„Du bist die Schöpferin von allem, sagte Shiva, die Mutter aller Mütter. Nichts kann ohne dich existieren.
Das stimmte Parvati traurig. Was bleibt mir dann noch zu tun?
Du bist die einzige, die die Welt erzählen kann.
Worauf er sie von hinten umarmte, damit er an ihrem Kopf vorbei ins Tal und über alle
Gipfel blicken konnte.
Das ist die Welt. Sie lebt, und doch lebt sie nicht, denn keiner hat je von ihr erzählt.
Würdest du das für mich tun?
Was soll ich für dich tun?
Die Welt erzählen.“
Der Hinduismus kennt eine Vielzahl von Göttern und Göttinnen und genauso viele Legenden gibt es über das Liebespaar Shiva und Parvati. Einige hat Ilia Trojanow in seinen Text eingeflochten. Zudem übernimmt er die Rolle Parvatis und erzählt die Welt – zumindest einen Teil davon. Nach Afrika, Indien und Mekka begleiten ihn seine Leser, um den „Versuchungen der Fremde“ zu erliegen. Dabei sollte man weniger Reisereportagen im engeren Sinne erwarten, sondern viel eher „Zustandsbeschreibungen, Schilderungen, Reisebilder, Augenzeugenberichte, Suchmeldungen.“, wie Roger Willemsen treffend in seinem Vorwort vermerkt. „Trojanow reist, indem er die weiche Stelle in der Fremde sucht, den Ort, die Situation, die ihn einlassen werden.“
Durchlässige Membranen findet er auf seinen Reisen scheinbar mühelos. Vielleicht, weil er sich auf die innigste Art der Entdeckung einlässt: „Nur wer zu Fuß geht, sieht mit dem ganzen Körper.“, so Trojanow. Und auch dann niemals als Flaneur, „sondern als Augenzeuge mit der seltenen Bereitschaft, sich aus sich selbst zu lösen in einem großherzigen Akt des Selbstverzichts.“, erkennt Roger Willemsen völlig zu Recht. Seine Gefühle und Empfindungen nimmt Trojanow in seinen Texten weitestgehend zurück. Nicht als Tourist erlebt man ihn, sondern „als Prisma, in dem sich die Welt zeigt“, als „Medium der Fremde“.
So betritt der Leser gemeinsam mit dem „Weltensammler“ zum Beispiel an der ostafrikanischen Küste ein Haus der Suaheli, in dem es einen 'Raum des Lebens und des Sterbens', gefangengenommen von einer besonders beruhigenden Schönheit. „Nur eine Tür führt in ihn hinein. Durch sie wird der Mensch als Baby in die Welt hinaus- und durch sie wird er nach seinem Tod wieder hereingetragen. Von dieser Ecke des Hauses aus findet der Suaheli zu seinem Leben, und hier wird er in den ersten Tagen nach seinem Tod aufbewahrt. Der natürliche Kreislauf schließt sich in diesem Raum.“
Ungesehen glaubt man ihm auch, dass die Große Moschee in Mekka zu den schönsten Bauwerken der Menschheit gehört, da in ihr Architektur mit Leben gefüllte Substanz wird. Seine Beschreibungen suggerieren geradezu vor dem eigenen geistigen Auge das „Perpetuum mobile der Hingabe“ der rotierenden Menschheit auf der „Töpferscheibe Gottes“, als die er die die Kaaba umrundenden Pilger wahrnimmt.
Doch Trojanow legt nicht nur das Schöne zuoberst. So zählt vor allem seine Reise entlang des Ganges zu den intensivsten Berichten. Ein Fluss, dessen Heiligkeit durch die im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkende immense Verschmutzung allerorts mit Füßen getreten wird. Als geradezu schockierend empfindet man seine Schilderungen von einer garagengroßen Werkstatt, in der achtjährige unterernährte Kinder jeden Morgen von vier Uhr in der Früh bis Mitternacht schuften, manchmal nur mit einer Mahlzeit am Tag. Kinder, die geschlagen werden, wann immer sie einen Fehler machen, einen Hungerlohn erhalten und selten oder nie ihre Eltern sehen, nur um einen Teppich mit abstrakten Mustern zu knüpfen. „Abstraktionen von Schönheit und Leid. Geometrische Provokationen.“, so der Autor. Trojanow zeigt ein Indien wie es garantiert in keinem Hochglanz-Reiseprospekt zu finden ist. Ein Land fernab jeder Beschönigung und Verklärung, das sich zunehmend von den eigenen philosophischen Traditionen abkoppelt und täglichen Terror widerspruchslos hinnimmt. „Ungerechtigkeit und Gewalt sind Lebenskonstanten geworden.“, stellt er fest.
Fazit: An allen Plätzen, die er bereist, sei es nun Afrika, Indien oder Mekka, erweist sich Trojanow als Fragender und Aufklärer, als Unschuldiger und Kenntnisreicher zugleich. Mal protokollarisch oder dokumentarisch, dann wieder literarisch oder lyrisch changieren seine Texte zwischen Reflexion, Kritik, Darstellung und Poesie. Seine auf jeder Seite spürbare Neugier überträgt sich eins zu eins auf den Leser, der sich wünscht, selbst auf diese Weise „Aufbrechender, Unterwegs-Seiender, suchender und schließlich Erfahrener“ zu werden.
Ilija Trojanow
Die Versuchungen der Fremde
Unterwegs in Arabien, Indien und Afrika
Malik Verlag, München (November 2011)
512 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3890294049
ISBN-13: 978-3890294049
Preis: 20,00 EURO
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