Jeden Tag Anrufe, Geschenke, Mails – jedes Mittel ist recht, um Kontakt aufzunehmen. Oft fängt es harmlos an, vielleicht mit einer oder zwei SMS pro Tag. In diesem Stadium reagieren die „Auserwählten“ noch auf derartige Annäherungsversuche. Sie schreiben ihrem Peiniger etwa, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen. Manche treffen sich sogar mit ihm, in der Hoffnung, dadurch die Situation entschärfen zu können. Die Rede ist von Stalking: ein Begriff, der ursprünglich nur in der Jägersprache verwendet wurde und „anpirschen/sich anschleichen“ bedeutet. Vor rund 20 Jahren etablierte er sich in den USA, als das exzessive Verfolgen von Prominenten zunehmend bekannt wurde. Als Ende der 1980er Jahre die Schauspielerin Rebecca Schaeffer und zwei weitere nicht-prominente Frauen von „ihrem“ Stalker ermordet wurden, wandelte sich das Bild. Stalking wurde nicht mehr als kurioses Phänomen betrachtet, sondern als potenziell hochgefährliche Verhaltensweise.
Auch die 37 Jahre alte Stella, eine etwas spröde wirkende Krankenpflegerin in Judith Hermanns erstem Roman, erfährt wie aus dem Nichts diese „Heimsuchung“. Sie wohnt mit ihrer kleinen Familie in einer nicht näher benannten, typisch englischen Vorstadtsiedlung, die genauso gut irgendwo anders zu finden sein könnte. Jason, ihr Ehemann, ist nur selten zu Hause, verdingt sich als Bauhandwerker auf Montage. Die Beziehung des Paares scheint ein wenig aseptisch, wortleer, gefühls- und anziehungsarm zu sein. Es fehlt an Berührungen, an Gesprächen und Verbindungen. Die Liebe blieb offensichtlich an irgendeiner Wegkreuzung auf der Strecke. Nur Ava, die vierjährige Tochter der beiden, belebt das Häuschen, Garten und Stellas Innenleben. Kontakte zu ihren Nachbarn pflegt die junge Frau nicht. Alles bleibt anonym. Einzig das große Panoramafenster, hinter dem sie in ihrem Sessel sitzend für Vorbeikommende oft lesend zu sehen ist, stellt so etwas wie eine Verbindung zu einem anderen, aufregenderen Leben dar. Eines das Stella früher mit ihrer besten Freundin Clara führte und das von Erlebnissen, vielen Begegnungen, von Worten geprägt war. Als weitere, wenn auch wesentlich diffizilere und subtilere Brücke fungieren die scheinbar „leblosen“ Pflegebedürftigen, die Stella täglich betreut. „Wie soll sie Jason davon erzählen? Wie ist das teilbar, dieses und jenes, auch die Zärtlichkeit, zu der sie in der Lage ist, wenn sie Walter den Mund abwischt, mit einem Tuch den Mund abwischt, und wenn sie kein Tuch dabei hat, mit der Innenfläche ihrer Hand.“
Doch plötzlich nimmt das scheinbar emotionslose Dahingleiten des aufregungsarmen Lebens Fahrt auf. Stella rückt ins Visier eines jungen Mannes: Mister Pfister. Der klingelt eines Tages an der Gartenpforte: „Er sagt, guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gern mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit.“ Über die Gegensprechanlage weist ihn Stella zurück. Der Fremde kommt am nächsten Tag wieder, zur selben Zeit… und wieder, immer wieder, täglich. Er klingelt, er wirft etwas in den Briefkasten: einen Brief, Karten, Fotos, kleine Gegenstände… jeden Tag. Stella sammelt die dargebrachten Devotionalien, diesen „Chor der Stimmen, der aus dem Karton heraus zu vibrieren scheint.“ Wo anfänglich noch ein verlockend, irritierend-kribbeliges Gefühl aufkommt, wird Mister Pfister allerdings zunehmend zu einer unberechenbaren Größe. Er weiß genau wann sie allein zu Hause ist. Wie lange stalkt er sie schon? Wann war der Anfang? Wie kann sie sich dem entziehen?
Auf den ersten Blick scheint „Aller Liebe Anfang“ eine Geschichte ohne Pointe zu sein, eine Geschichte, die ohne Aufregung vom Gleichmaß aller Tage erzählt, „davon, dass alles bleibt, wie es ist.“ Doch nach und nach schieben sich Bilder ineinander. Ein „körperloses Gewisper“ macht sich breit. Eine klirrende, splitternde Atmosphäre baut sich auf. Judith Hermanns Roman umgibt sich mit einer eigenartigen, abgründig-abwartenden, mitunter diffusen, schwer greifbaren, immer bedrohlicher werdenden Aura. Etwas Gestaltloses, Großes legt sich immer drängender über den Text. Kurze, fast stakkatoartige Sätze zeichnen das beobachtende Erzählen der Autorin aus. Aus einer nüchtern-prosaischen Distanz wächst zunehmend eine diffizil-drängende Emotionalität. Wie ein Gespinst umhüllt diese Kontroverse den Leser. Sie kann wohlige Wärme ausströmen, vor allem bei den zarten, äußerst sensibel gezeichneten Porträts der pflegebedürftigen, kranken Personen, jedoch auch diffuse Angst, immer dann wenn Mister Pfister in Aktion tritt. Und: „Es geht auch um etwas anderes. Um einen Widerstand. Oder um ein Widersprechen. Vielleicht geht es ums Verschwinden. Das kann sein.“
Fazit: Judith Hermann ergründet in ihrem Romandebüt die Anfänge der Liebe in all ihren unterschiedlichen Formen, lotet aber auch deren Ende aus. Welche Grenzen setzt das Leben? Wann gilt es als abgeschlossen? Es geht um Nähe und Entfernung, um zurückzulegende Wege, um Aktivität kontra Passivität, Sesshaftigkeit und Veränderung, um Schutzlosigkeit und um Zwischenräume. Ein zutiefst beeindruckender Roman einer Autorin, die bis dato vor allem durch ihre Erzählungen Aufmerksamkeit erregte.
Judith Hermann
Aller Liebe Anfang
S. Fischer Verlag (August 2014)
221 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100331834
ISBN-13: 978-3100331830
Preis: 19,99 EUR
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