Als der Liberale David Lloyd George (*1863 † 1945) im Oktober 1922 als britischer Premierminister abtrat begann für die freiheitlich Gesinnten auf der Insel ein dunkles Zeitalter. Denn nach Lloyd George, dem zehnten Regierungschef der „Liberals“, schaffte es im Vereinigten Königreich kein anderer Liberaler mehr zum Premierminister seiner Majestät. Zwar hatte der Sohn eines Volksschuldirektors bahnbrechende Sozialreformen wie die allgemeine Rentenversicherung eingeführt und den Kampf der Briten im Ersten Weltkrieg dirigiert, doch er hinterließ eine vor allem wirtschaftspolitisch zerstrittene Partei.
Seit fast hundert Jahren warten britische Liberale nun auf eine neue Gunst der Stunde. Die schien 2010 gekommen, als die inzwischen in „Liberal Democrats“ (Lib Dems) umbenannte Partei mit 23% das festbetonierte Zweiparteiensystem brechen und eine Koalition mit der Conservative Party unter David Cameron eingehen konnte. Gebrochene Wahlversprechen in der Bildungspolitik und eine blasse Ministermannschaft reduzierten die Lib Dems bei der Unterhauswahl 2015 wieder auf desaströse 7,8% und stürzte sie in die Bedeutungslosigkeit.
Ausgerechnet das Brexit-Referendum mit dem denkbar knappen EU-Austrittsergebnis verschafft der Partei mit einem hochflatternden goldenen Vogel als Logo wieder Aufwind. Da sich der jugendlich wirkende 46jährige Parteichef Tim Farron voller Elan als glasklar pro-europäisch positioniert sind die Lib Dems eine Projektionsfläche für alle diejenigen geworden, die den harten Brexit-Kurs der innenpolitisch stramm konservativen Premierministerin Theresa May ebenso ablehnen, wie das Geschlinger der oppositionellen Labour Party unter dem griesgrämigen Linkssozialisten Jeremy Corbyn. Eine wahre Eintrittswelle hat die Lib Dems mittlerweile zur am schnellsten wachsenden Partei in Großbritannien gemacht.
Die plötzlichen Neuwahlen bieten den LibDems nun eine willkommene neue Erfolgsaussicht. Sie befinden sich sowieso seit Längerem im Wahlkampfmodus, haben landesweite Aktionstage gegen die offizielle Brexit-Politik organisiert und tauchen auf EU-freundlichen Massendemonstrationen auf, die sich derzeit immer wieder durch London ergießen. Nicht, dass der linksliberale Farron eine Chance hätte, dem großen Lloyd George als Regierungschef nachzufolgen. Farron selbst spricht von dem Wahlziel „eine Opposition aufzubauen, die wir in diesem Land dringend brauchen.“ Aber es ist durchaus möglich, dass die Lib Dems die Hoffnung von „Ice Lady“ May durchkreuzen, am 8. Juni 2017 eine satte absolute Mehrheit zu ergattern. Farron twitterte wenige Minuten nach der Ankündigung Mays an seine Anhänger: „Diese Wahl ist Eure Chance, die Richtung unseres Landes zu ändern.“
Was kann die geeint wirkenden Liberaldemokraten im Unvereinigten Königreich also noch aufhalten? Eigentlich nur das Wahlsystem, das auf der Insel nach dem Motto “the winner takes it all” funktioniert. Das heißt, es gibt keine Listenwahl oder Zweitstimmen, sondern nur derjenige Kandidat zieht ins Unterhaus ein, der im Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Das führt zu proportionalen Verwerfungen zuungunsten kleinerer Parteien und bevorzugt die konservativen Tories ebenso wie die sozialistische Labour Party. So gewannen die Lib Dems im Jahre 2010 trotz 23 % der Stimmen nur 57 von 650 Mandaten.
Dennoch: auch in Großbritannien sind Wahlwunder möglich und „Ice Ladies“ können schmelzen. Das Liberalen-Vorbild Lloyd George hatte im Ersten Weltkrieg formuliert: „Die neue Landkarte von Europa muss so gezeichnet werden, dass sie keinen Grund mehr lässt für Auseinandersetzungen, die Europa schließlich in einen neuen Krieg ziehen würden.“ Vielleicht muss ja bald auch der politische Plan von Großbritannien neu entworfen werden.
Wolf Achim Wiegand ist Journalist und Auftrittsberater in Hamburg. Er ist in der FDP aktiv, unter anderem im Bundesfachausschuss für Internationale Politik. Außerdem ist er gewählter Country Coordinator der deutschen Einzelmitglieder bei der paneuropäischen liberalen Dachpartei ALDE. Veröffentlichte Meinungen sind seine persönlichen.
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