
Görlitz, am östlichen Rand der Republik, ist eine besonders schöne, geschichtsträchtige, auch zukunftsorientiere Stadt – und AFD-Hochburg. Hier wurde Werner Finck geboren, der Großmeister des politischen Kabaretts. Einst berühmt, heute bei vielen vergessen. Das soll sich jetzt ändern. Von Helmut Ortner.
Görlitz ist eine geradezu irritierend schöne Stadt. Sie liegt am östlichen Rand der Republik., an der Lausitzer Neiße, die seit 1945 die Grenze zu Polen bildet. Im zweiten Weltkrieg blieb sie von Zerstörungen fast völlig verschont. Einheimische wie Besucher lieben die vor allem die Altstadt, deren Gebäude aus verschiedenen Epochen stammen und eine Vielfalt an Architekturstilen aufweisen. Die spätgotische Peterskirche zeichnet sich durch ihre zwei Türme und die Sonnenorgel aus dem frühen 18. Jahrhundert aus, der aus der Frührenaissance stammende Schönhof und die angrenzenden Gebäude beherbergen das Schlesische Museum mit sehenswerten Ausstellungen zur deutschen, polnischen und tschechischen Geschichte. Umgeben ist die Altstadt von ausgedehnten Gründerzeitvierteln. Es gibt also viel zu entdecken Görlitz, das für sich in Anspruch nehmen darf, als flächengrößtes zusammenhängendes Denkmalgebiet Deutschlands zu gelten. Diesem Stadtbild verdankt Görlitz auch seinen Status als beliebte und häufig genutzte Filmkulisse. Internationale Filmproduzenten schwärmen von »Görliwood« in Germany.
Mehr als 55 000 Menschen fühlen sich in Görlitz zuhause. Besonders viele Senioren. Es lässt sich hier gut leben: die Innenstadt lädt mit vielen Plätzen ebenso zum Spazieren ein wie die Parks der Stadt. Der Nahverkehr mit Bus und Straßenbahn funktioniert, günstige Wohnungen sind zu haben, als Kauf oder zur Miete. Für eine große 110 Quadratmeter-Wohnung in einem sanierten Gründerzeithaus zahlt man rund 700 Euro monatliche Kaltmiete. Wohnen zu günstigen Preisen inmitten der vielen historischen Gebäuden, man fühlt man sich bisweilen wie in der „guten alten Zeit“.
Aber nicht nur Senioren lockt die Stadt an: für einen spürbaren Zuzug sorgen vor allem neue, attraktiv Arbeitsplätze. In den letzten Jahren hat sich die Stadt zu einem anerkannten interdisziplinären Forschungsstandort entwickelt. Neben Hochschule und Universität sind namhafte wissenschaftliche Institute wie Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz, Senckenberg oder CASUS in vertreten. Mit dem Deutschen Zentrum für Astrophysik (DZA) entsteht ein nationales Großforschungszentrum mit internationaler Strahlkraft und rund 1000 Arbeitsplätzen. Und weil die Politik das Land «wehrtüchtig« machen möchte, plant der deutsch-französische Rüstungskonzern KNDS vor der Stadt Panzer zu bauen und übernimmt dafür ein dortiges Werk des französischen Zugherstellers Alstom. Kurzum, es gibt viel Zukunft in Görlitz.
Die Stadt als großes Zukunftsversprechen – wären da nicht die Niederungen der Politik
Und auch das soll Erwähnung finden: mit Zgorzelec, dem auf der östlichen Seite der Neiße gelegenen polnischen Stadtteil, hat sich Görlitz 1998 zur Europastadt erklärt und liefert so ein ermutigendes Beispiel dafür, wie die Menschen zweier Nationen Grenzen überwinden können Die beiden Städte stehen wie nur wenige Städte in Europa auch unmittelbar für die europäische Geschichte: Trennung nach dem zweiten Weltkrieg, zaghafte Annäherung, geschlossene Grenzen und intensive gemeinsame Entwicklungen seit der politischen Wende in der damaligen DDR im Jahr 1989. Jetzt setzt man ein Signal für Europa.
Ob für Neu-Bürger, Einheimische oder Touristen: Görlitz gilt als ausgezeichnete Referenz. Die Stadt ist ein großes Zukunftsversprechen, wären da nicht die Niederungen der Politik. Mindestens die Hälfte der Einwohnerschaft hadert mit der Tatsache, dass beinahe die andere Hälfte bei der letzten Bundestagswahl eine rechtslastige, populistische Partei ihre Stimme gegeben hat, die der Sächsische Verfassungsschutz als gesichert „zu Teilen rechtsextremistische Partei” einstuft. 46,7 Prozent der Zweistimmen hat die AFD bekommen. Landesweit ein Spitzenwert. Das Direktmandat gewann mit 48.9 Prozent deren Parteivorsitzender, ein Mann, der Deutschland „im Niedergang” sieht und dafür eintritt, gegen den „Ansturm von Flüchtlingen” die Grenzen „notfalls mit Waffengewalt” zu verteidigen. In Görlitz leben gerade einmal 6,7 Prozent ausländische Mitbürger, überwiegend Arbeitskräfte aus dem nahen Polen und Tschechien.
Was geht da vor, wenn in einer Stadt, die als eine der schönsten im Land gilt, in der es augenscheinlich Vieles voran geht, die sich als gelebtes Symbol für ein freies, offenes Europa versteht – wenn hier eine rechts-populistische Partei mit großem Vorsprung gewählt wird? Wirklichkeits-Verweigerung, Gegenwarts-Verachtung, Demokratie-Verhöhnung? Görlitz, ein Epi-Zentrum des rechten Populismus?
Die Görlitzer Stadtgesellschaft hat ihn vergessen – und will ihn vergessen machen
Einer, der hier Antworten geben könnte, lebt nicht mehr. Er ist gebürtiger Görlitzer, hat viele kluge Texte, mehrere erkenntnisreiche Bücher geschrieben und zahlreiche Kabarett-Programme verfasst – aber in seiner Geburtsstadt will niemand mehr an ihn erinnern: Werner Finck. Die Stadtgesellschaft hat ihn vergessen und will ihn vergessen machen.
Am 2. Mai 1902 wird Werner Finck in Görlitz als Sohn eines Apothekers geboren, besucht in seiner Geburtsstadt das Gymnasium. Nach mehreren Jahren als wandernder Märchenerzähler, in Laienspielgruppen und nach Engagements als Schauspieler von 1925 bis 1928 am Schlesischen Landestheater Bunzlau und am Hessischen Landestheater Darmstadt, geht er 1929 nach Berlin. Hier erlangt er in dem Kabarett »Katakombe« rasch große Popularität. Er bespöttelt die Verhältnisse seiner Zeit und richtet seinen Wortwitz auch nach 1933 gegen die führenden Vertreter des Nationalsozialismus. „Ein, Volk, ein Reich, ein Irrtum” – knapper und bissiger geht es kaum.
Finck sieht sich als »überzeugter Individualist«, was freilich für Ärger und Konflikte mit den Nationalsozialisten schon ausreicht. Er agiert nach dem Motto „sich den Kopf nicht verbieten zu lassen, ihn aber auch nicht zu verlieren”. Seine rhetorische Methode beruht auf nicht zu Ende gesprochenen Sätzen, hintersinnigen Doppeldeutigkeiten und Wortspielen sowie auf dem entlarvenden »Wortwörtlich-Nehmen«, etwa: „Kommen Sie mit? Oder muss ich mitkommen“ fragt er Gestapo-Beamte, die sich während seines Auftritts in der »Katakombe« Notizen machen.
Ende 1934 wird das Kabarett von den Nazis geschlossen und Finck wird gemeinsam mit dem Zeichner Walter Trautschold und dem Schauspieler Heinrich Giesen festgenommen. Nach Verhören im Geheimen Staatpolizeiamt wird er inhaftiert und ist anschließend nach einer Entscheidung von Reichsminister Joseph Goebbels „für die Dauer von sechs Wochen in ein Lager mit körperlicher Arbeit zu überführen“. Finck kommt in das KZ Esterwegen. Dort wird er am 1. Juli 1935 entlassen. Eine Anklage wegen eines Verstoßes gegen das »Heimtückegesetz« vor dem Berliner Sondergericht endet zwar nicht mit einer Verurteilung, Finck darf jedoch nur noch unter Auflagen als Schauspieler arbeiten, bis er Anfang 1939 fristlos entlassen wird. Bei Kriegsbeginn meldet er sich zur Wehrmacht, kann das Kriegsende, zuletzt als Soldat an der italienischen Front, mit viel Glück überleben. Sein persönliches Kriegsende hat er später so beschrieben: „Ich bin also erstmal auf Schreibstube gegangen und habe gefragt, ob noch was wäre. Und erst als man mir sagte, nein, es hätte sich erledigt, gab ich mich dem wohlverdienten Zusammenbruch hin.“
Ein Künstler, der die Freiheit des Wortes liebte und verteidigte
Nach der Entlassung aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft am 3. Oktober 1945 arbeitet er wieder als Theater- und Filmschauspieler und Kabarettist sowie für das Fernsehen. Bis 1949 gibt er mit anderen Das Wespennest, die erste deutsche satirische Zeitschrift nach dem Zweiten Weltkrieg, heraus. In den Folgejahren tourt er durch die junge Bundesrepublik Deutschland. In seinem Soloprogramm will er der „Zersetzung der Humorlosigkeit im öffentlichen Leben“ den Weg bereiten. 1950 erfolgt in der Berliner »Tabern academica« die Gründung einer Art von Partei, die sich Radikale Mitte nennt.. „Zum Kummer der Gründer musste das Ganze, weil es ja keine Partei sein will, als Verein eingetragen werden. Ziel und Zweck: Entgiftung des politischen Lebens.“[ Auf den Bühnen tritt er mit schrillen Programm- Slogans wie „Gegen Kompromisslosigkeit“ oder „Für Aufrüstung der Toleranz“ in Erscheinung und wählt die Sicherheitsnadel unter dem Revers des Sakkos als Parteiabzeichen und das weiße Tischtuch als Parteifahne, um gegen den „Ernst der Zeit“ (Adenauer) der deutschen Nachkriegspolitik anzutreten. 1962 wird Werner Finck ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. 1964 folgte sein Programm »Bewältigte Befangenheit« in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, zahlreiche Fernsehauftritte schließen sich an. Sechs Jahre vor seinem Tod erscheint 1972 seine Autobiografie Alter Narr – was nun?, – darin findet sich ein Satz, der als Motto nicht nur für seine Künstler-Existenz Beleg ist: „Ich habe in meinem Leben sehr viel gehalten, aber nicht den Mund”.
Werner Finck Werner Finck stirbt am 31. Juli 1978 in München, im Stadtteil Ramersdorf ist eine Straße nach ihm benannt. In Mainz ist ihm ein Stern im »Walk of Fame des Kabaretts« gewidmet. In seiner Geburtsstadt aber ist er, einer der größten Söhne der Stadt, bei vielen vergessen. Das soll sich ändern. Einige Görlitzer – Unternehmer, Künstler und Akteure der Stadtgesellschaft – wollen dafür sorgen, dass der große Wortkünstler und Tragik-Komiker nun eine überfällige Würdigung erfährt. Er, der einst seine Heimatstadt mit den Worten verschonte: „Das Tadeln meiner kleinen Stadt überlasse ich den Söhnen der Weltstädte. Wir aus den kleinbürgerlichen Städten müssen zusammenhalten.“ Und welcher Ort wäre hier besser geeignet, als der Platz vor dem Theater der Stadt, das den Namen Gerhard Hauptmanns trägt. Im Volksmund wird der Bau auf Grund der opulenten Innenausstattung »Kleine Semperoper« genannt. Ein einfaches Schild soll dann Einheimischen und Besucher darauf hinweisen, wer dieser Werner Finck war: »Ein mutiger Mann – ein Künstler, der die Freiheit des Wortes liebte und verteidigte. Geboren in Görlitz.«