nicht ohne Probleme. Es funktioniert relativ wirksam in Staaten, in denen der Arbeitsmarkt ansonsten weitgehend unreguliert ist.

Ein Sonderfall der Arbeitslosigkeit liegt in den sechs östlichen Bundesländern vor. Dort sind die Arbeitslosigkeitsraten seit Mitte der neunziger Jahre unverändert doppelt so hoch wie im Westen Deutschlands. Der enorme Transfer öffentlicher Gelder von West nach Ost beläuft sich jedes Jahr auf rund 80 Milliarden Euro, das entspricht etwa 4 Prozent des deutschen Sozialprodukts. Dieser Transfer hat einerseits eine durchgreifende Modernisierung der Infrastruktur im Osten bewirkt, andererseits fließt er weitgehend in den staatlichen und vor allem in den privaten Verbrauch. Weder die Regierungen Kohl und Schröder noch die Regierung Merket haben den ernsthaften Versuch unternommen, die Wirtschaftstätigkeit in den östlichen Teilen Deutschlands bevorzugt zu fördern. Falls es bei dieser Tatenlosigkeit bleiben sollte, könnten jene Schätzungen sich als zutreffend erweisen, die mit vierzig weiteren Jahren Aufholprozeß im Osten rechnen. Das bisherige Tempo dieses Prozesses ist an zwei Zahlen abzulesen: Im Jahr 1995 betrug das Sozialprodukt pro Kopf in den sechs ostdeutschen Ländern im Durchschnitt nur 60 Prozent des in den westdeutschen Ländern erzielten Sozialprodukts; im Jahr 2005, zehn Jahre später, waren es auch nur 67 Prozent.

Rezepte zur Beschleunigung des Aufholprozesses liegen seit Jahren vor, auch ich habe mich mit einigen Vorschlägen zu Wort gemeldet (einige erschienen 2005 in dem Aufsatzband »Auf dem Weg zur deutschen Einheit«). Bisher sind alle Anregungen am Egoismus der westdeutschen Mehrheit gescheitert – besonders am Egoismus der westdeutschen Landesregierungen, die eine einseitige Förderung des Ostens nicht zulassen wollen. Deshalb ist es bisher bei den (entscheidend vom Bund aufgebrachten) finanziellen Hilfen geblieben. Wenn es auch in Zukunft dabei bleiben sollte, kann der permanente finanzielle Aderlaß von jährlich 4 Prozent des Sozialprodukts ein dauerhaftes Zurückbleiben der wirtschaftlichen Wachstumsraten in Deutschland hinter denen anderer Staaten Westeuropas bewirken, denn es handelt sich um einen gewaltigen Batzen (zum Vergleich: Der riesige US-Verteidigungshaushalt entspricht auch »nur« 4 Prozent des amerikanischen Sozialprodukts).

Noch wichtiger als die Konsequenzen des großen Finanztransfers sind aber die psychologischen und die politischen Folgen, die der anhaltende Stillstand des ostdeutschen Aufholprozesses auslösen kann. Die anhaltende Abwanderung junger Leute und der in den östlichen Bundesländern sich wiederholende Wahlerfolg der postkommunistischen und der rechtsradikalen Parteien sind beunruhigend.

Als einige Freunde und ich im Jahre 1993 in Weimar unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten die Deutsche Nationalstiftung gegründet haben, war uns bewußt, daß das Zusammenwachsen von Ost und West ein schwieriger Prozeß werden würde. Schon auf der ersten Jahrestagung der Stiftung 1994 haben wir uns mit der Lage der Nation beschäftigt; im Laufe der Jahre haben wir dann viele Male die Probleme des deutschen Ostens thematisiert. Zur Jahrestagung 2003 haben wir eine Publikation vorgelegt, die sich mit der Rolle Berlins als deutscher Hauptstadt beschäftigt: »Berlin – Was ist uns die Hauptstadt wert?« Inzwischen hat der Hauptstadtvertrag des Jahres 2007, der dritte seit 1992, geregelt, daß der Bund dem Land Berlin bis zum Jahre 2017 statt bisher jährlich 38 Millionen Euro künftig etwa 60 Millionen Euro für sogenannte hauptstadtbedingte Sicherheitsausgaben zur Verfügung stellt. Es ist jedoch nicht gelungen, Klarheit in der Hauptstadtfinanzierung zu erzielen. Denn neben dem Hauptstadtvertrag finanziert der Bund im Rahmen eines Hauptstadtkulturvertrages jährlich rund 430 Millionen Euro für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und für andere kulturelle Einrichtungen in Berlin. Außerdem zahlt der Bund einmalig 200 Millionen Euro für die Sanierung der Staatsoper Unter den Linden, er finanziert die im Bau befindliche sogenannte Kanzler-U-Bahn vom Hauptbahnhof durchs Regierungsviertel zum Alexanderplatz, den Straßenbau im Regierungsviertel sowie die Sanierung der Museumsinsel und des Schlosses Charlottenburg. Und neben seiner Beteiligung am Flughafen Tempelhof wird der Bund auch für den Bau des Berliner Stadtschlosses rund 552 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt beisteuern. Aber über diese vielen finanziellen Einzelregelungen zugunsten der Hauptstadt weit hinaus ist die Stadt Berlin das herausragende Empfängerland von Finanzzuweisungen im Rahmen der zahlreichen bundesgesetzlichen Finanzausgleichssysteme. Weil die Millionenstadt vorhersehbar noch über lange Jahre in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung hinter den westdeutschen Großstädten zurückbleiben wird, gehört die Finanzierung Berlins auch weiterhin zu den ungelösten Aufgaben des deutschen Finanzföderalismus.

In meinen Augen bleibt es für lange Zeit eine der herausragenden Aufgaben jeder Bundesregierung und der sie tragenden Bundestagsmehrheit, den ökonomischen Aufholprozeß des deutschen Ostens wieder in Gang zu setzen und sodann in Gang zu halten. Zu den Mindestvoraussetzungen gehört, daß der Bund seine eigenen oder die von ihm bezahlten Dienstleistungen, wo immer dies möglich ist, an ostdeutsche Standorte verlegt. Das gilt für die noch in Bonn verbliebenen Ministerien und für andere Bürokratien des Bundes, es gilt vor allem für neue Forschungsinstitute und Forschungsvorhaben und für den noch bis 2013 vom Bund finanzierten Universitätsausbau. Wenn der Bund schon bei seinen eigenen Verwaltungen die gesamtdeutschen Notwendigkeiten mißachtet, muß man sich über die Stagnation des ostdeutschen Aufholprozesses nicht wundern. Wie gut oder wie schlecht wir es auch machen und wieviel Zeit auch immer benötigt werden wird – letzten Endes wird der schmerzhafte Prozeß wahrscheinlich gelingen; die Vitalität unseres Volkes erscheint mir als durchaus ausreichend.

Wenn wir unseren Sozialstaat und damit den inneren Frieden in unserer Gesellschaft erhalten wollen, werden uns die stetig zu­nehmenden Veränderungen im Altersaufbau der Gesellschaft für lange Zeit vor immer neue Aufgaben stellen. Als 1891, am Ende der Bismarck-Ära, die Invalidenversicherung für Arbeiter ein­geführt wurde (heute Rentenversicherung genannt), begann die Rentenzahlung mit dem 70. Geburtstag. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines fünfjährigen Jungen lag aber nur bei 58 Jahren. Nur eine kleine Minderheit hat deshalb jemals eine Rente erhalten. 1957, mehr als ein halbes Jahrhundert später, lag der Rentenbeginn regelmäßig beim 65. Geburtstag, während das durchschnittliche Sterbealter erwachsener Männer sich auf rund 66 Jahre erhöht hatte. Im Jahre 2005 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter nur noch knapp über dem 60. Lebensjahr, das durchschnittliche Sterbealter hatte sich aber auf fast 72 Jahre erhöht. Die Rentenbezugsdauer hat sich nicht nur für Männer gewaltig verlängert. Noch vor drei Jahrzehnten, zu meiner Regierungszeit, hatten wir eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von knapp zwölf Jahren, heute erreichen wir im Schnitt 17 Jahre –bei weiterhin steigender Tendenz. Die Ursachen für diese gewaltige Verschiebung liegen einerseits in den Fortschritten der Medizin, der Hygiene, der Pflege und der humaneren Arbeitsgestaltung, die ein längeres Leben ermöglichen; andererseits liegen sie in der mehrfachen gesetzlichen Absenkung des tatsächlichen Al­ters beim erstmaligen Bezug der Rente (Stichwort »Früh-Verrentung«).

Der Altersaufbau unseres Volkes gleicht schon lange nicht mehr einer Pyramide, viel eher neigt er zur Gestalt eines Kugel­baums. Die Zahl der Rentner nimmt stetig zu. Im Jahre 2005 waren 19 Prozent aller Einwohner 65 Jahre alt oder älter, im Jahr 2030 wird dieser Anteil wahrscheinlich auf 27 Prozent ansteigen. Gleichzeitig nimmt aber der Anteil der jüngeren Jahrgänge ab. Seit den sechziger Jahren erleben wir einen dramatischen Abfall der Geburtenrate. Damals ergab sich pro Frau eine Durchschnittsrate von 2,36 Geburten, im Jahr 2005 standen wir bei einer Geburtenrate von nur noch 1,36. Trotz der großen Zuwanderungen seit den sechziger Jahren haben wir es im Ergebnis mit einer zunehmenden Überalterung und zugleich mit einer zahlenmäßigen Schrumpfung der Bevölkerung zu tun. Auf Dauer können aber immer weniger junge Erwerbstätige nicht immer mehr Rentner finanzieren. In den letzten Jahrzehnten hat man die Abgaben- und Steuerlast der Jungen erheblich erhöht und zugleich die Rentenansprüche ein wenig eingeschränkt. Jedoch ist klar erkennbar, daß eine uneingeschränkte Fortsetzung der bisherigen Praxis nicht möglich sein wird.

Auf die beiden Auswege, die bisweilen in der öffentlichen Debatte angeboten werden, will ich hier nicht näher eingehen. Denn eine mit Hilfe steuerlicher und sozialpolitischer Anreize zu erzielende Anhebung der Geburtenrate auf das bestandserhaltende Maß von 2,1 erscheint mir utopisch, sie würde sich selbst im Falle eines Erfolges frühestens in der Mitte des 21. Jahrhunderts ausreichend auswirken. Der andere Ausweg, unser Geburtendefizit durch Einwanderung aus Afrika und Asien aufzufüllen, erscheint mir noch weniger realistisch. Denn schon bisher, beim Stand von rund sieben Millionen ausländischen Einwohnern – davon fast die Hälfte Muslime –, haben wir eine kulturelle Einbürgerung nur sehr unzureichend zustande gebracht. Wer die Zahlen der Muslime in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf. Für einen realistisch Urteilenden bleibt nur die Erkenntnis, daß wir die Alterung unserer Nation als unvermeidlich akzeptieren und die deshalb notwendigen Anpassungen unserer Gesellschaft tatkräftig einleiten müssen. Sie reichen von den Deregulierungen des Arbeitsmarktes und der Anhebung der Erwerbsquote über die Verkürzung der Schul- und Ausbildungs- und Studiendauer bis hin zum Kinder- und zum Elterngeld.

Damit die Veränderungen unseres gesetzlichen Rentensystems für die Bürger einleuchtend und für die Wähler akzeptabel werden, sollten die regierenden Politiker die Fakten und Zahlen ohne Beschönigung immer wieder öffentlich darlegen. Auch die verantwortungsbewußten Medien haben hier eine Aufgabe. Dieser Prozeß wird für viele Politiker schmerzhaft werden. Manche werden sich den Konsequenzen verweigern, andere werden sich opportunistisch zu unwahrhaftigen Versprechungen versteigen. Besonders die ehemaligen Kommunisten und andere Klassenkampf-Ideologen, die sich in Deutschland neuerdings in »Die Linke« umbenannt haben, werden große propagandistische Anstrengungen unternehmen, um naiven Wählern ihre vermeintlichen Patentlösungen vorzugaukeln. Tatsächlich würden aber ihre Vorstellungen in ähnlicher Weise zum sozialökonomischen Bankrott führen wie vor Zeiten in der damaligen DDR; nur mit Hilfe westdeutscher Kapitalzufuhr konnte die DDR-Regierung ihren ökonomischen Zusammenbruch fast über ein ganzes Jahrzehnt hinauszögern. Das fünfmal so große heutige Deutschland aber könnte nicht auf von vornherein verlorene Kapitalzuflüsse von außen hoffen.

Jedenfalls wird die Reformdebatte nicht auf eine oder zwei Legislaturperioden des Bundestages beschränkt bleiben. Manche Einsichten werden nur langsam reifen. Auch später werden die notwendigen Veränderungen gewiß nicht in einem einzigen Schritt verwirklicht werden können. Und höchstwahrscheinlich werden weiterhin linksaußen und rechtsaußen Demagogen auftreten und populistische Illusionen verbreiten, von »Sozialraub« reden oder »die Globalisierung« für unsere sozialökonomischen Probleme verantwortlich machen. Deshalb soll an dieser Stelle die simple Wahrheit hervorgehoben werden: Unsere Rentenprobleme sind so gut wie überhaupt nicht vom internationalen oder globalen Wettbewerb verursacht. Auch wenn wir dem internationalen Wettbewerb nicht ausgesetzt wären, stünden wir in gleicher Weise vor der Aufgabe, unser Rentensystem der allgemeinen Alterung unserer Gesellschaft anzupassen.

Entscheidend wird die Einsicht der Sozialdemokratie werden, daß die Rente keineswegs aus den eigenen früheren Einzahlungen der Rentner finanziert wird, sondern allein aus den gegenwärtigen Einzahlungen der Arbeitenden und der Steuerzahler. Der sogenannte Generationenvertrag beruht auf dem Prinzip, daß jeweils die nachfolgende Generation die Renten und Pensionen der voraufgegangenen Generation durch ihre Versicherungsbeiträge und Steuern finanziert. Die heutige Generation darf darauf vertrauen, daß das gleiche Prinzip auch für sie gelten wird, wenn sie selber später das Rentenalter erreicht hat. Nur insofern ist der oft zu hörende Satz gerechtfertigt: »Wir haben unsere Rente redlich erarbeitet.«

Weil heute überall in Europa und besonders in Deutschland die Rentner immer zahlreicher werden und die nachfolgende zahlende Generation immer mehr abnimmt, wird die Finanzierung der Renten in bisheriger Höhe überall schwieriger. Theoretisch sind drei Auswege denkbar:

1. Entweder muß die Rentenbezugsdauer dadurch verkürzt werden, daß die Rente erst in einem späteren Lebensalter einsetzt, so daß durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit die insgesamt alljährlich benötigten Finanzierungssummen stabil gehalten werden;

2. oder man muß die Renten kürzen;

3. oder man läßt die Renten wie bisher steigen — damit steigen jedoch auch die benötigten Finanzsummen, und man belastet dementsprechend die aktiv Arbeitenden und Verdienenden stärker als bisher mit Beiträgen, Abgaben und Steuern.

Natürlich sind alle möglichen Kombinationen zwischen diesen drei Methoden der Anpassung denkbar. Eine wesentlich stärkere finanzielle Belastung der arbeitenden Generation wird allerdings wohl nur bei schnell wachsendem Wohlstand politisch durchsetzbar sein. Jedenfalls wird es zu längeren Lebensarbeitszeiten kommen, wahrscheinlich nicht nur nach Arbeitsjahren, sondern auch nach der Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr.

Die öffentliche Diskussion über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit wurde schon von Kanzler Schröders »Agenda 2010« angestoßen; weitgreifend wurde sie erst im Jahr 2006 geführt. In der öffentlichen Debatte fürchteten sich besonders die älteren Jahrgänge, obwohl gerade sie von der Reform nicht mehr oder kaum noch betroffen sind, denn die Anhebung des Rentenalters soll erst 2012 beginnen. Wer 1947 geboren wurde, muß dann einen Monat länger arbeiten, die 1948 Geborenen zwei Monate länger und so weiter. Erst für den Geburtsjahrgang 1963 wird nach dem gegenwärtig geltenden Recht die Altersgrenze von 67 Jahren greifen. Von den jüngeren Jahrgängen, die tatsächlich deutlich von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit betroffen werden, kam relativ wenig Protest; von seiten der Gewerkschaften um so mehr. Die Standhaftigkeit der sozialdemokratischen Minister Riester und Müntefering in dieser Debatte bleibt lobenswert, erste gesetzgeberische Schritte sind erfolgt.

Angesichts sehr viel längerer und weiterhin zunehmender Lebensdauer und angesichts deutlich verbesserter Gesundheit auch im Alter ist zusätzliche Arbeitsbelastung absolut plausibel. Man stelle sich den theoretischen Extremfall vor, daß alle Menschen hundert Jahre alt werden und während ihrer letzten vierzig Jahre Rente beziehen, daß aber zugleich die Arbeitenden nur vom 20. bis zum 60. Lebensjahr, das heißt vierzig Jahre lang, arbeiten. In diesem theoretischen Extremfall müßte jeder Arbeitende nicht nur sich selbst und seine Familie, sondern außerdem einen Rentner und dessen Familie ernähren. Dies würde zu einer unzumutbaren finanziellen Belastung der Arbeitenden führen. Tatsächlich sind wir aber schon auf dem Wege, uns langsam einem solchen Ergebnis zu nähern.

Bisher haben viele Politiker, vor allem viele Sozialpolitiker, die öffentliche Meinung mit Illusionen über künftige Rentenzahlungen gefüttert. So hat zum Beispiel noch im Jahr 2005 die staatliche Rentenversicherungsbehörde von Amts wegen an die versicherten Arbeitnehmer sogenannte Renteninformationen verschickt, in denen der Eindruck erweckt wurde, daß die jeweils errechnete und in diesen Schreiben genannte Altersrente aufgrund künftiger Rentenanpassungen tatsächlich höher ausfallen könnte. Ich habe mich damals an den Präsidenten der »Deutschen Rentenversicherung Bund« und an den Arbeitsminister gewandt und darauf hingewiesen, daß mir diese Renteninformationen vor dem Hintergrund der tatsächlichen Lage des Rentenversicherungssystems und der demographischen Entwicklung in Deutschland irreführend und deshalb unseriös erschienen; sie erweckten in hohem Maße Erwartungen, die nicht erfüllt werden könnten. Inzwischen werden solche optimistischen Annahmen nicht mehr verbreitet. Die heutigen Renteninformationen ma­chen deutlich, daß die künftige Rentenhöhe nicht gewiß ist. Nur wenn es rechtzeitig zu den oben skizzierten Veränderungen der Gesetze kommt, kann das heutige reale Rentenniveau gehalten werden.

Weil gegenwärtig einige Politiker einer Verlagerung eines Teils der Altersvorsorge von staatlicher Rente auf private Altersvorsorge das Wort reden, möchte ich an dieser Stelle eine wichtige Tatsache hervorheben: Auch jede private kapitalgedeckte Rente wird aus dem gleichzeitig erwirtschafteten Sozialprodukt der Nation gezahlt; auch eine private Altersvorsorge setzt also eine prosperierende Volkswirtschaft und deshalb einen finanzwirtschaftlich gesunden Staat voraus. Allein die von einem Rentner selbst bewohnte mietfreie Eigentumswohnung (oder das eigene Haus oder der eigene Garten), soweit sie nicht mit Krediten oder Hypotheken belastet ist, stellt einen Beitrag zu seiner laufenden Lebensunterhalt dar, der nicht von anderen erarbeitet wird.

Gleichwohl erscheint der Gedanke keineswegs abwegig, für die eigene Alterssicherung eine Kombination von staatlicher Rente mit privater Rente anzustreben (ein Stichwort dafür ist die »Biester-Rente«). Doch kommt es dabei immer auf die Form und die Bonität der privaten Kapitalanlage und auf die damit verbundenen Risiken an. Der von spekulierenden Fondsmanagern herbeigeführte Zusammenbruch einiger großer amerikanischer Pensionsfonds war ein Warnsignal. Deshalb vertraut die große Mehrheit der deutschen Sparer immer noch lieber ihrer örtlichen Sparkasse als einem ihnen persönlich unbekannten und undurchsichtigen Investmentfonds.

Allerdings kann der internationale Wettbewerb – ob innerhalb des gemeinsamen Marktes der Europäischen Union oder auf den Weltmärkten – uns künftig zu einer anderen Form der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme drängen. Seit über hundert Jahren finanzieren wir die Sozialversicherung im wesentlichen mit sogenannten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen, die sich beide nach den Bruttolöhnen bemessen. Die Arbeitnehmerbeiträge wirken wie eine zusätzliche spezielle Lohnsteuer, die vor Auszahlung vom Lohn abgezogen wird; die Arbeitgeberbeiträge dagegen sind als Aufschlag auf die Bruttolöhne für das arbeitgebende Unternehmen zusätzliche Lohnnebenkosten und verteuern den Preis für das Produkt. Auf diese Weise entstanden dem Arbeitgeber 2007 in Deutschland auf 100 Euro vereinbarten Bruttolohn tatsächlich im Schnitt 133 Euro Gesamtlohnkosten, von denen der Arbeitnehmer aber nur einen Nettolohn von durchschnittlich rund 63 Euro ausbezahlt bekam.

Nun sind die deutschen Löhne im weltweiten Vergleich sehr hoch – das ist ja eine der Quellen unseres Wohlstandes –, aber unsere Lohnkosten werden durch die Lohnnebenkosten zusätzlich erhöht. Weil sich die Lohn- und Lohnnebenkosten im Stückpreis niederschlagen, kann sich ein Nachteil im internationalen Wettbewerb ergeben, vor allem im Vergleich mit »Niedriglohnländern«. Deshalb kann es auf lange Sicht zweckmäßig werden, zum Beispiel die staatliche Rentenversicherung nicht über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge, sondern aus den allgemeinen Steuereinnahmen zu finanzieren. Im Ergebnis würden dadurch die Lohnkosten sinken, die Steuern aber steigen. Langfristig erscheint es mir notwendig, unseren Wohlfahrtsstaat nicht weiterhin über steigende Sozialversicherungsbeiträge und damit auch über steigende Lohnnebenkosten zu finanzieren, sondern ihn schrittweise steigend aus den Steuereinnahmen zu alimentieren. Immerhin werden schon heute rund 33 Prozent aller Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und 100 Prozent aller staatlichen Pensionen der Beamten und Soldaten aus Steuermitteln finanziert.

Natürlich hat die längere Lebensdauer der Deutschen Auswirkungen auch auf die gesetzliche Krankenversicherung. Weil die Menschen immer älter werden, steigen besonders die Aufwendungen für die Behandlung altersbedingter Krankheiten. Weil gleichzeitig die Medizin ungeheure Fortschritte macht und teurere diagnostische und therapeutische Instrumente, Methoden und Arzneien zur Verfügung stellt, müssen unsere Aufwendungen für die Gesundheit zwangsläufig steigen: Die Entwicklung ging vom Elektrokardiogramm zum Herzkatheter und zum Herzschrittmacher, von den Sulfonamiden zu den Antibiotika, vom Aspirin zum Plavix oder von der Röntgendiagnostik zur Computertomographie.

Die medizinische Versorgung der Gesellschaft ist in Deutschland im Vergleich mit allen anderen großen Staaten der Welt erstklassig. Wer jemals in England, in den USA oder Japan krank gewesen ist, kann das bezeugen. Gewiß gibt es bei uns auch Fälle von Mißbrauch und Verschwendung. Daß aber deshalb die Große Koalition der Regierung Merkel 2006 eine weit übertreibend so genannte Gesundheitsreform – von der »Neuen Zürcher Zeitung« eine »Monster-Maus« genannt – zeitweilig zum sozial-politisch wichtigsten Thema machte, bezeugt einen erstaunlichen Mangel an ökonomischer Urteilskraft. Ganz gewiß wird in Zukunft nicht nur unsere Gesellschaft weiterhin altern, sondern ebenso gewiß wird deshalb der Anteil am Volkseinkommen steigen müssen, den wir für die Gesundheit aufwenden. Daß in glei­cher Weise die 1995 eingeführte Pflegeversicherung langfristig vor Finanzproblemen stehen wird, weil sie zukünftig ebenfalls einen höheren finanziellen Aufwand erfordert, ist ebenfalls offensichtlich. Darin spiegelt sich, stärker noch als in der Krankenversicherung, die demographische Entwicklung unserer alternden Gesellschaft.

Es liegt gut ein Dutzend Jahre zurück, daß ich einmal der Führung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion auf deren Anforderung die Konsequenzen dargelegt habe, die wir aus der Deformation der deutschen Alterspyramide ziehen müssen. Ich habe damals für längere Lebensarbeitszeiten geworben und für einen größeren Abstand fast aller Sozialleistungen zum Nettolohn der aktiven Arbeitnehmer; auch habe ich mich gegen flächendeckende Lohntarife ausgesprochen. Als akute Hauptaufgabe der Sozialdemokratie nannte ich die Ermöglichung vieler zusätzlicher Arbeitsplätze. Vier Jahre später, 1998, wechselte die SPD von der Opposition in die rot-grüne Bundesregierung. Danach hat es noch einmal fast fünf weitere Jahre gedauert, bis Kanzler Schröder im Jahr 2003 wenigstens programmatisch die gebotenen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Konsequenzen zog. Die Absichtserklärung der »Agenda 2010« war ein mutiger erster Durchbruch der ökonomischen Vernunft – die CDU/CSU hatte ihn weder als Regierungs- noch später als Oppositionspartei gewagt. Weil es Schröder nicht gelang, sein Programm der großen Masse seiner Wähler und Anhänger plausibel zu machen, kam es 2005 zur Ablösung seiner Koalition durch die Große Koalition unter Kanzlerin Merkel. Seither kann ihre Partei die positiven Ergebnisse von Schröders Reform, nämlich deutlich günstigere Daten des Arbeitsmarktes, mit Erfolg für sich in Anspruch nehmen, während die Sozialdemokratie unter gewerkschaftlichen Einflüssen darüber rätselt, ob Schröder nicht zu weit gegangen sei. Man kann dies eine Verirrung nennen, denn in Wahrheit ist Schröder noch nicht weit genug gegangen.

Immerhin haben Schröders Reformen ebenso wie eine günstige Weltkonjunktur zu einem spürbaren Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt. Wenn aber die Regierenden aus Angst, ihre Wähler zu verschrecken, die weiterhin gebotenen Reformen unterlassen, werden die Zahlen der Arbeitslosen später wieder ansteigen, und die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates wird neuen Krisen entgegengehen. Die in ihrer Grundhaltung eher konservative CDU/CSU könnte damit etwas leichter leben als die im Grunde stärker sozial-fortschrittlich gesinnte SPD. Jedenfalls würde die große linke Volkspartei SPD sich selbst beschädigen, falls sie sich den hier skizzierten sozialökonomischen Schlußfolgerungen verweigern sollte.

Wer sich an das Ende der Weimarer Koalition erinnert, muß vor jedem Opportunismus warnen: Im Jahr 1930 fiel wegen einer geringfügigen Korrektur (es ging um ein halbes Prozent Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge) die demokratische Weimarer Regierungskoalition auseinander, und es begann jene Notstandsdiktatur des Reichspräsidenten, die drei Jahre später zu Hitlers »Machtergreifung« führte.

© Vermerk: Helmut Schmidt, Ausser Dienst. Eine Bilanz, Wolf Jobst Siedler Verlag, München 2008, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Finanzen

Über Schmidt Helmut 5 Artikel
Helmut Schmidt war von 1974 bis 1982 der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Ferner war er 1967 bis 1969 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, 1969 bis 1972 Bundesminister der Verteidigung, 1972 Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen, 1972 bis 1974 Bundesminister der Finanzen und leitete kurzzeitig das Auswärtige Amt (17. September 1982 bis 1. Oktober 1982). Seit 1983 ist Schmidt Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit.

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