Hat der Nationalstaat ausgedient?

Stacheldrahtzaun, Foto: Stefan Groß

Der Nationalstaat hat ausgedient – zumindest in seiner jetzigen Form. Sei es die Wirtschaft, der Terrorismus, die Umwelt, die Steueroasen oder das Internet: Dieses Überbleibsel des Westfälischen Friedens findet nicht die Antworten auf das 21. Jahrhundert. Auch nicht auf die Lage im Nahen Osten. Und ganz sicher nicht auf die Migration. Das wusste Hannah Arendt bereits vor über einem halben Jahrhundert.
So schreibt Zygmunt Bauman in seinem Buch Die Angst vor den anderen: „Die […] Entwicklung ist die Erosion der territorialen Souveränität der bestehenden politischen Einheiten, die ihre Ursache darin hat, dass der fortlaufende Globalisierung der Macht (das heißt der Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass Dinge geschehen) keine entsprechende Globalisierung der Politik folgt (also der Fähigkeit, zu entscheiden, welche Dinge geschehen sollen), woraus sich eine gewaltige Diskrepanz zwischen den Zielen und den Mitteln effektiven Handels ergibt“.

Voraussichtlich werden, nach schmerzlichen Umbrüchen, supranationale Systeme mit gleichzeitig verstärkten lokalen Ermächtigungen die Oberhand gewinnen. Wie dem auch sein wird, schon jetzt reflektiert sich die Krise des Nationalstaates in dem emotionalen Verhältnis zum Staat.

Zugegebenermaßen tat man sich als Deutscher die letzten siebzig Jahre durchaus schwer mit dem Patriotismus. Ein Herr Höcke macht es einem da nicht gerade leichter. Ganz im Gegenteil.

Die Globality (Endstadium der Globalisierung) mit ihrer Vermischungen auf jeglicher Ebene trägt ihren Teil dazu bei. Insbesondere das Internet, dieser riesige Nicht-Ort, wird die Identitätsbindung qua physischen Raum zunehmend in Frage stellen. So glauben Autoren wie Pierre Lévy daran, dass sich im „Noolithikum“, dem Zeitalter des Steins des Geistes, eine zunehmende Auflösung der Identitätsbildung durch Territorium und Ware zugunsten einer Identitätsbindung durch kollektives Wissen vollziehen wird.

In Zeiten, in denen Identitätsbildung komplexer und unvorhersehbarer ist, klammert sich manch einer jedoch krampfhaft an alte, brüchige Identitätspfeiler. Der zu beobachtende zunehmende Nationalismus ist eine Folge. Aber auch starke Emotionalisierung, sei es durch Angst oder Trauer, spielen eine Rolle. Alain Badiou schreibt jüngst: „Die […] Gefahr bei dieser Dominanz des Emotionalen, so möchte ich es nennen, besteht darin, dass der Trieb nach Identität stärker wird.“

Es gibt aber auch eine andere Art Patriotismus, fernab von Nationalismus. Ich fühlte ihn das erste Mal, als man gerade nicht „Germany first“ dachte. Es war im Sommer 2015, mitten in der sogenannten Flüchtlingskrise. Es geht nicht darum, ob Angela Merkels Entscheidung die richtige, ob sie gar rechtwidrig war. Auch nicht darum, ob man den ankommenden Menschen vielleicht etwas naiv oder mit zu viel Idealismus entgegentrat. Sondern alleine darum, dass viele der hiesigen Menschen, Schutzsuchende willkommen hießen. Sie mit offenen, helfenden Armen empfingen. Dass man dem anderen scheinbar nicht mit Angst, sondern Nächstenliebe entgegentrat. Viele dieser Menschen tun dies bis heute.

Ein Teil dieses Nationalstolzes habe ich noch heute, wenn ich an die deutsche „politische Mitte“ denke. Denn während viele einst so starke westliche Demokratien zunehmend nach rechts kippen, hält sich Deutschland eben wegen dieser Mitte im Vergleich gut. Sicher, es gab einen Rechtruck, doch sind wir noch weit entfernt von französischen Ausmaßen. Und das, obwohl es Deutschland war, das die hunderttausenden Geflüchteten aufnahm.

Diese Art Patriotismus ist paradox und zugleich emblematisch für den Zustand des Nationalstaates sowie der verstärkten Entterritorialisierung der Identität. Er wird der letzte seiner Art sein, denn er untergräbt auf lange Sicht sein eigenes Fundament. Man ist stolz auf die Nation, wenn sie nicht nationalistisch agiert, nicht den primären Interessen der eigenen Nation folgt. Dieser Patriotismus ist einer der wenigen Nationalgefühle, die in die Gegenwart passen.

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