Bestandsaufnahme des Grauens

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Die Evangelische Kirche hat sich in Sachen Missbrauch jahrelang hinter der katholischen Kirche versteckt. Eine nun veröffentlichte Studie zeigt: auch hier ging es vor allem um den Schutz der Täter. Vertuschen, Verschleiern, Verschleppen stand im Vordergrund. Von Helmut Ortner.

Man stelle sich einmal vor: ein bundeweit agierendes Unternehmen, dessen Angestellten über Jahrzehnte Tausende Straftaten begangen haben – keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen – den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Der Vorstand weiß davon, aber er vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen, weder gegen die Täter noch gegen deren Helfer. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Und wo kein Kläger, da kein Ermittler. Hier aber geht es nicht um ein gewinnorientiertes Business-Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als eines ihrer Alleinstellungsmerkmale Barmherzigkeit, Seelentröstung und Glaubwürdigkeit beansprucht: die evangelische Kirche.

Nun hat ein von Evangelische Kirche Deutschland beauftragtes Forscherteam einen über 800 Seiten umfassenden Missbrauchsbericht – initiiert und finanziert von der EKD – vorgelegt, in der von mindestens 2225 Betroffenen und 1259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Die Studie zeigt, wie evangelische Pfarrer und Religionslehrer junge Menschen sexualisierte Gewalt angetan haben. Das Durchschnittsalter der Betroffenen: etwa elf Jahre. Es geschah im Gemeindehaus, in der Kirche und in der Kita. Die Täter – fast ausschließlich Männer – nutzten ihr Ansehen und ihre Autorität aus. Sie erniedrigten, erpressten, bedrohten ihre jungen Opfer. Das sei jedoch nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“, so der Hannoveraner Professor Martin Wazlawik, der das Forschungsprojekt koordinierte.

Und die Studie belegt: Klerikale Hierarchen versuchten alles, um Aufklärung zu behindern. Vertuschen, Verschleiern, Verschleppen – das stand im Vordergrund. Der Schutz der Täter, nicht das Leid der Opfer. Ein permanenter Skandal.

Die Politik macht einen Kniefall

Daran hat sich bis heute wenig geändert.  Auch diesmal hat die evangelische Kirchen-Oligarchie versucht, die Deutungshoheit zu behalten und die Kontrolle über Zahlen und Akten nicht abgegeben. Das Forschungsteam kritisierte die kümmerliche Zulieferung von Daten – 780 Personalakten von evangelischen. Als Argument schob die EKD Personalmangel vor. Nur in einer einzigen der 20 Landeskirchen konnten die Forschungsgruppe nicht nur die Disziplinarakten, sondern alle Personalakten einsehen. Trotzdem unternehmen die Autoren der Studie einen Versuch, das wahre Ausmaß des Missbrauchs zu beziffern. Beim Vergleich der vorliegenden Akten habe sich ergeben, dass 57 Prozent der Beschuldigten und 74 Prozent der Opfer in den Disziplinarakten gar nicht auftauchen, heißt es in der Studie. Wenn man dies hochrechne, komme man statt auf 1259 mutmaßlicher Täter auf knapp 3500 Beschuldigte und mehr als 9300 Opfer. Und selbst die Hochrechnungen müssten „mit großer Vorsicht betrachtet werden“, schreiben die Wissenschaftler. Sie raten der evangelischen Kirche, endlich kritisch auf sich selbst zu blicken und „weniger in der idealistischen Selbsterzählung zu bleiben“. Lange habe sie sich vorgemacht, dass es ein großes Missbrauchsproblem wie in der katholischen Kirche bei ihr nicht geben könne. Zu lange wurde auch hier geschwiegen, relativiert, sich weggeduckt. Zu spät – und oft nur widerwillig – der erkennbarer Wille, die Fälle aufzuarbeiten und die Betroffenen zu entschädigen. Bis heute.

Und die Politik? Sie muss endlich mit dem Aufarbeitungsgesetz um die Ecke kommen, dass die Ampelkoalition eigentlich längst angekündigt hat. Bisher übt sie kaum Druck auf die Kirchen aus. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung agiert zu zaghaft, die Parteien halten sich bedeckt und irritierend zurückhaltend. Von Politikerinnen und Politikern, die ansonsten jede Ungerechtigkeit und jeden Sturm im Wasserglas auf ihren social-media- Kanälen kommentieren und befeuern, findet sich zu den Ergebnissen der Missbrauch-Studie kein Wort. Die Politik macht einen Kniefall. Wieder einmal.

Finanzen

Über Helmut Ortner 98 Artikel
Geboren 1950 in Gendorf/Oberbayern und aufgewachsen in Frankfurt am Main. Schriftsetzerlehre, anschließend Studium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, Schwerpunkt Grafik-Design. Es folgt Wehrdienstverweigerung – und Zivildienst. Danach journalistische Lehrjahre: Redakteur, Chefredakteur (u.a. Journal Frankfurt, Prinz). Ab 1998 selbständiger Printmedien-Entwickler mit Büro in Frankfurt. Konzepte und Relaunchs für mehr als 100 nationale und internationale Zeitschriften und Zeitungen, darunter Magazine wie Focus, chrismon, The European und Cicero, sowie Tages- und Wochenzeitungen, u.a. Das Parlament, Jüdische Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, De Lloyd Antwerpen, NT Rotterdam sowie Relaunchs in London, Wien, Sofia, Warschau und Dubai. Zahlreiche Auszeichnungen (u.a. European Newspaper Award, Hall of Fame, CP Award Gold). Daneben journalistische Beiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen, veröffentlicht in div. Tageszeitungen und Magazinen. Erste Buchveröffentlichung 1975, seither mehr als vierzig Veröffentlichungen. Übersetzungen in bislang 14 Sprachen (2018). Zahlreiche Preise und Einladungen: Stadtschreiberpreis der Stadt Kelsterbach, Lesereise Goethe-Institut Südamerika, Teilnahme an Buchmessen in Havanna, Istanbul und Buenos Aires sowie Lit.Col. Köln 2017. Zuletzt Lesereisen nach Lissabon, Turin, Tokyo. Helmut Ortner lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Darmstadt. Er ist passionierter Radrennfahrer, Eintracht Frankfurt-Fan und Pat Metheny-Liebhaber.