Hans Martin Esser trifft Michael Wolffsohn zum Interview: „Durch die allgemeine Wehrpflicht war historisch die Tür geöffnet für das allgemeine Wahlrecht“

Michael Wolfssohn, Foto: Till Eitel

Sehr geehrter Herr Professor Wolffsohn, seit rund acht Jahren ist die Bundeswehr nunmehr keine Pflichtarmee mit dem Leitbild vom Zivilisten in Uniform, sondern eine Freiwilligenarmee. Inwieweit hat es die Normalität Heranwachsender verändert, dass sie sich eben nicht mehr auf eine Wehrpflicht einzustellen haben? Was bedeutet dies für die Legitimität von Bundeswehr und Bundeswehretat, da die Bundeswehr durch Abschaffung der Wehrpflicht weniger sichtbar ist als zuvor?

Zum Thema Etat kann man es vom Ergebnis her eindeutig widerlegen: der Verteidigungshaushalt ist durch den Einsatz von Frau von der Leyen erhöht worden. Das ist vorher nicht der Fall gewesen. Die Empirie spricht also gegen die Vermutung, dass die Bundeswehr nun weniger Zuweisungen bekäme. Grundlegend ist aber die in der Frage angedeutete Problematik eindeutig vorhanden. Man sieht die Bundeswehr deutlich weniger, weil sie auch kleiner geworden ist. Aber sie ist politisch präsenter denn ja, da sie mit anderen Partnern inzwischen eine Interventionsarmee ist. Virtuell und medial ist sie ja sichtbar, wenn auch nicht im allgemeinen Straßenbild, es sei denn in der Nähe eines Standortes, aber die sind geringer geworden. Das ist die tagespolitische Interpretation, die historische hingegen ist – aus meiner Sicht – ein Rückfall in die frühe Neuzeit, weil wir letztlich auf dem Weg zu einer Söldnerarmee sind. Wer etwa Schillers Wallenstein gelesen hat, weiß, dass es eine multinationale Armee gewesen ist, um auf die Namen der Offiziere (Piccolomini, Butler) einzugehen. Zur Zeit Friedrichs des Großen bestand die Hälfte der Mannschaftssoldaten aus Söldnern. Das Teuflische oder Machiavellistische der Neuzeit war, dass man danach (durch die Wehrpflicht) die Soldaten sozusagen zum Nulltarif bekommen hat. Söldner kosten nun einmal etwas. Die allgemeine Wehrpflicht – grob gerechnet 200+ Jahre – ist in der Menschheits- und Militärgeschichte, abgesehen von der Hoplitenarmee der Antike, etwas Neues gewesen. Durch die Abschaffung der Wehrpflicht haben wir im Grunde eine Rückkehr zum Söldnertum. Dass das Söldnertum programmiert ist, kann man daran sehen, dass es im Moment nicht genügend Personal gibt, so dass die Fragen, überall, nicht nur in Deutschland gestellt werden: „Woher kriegen wir das Personal?“. Mit zivilen Arbeitgebern kann kein Militär konkurrieren: weder pekuniär noch physisch, da der Soldatenberuf nun einmal gefährlich ist. Daher die Überlegung: Europäisierung des Personals in der Bundeswehr. Gedacht wird an die ärmeren Staaten. Die wiederum beklagen sich ihrerseits, dass dann aufgrund des relativ höheren Gehaltsniveaus in der Bundeswehr, der bulgarischen und rumänischen Armee das Personal abgezogen werden könnte. Die Sorge ist völlig berechtigt. Es ist also ein Wettbewerb auf einem niedrigeren Gehaltsniveau als im zivilen Beriech. Die nächste Folge ist eine politische: der Vorwurf, dass Deutschland als reichstes Land dann ein sozusagen knappes Gut entwendet, nämlich das der Wehrdienstleistenden. Hier hat man also eine Lawine losgetreten, die in ihren Wirkungen noch gar nicht richtig vorhersehbar ist. Ganz abgesehen davon, dass dadurch eine viel stärkere Abgrenzung von Zivilem und Militärischem stattfinden muss. Den Bürger in Uniform kann man dann weitgehend vergessen.

Ich erinnere mich, dass mein Vater mir sagte, als ich ein Jugendlicher war, dass man mich Disziplin lehrte, sobald ich zum Bund müsste. Heute könnte dies kein Vater mehr seinem Sohn sagen, weil es ja keine Wehrpflicht mehr gibt. Ein anderes Beispiel sehe ich in den Rekrutierungszentren. In der Nähe der Friedrichstraße (Berlin) gibt es ja ein solches. Es wirkt in der eher linksliberalen Stadt ein wenig verloren. Man könnte sich hier in Deutschland gar nicht vorstellen, dass es Modelinien vom Militär gibt, so wie es in Italien bei der aeronautica militare der Fall ist.

Ja, das liegt natürlich auch am Wert des Ästhetischen in Italien, der dort ungleich größer ist als in Deutschland. Aber zur Sache selbst: es bezieht sich nicht nur auf Rekrutierungszentren, es bezieht sich auf Diskussionen: darf die Bundeswehr an Schulen gehen, um dort Rekruten zu werben. Die Trennung also von Zivilem und Militärischem wurde schon lange vor Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht Allgemeingut. Die Zahlen der letzten Jahre, da die Wehrpflicht noch bestanden hatte, zeigen, dass diese Wehrpflicht alles andere als allgemein gewesen ist.

Es gab in der Tat viele, die gar nicht die Hürde der Musterung nehmen konnten oder wollten…

…oder sich locker verabschieden konnten. Kurzum: die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ist eine Reaktion auf die Wehrmüdigkeit der meisten Gesellschaften, auch eine Reaktion auf die Individualisierung, vor allem der westlichen Gesellschaften. Diese hat aber auch ihre Vorgeschichte, nämlich in der übertriebenen Kollektivierung nach dem Motto: „Du bist nichts, das Kollektiv ist alles“.
Dafür sind viele missbraucht worden, Stichwort Drittes Reich. Aber freiwillig ist nie jemand in der Menschheitsgeschichte gestorben. Man benötigte drei incentives, musste also drei Anreize denjenigen bieten: Macht durch die exekutive Gewalt oder Vermögen wie Reichtum und Land (einschließlich Gerichtsbarkeit) für die Veteranen sowie Ansehen. All das ist verlorengegangen. Diejenigen, die dennoch nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, zum Militär zu gehen sich entschließen, sind entweder Idealisten – ich kenne dort sehr viele, die sogar bewusst auf die Anreize verzichtet hatten, weil sie überzeugt sind, es sei eine wichtige Aufgabe für die Gemeinschaft, ohne dass sie selbst zackige Nationalisten wären. Oder es kommen diejenigen, die auf dem zivilen Arbeitsmarkt keine Chance haben oder zu weit entfernt sind vom zivilen Arbeitsmarkt. Wenn Sie eine regionale Analyse in Deutschland durchführen, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die meisten Mannschaftsgrade aus den wirtschaftlich schwachen Regionen Deutschlands kommen. Die sind mehrheitlich in den neuen Bundesländern zu finden. So zementieren wir einen politisch-mentalen Gegensatz zwischen Ost und West.

Im Jahr 2020 wird in den USA wiedergewählt. Welche Szenarien erscheinen Ihnen wahrscheinlich bei a) einer Wiederwahl Donald Trumps oder b) eines demokratischen Kandidaten, was die Weiterentwicklung der NATO angeht oder die Weiterentwicklung der NATO?

Unabhängig davon, wer Präsident bleibt oder wird, ist in den USA aus nachvollziehbaren Gründen die Bereitschaft, die einseitige Lastenverteilung zu schultern, nicht mehr vorhanden. Trump ist sozusagen die Ausdrucksform eines tiefverletzten amerikanischen Gefühls. Obama hatte es freundlicher formuliert, aber das Unbehagen ist vorhanden. Es ist auch nachvollziehbar, da die höchste ökonomische und militärische Last – auch den Verlust von Menschenleben – die Amerikaner getragen hatten. Sie haben als Belohnung dafür Tritte in den Allerwertesten bekommen, um in der Bildersprache zu sprechen. Das lässt auf Dauer niemand gern mit sich machen. Die Ungehobeltheiten und Frechheiten, Taktlosigkeiten von Trump sind im Grunde die Quittung, die wir Europäer als Nato-Partner uns selbst verdient haben. Wir haben das bekommen, was wir verdient haben. Das war eine vorhersehbare Reaktion, was nicht Trumps Verhalten entschuldigt. Man muss dies im Schema von Aktion und Reaktion sehen.

Der Ökonom würde das Problem der Almende nennen: Übernutzung von Kollektivgütern bei gleichzeitigem Anreiz, diese selbst nicht bereitstellen zu wollen…

Das ist eine schöne Formulierung, die das Gleiche sagt. Die zweite Antwort: aufgrund der globalen Machtverschiebungen ist der traditionelle nordatlantische Raum zwar noch eine beachtliche, aber langfristig nicht mehr die entscheidende Größe. Das heißt, die Hinwendung vom Atlantik zum Pazifik nämlich, hatten wir bereits schon bei Obama beobachtet. Wir müssen uns von der personalistischen Perspektive lösen und versuchen zu erkennen, ob es Kontinuitäten gibt jenseits des Personenfaktors. Und ja, es gibt sie.

Das Flussbett ändert sich sozusagen…

Wolffsohn lacht Sie immer mit Ihrem Flussbett, (Das Flussbett hatten Sie im Gespräch, aber hier nicht vorher im Text…) ich merke schon. Aber man muss nur auf die Karte schauen. Das ökonomische und demographische Gewicht ist ganz eindeutig in Asien. Asien erreicht die USA also eher über den Pazifik. Personen können dies zwar beschleunigen oder entschleunigen, vielleicht sichtbar machen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, nicht nur auf die Person Trump zu schauen, ob und wenn ja, was Trump uns für Strukturen verdeutlicht, unfreiwillig, aber dies wird von einem großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit getragen. Diejenigen, die ihn nicht getragen haben, sind nicht anders programmiert und werden dies auch nicht sein.

Die Worte waren freundlicher, aber inhaltlich war es nichts anderes…

…Natürlich. Es hatte sich vor Trump nichts bewegt. Obama und seine Vorgänger hatten immer wieder höflich und freundlich gemahnt, dass wir beispielsweise 2% unseres Bruttosozialproduktes in den Verteidigungshaushalt stecken sollten. Aber genauso freundlich hat man hier business as usual betrieben, also den Verteidigungshaushalt nicht erhöht. Auch da ist dann natürlich zu erwarten, dass irgendwann jemand mit der Faust auf den Tisch schlägt. Das ist Herr Trump.

Erscheint die Erreichung eines 1,5 oder gar 2% Ziels abhängig vom Bruttoinlandsprodukt für die Bundeswehr als wahrscheinlich, oder ist es in Wahlen gar kontraproduktiv, da es von der Opposition dann eine Gegenrechnung geben wird, dass man die zusätzlichen 20 Milliarden im Jahr für die Bundeswehr viel besser in Schulen investieren sollte? Man könnte das ja ganz populistisch verkaufen.

Als populistisch bezeichnet man ja eigentlich eher rechte Positionen. In diesem Fall wäre es eine links-populistische Argumentation, die alles andere als neu ist. Bei der Alternative zu Bomben haben Sie freundlicherweise die Butter nicht erwähnt oder die Schwimmbäder oder andere Wohltaten. Das ist unrealistisch in einer Welt, in der es eben nicht nur friedlich zugeht, sondern erpressbar wird, wenn man nicht wehrhaft ist oder zumindest durch Abschreckung Konflikte vermeiden kann. Wenn Konflikte ausgebrochen sind, muss man sie mit einer Strategie dämpfen, die ich bei den jetzigen Einsätzen nicht erkennen kann. Das ist eine ewige Diskussion, die es schon bei Samuelson gab – Sie sind doch Ökonom – nach dem Motto: Butter oder Kanonen. Das ist eine Menschheitsfrage, die wiederum mit dem individuellen beziehungsweise kollektiven Menschenbild zusammenhängt. Wenn man meint, dass man wehrhaft sein muss, dann gibt es diese Alternative eben nicht, dann muss man Butter und Kanonen bereitstellen. Wenn man aber glaubt, dass wir aus einem Paradies kommen – dies ist ja die Botschaft des Alten Testaments – der Mensch ist vertrieben, wir kehren dorthin nie wieder zurück. Dies ist nur eine Parabel. Wenn dem so ist, muss man fragen, welche Konsequenzen dies im Alltag hat. Die Notwendigkeit, Militärisches zu denken, ist viel intensiver als je zuvor. Sie begann ziemlich genau mit der Wiedervereinigung. Im Januar 1991 beginnt der 2. Golfkrieg mit allem, was wir an Erinnerung haben. Deutschland war so mit sich selbst beschäftigt, dass man deshalb Nein gesagt und auch danach glaubte, beeinflusst von Herrn Fukuyama, dass es ein Ende der Geschichte gäbe. Eine Illusion. Ganz heraushalten konnten wir uns nicht. Wir haben uns freigekauft, im wahrsten Sinne des Wortes. Unmittelbar danach, ab Sommer 1991, beginnen die Balkankriege, die bis 1999 fortwährten. Die Diskussion begann dann. Die Amerikaner sind schließlich 1995 erstmals nach Srebrenica gegangen. Es kam also dann der Ruf, dass sich Deutschland auch beteiligen sollte. Dies dauerte wiederum vier Jahre bis 1999. Deutschland intervenierte dann völlig zurecht, wenn auch ohne Uno-Mandat. Im Jahr 2002 ging es weiter, Stichwort Afghanistan, der Rest ist bekannt. Auch Mali. Die Diskussion ist heute sehr breit angelegt, was die Sinnhaftigkeit von Interventionen angeht. Es wird auch agiert. Man muss die Soldaten ausrüsten. Man kann die Soldaten nicht mit einer mangelhaften Ausrüstung in den Kampf schicken. Es sind die eigenen Bürger, auch wenn es die eigenen Söldner sein werden, hat man eine Fürsorgepflicht. Die Notwendigkeit einer Söldnerarmee schließt also die Notwendigkeit eines größeren Verteidigungsetats nicht aus.

Es wird gesagt, dass man bereits vor einer europäischen Währungsunion eine gemeinsame europäische Armee hätte installieren sollen. Es müsste eine Übergangszeit geben, da eine europäische Armee nicht von jetzt an etabliert werden könnte. Wie gelänge eine Ko-Existenz von nationalen Armeen beim gleichzeitigen Entstehen einer europäischen Armee?

Auch das ist eine Totgeburt, ein schöner Gedanke, aber der Versuch, ein totes Kind wiederzubeleben. Dieses Kind starb bereits 1954, die europäische Verteidigungsgemeinschaft, die ja beschlossen war und eine gute Sache gewesen wäre. Aber jenseits der französischen Nationalversammlung, die dem Gedanken den Todesstoß gab, gibt es praktische Probleme. Erstens: was ist die Kommunikationssprache? Bei dem unterdurchschnittlichen Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch des Durchschnitts-Deutschen habe ich da Zweifel, wie das realisiert werden sollte. Andererseits gilt das Gesagte auch für Spanier, Franzosen und andere.

Das wäre dann so eine Art Problem, wie beim Kinderspiel Stille Post, wenn der Rekrut nicht das tut, was der General eigentlich gewollt hatte…

Richtig. Aber Stille Post ist meistens in derselben Sprache. Aber bei mehr Staaten – je nachdem, wie viele Staaten sich beteiligen sollten, ist das Problem der konsequenten Weitergabe von Befehlen schon problematisch, von der Realisierung ganz zu schweigen. Diese ist schon in derselben Sprache oft nicht ganz zufriedenstellend. Zweitens: wie ist es mit der Produktion von Rüstungsgütern? Es wird dann natürlich einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Staaten noch stärker geben, wer Flugzeugteil A bis Z produzieren sollte. Das gilt für andere Waffensysteme genauso. Dann ist die nächste Frage die der politischen Koordination. Eine Armee benötigt eine einheitliche Kommandostruktur, politisch wie militärisch. Wie wird das funktionieren? In der Nato haben wir verschiedene Armeen, aber wir haben die übergeordnete Koordination, die dann weitergegeben wird an die jeweiligen Staaten. Im Grunde wäre das eine NATO 2 – wozu benötigen wir dann eine Europäische Gemeinschaft? Das zeigt doch eigentlich auch die Entkopplung innerhalb der NATO, unabhängig davon, ob der amerikanische Präsident ab 2020 Trump, X oder Y heißt.

Soweit mir bekannt, ist ja auch Großbritannien dabei, den Verteidigungsetat zu erhöhen und sich gleichzeitig aus der EU zu verabschieden…

…aber natürlich nicht aus der NATO…

…Genau…

Das heißt ja, dass wir eine Entkopplung von USA und Europa haben. In Europa haben wir aber gleichzeitig eine Tendenz der viel intensiveren Diskussion Butter oder Kanonen.

Der Kompromiss wäre ja „Brunnen zu bauen“. Wir entscheiden uns also weder für Butter oder Kanonen, sondern für einen dritten Weg…

Wolffsohn lacht Das Technische Hilfswerk kann das mindestens genauso gut. Dann müsste man ja empfehlen, die Bundeswehr abzuschaffen und diverse technische Hilfskräfte oder den Katastrophenschutz einzusetzen. Das ist doch alles Selbstbetrug, es sei denn, man glaubt nicht nur, sondern ist fest davon überzeugt, dass man eine Fürsorgepflicht erstens nach innen, zweitens nach außen und drittens den Alltag wirtschaftlich gut überleben kann. Das sind die Aufgaben des Staates. Da gibt es Widersprüche.

Es gibt ja die These, wonach bei gleichzeitig niedrigen Wirtschaftswachstumsraten und hohen Geburtenraten Verteilungskämpfe entstehen werden. Ist die These noch richtig oder war sie jemals kausal richtig?

Das ist vor allem von Gunnar Heinsohn, einem hochintelligenten und kreativen Kopf. Heinsohn ist ein in der Wolle gefärbter Empiriker. Man kann über seine Thesen denken, was man will. Das ist grundgesetzlich geschützt ist. Aber diese empirisch so von Heinsohn eingeführte These lässt sich empirisch nicht so einfach entkräften. Also die Empirie spricht da eine klare Sprache. Was bedeutet dies aber nun jenseits der Statistiken und der Kausalitäten bezogen auf Geburtenraten und Aggressivität? Ein Bild aus der Wirtschaft, das makaber ist: ein Gut, das nicht mehr knapp ist, ist weniger wert. Das gilt leider auch für Menschenleben in der Wahrnehmung der Allgemeinheit. Das heißt, dass da, wo Menschenleben weniger zählen, aufgrund der Tatsache, dass es so viele Menschen gibt und man – unausgesprochen oder ausgesprochen – Menschen in Zahlen wie Ware behandelt, man dementsprechend auch die „Ware Mensch“ skrupellos einsetzen könnte, um welche Ziele auch immer zu erreichen. Und wir stellen fest, dass bei Selbstmordattentaten, anders als bei mörderischen Idealisten – wie RAF, Dekabristen oder Berufsrevolutionären – die Gefahr besteht, durch die quantitative Inflationierung von Menschen den Menschen skrupellos einzusetzen.

Wenn man in dieser teuflischen Logik ist, könnten Länder mit schwachen Wirtschaftswachstumszahlen vielleicht noch die ersten drei bis vier Kinder ernähren, aber das fünfte, sechste und siebte nicht mehr. Länder, in denen Frauen im Schnitt mehr als fünf Kinder bekommen, geraten dann in diese zynische Mathematik der überschüssigen Kinder, die man nicht ernähren kann und die dann in den Krieg ziehen.

Ja, das können wir auch wiederum empirisch belegen. Das sind nicht irgendwelche Phantasien von irgendwelchen Spinnern. Ganz konkret: nehmen Sie die Zeit der Palästinenser-Intifada 2000 bis 2005. Vorwiegend aus dem Gazastreifen kamen die Selbstmordattentäter. Die überhohe Geburtenrate dort führte auch hierzu. Die Eltern bekamen für die Selbstmordattentate – die genaue Summe weiß ich jetzt nicht – sagen wir mal 500 Dollar. Je knapper der Nachschub wurde, desto höher war dann die Bezahlung. Die genauen Zahlen kann ich nicht auswendig nennen, aber es war vom Prinzip her so. Das wurde dann bis 2003 von Saddam Hussein finanziert. Der Preis stieg. Wir haben es hier mit der makabren Arithmetik der Ökonomie bezogen auf Menschenleben zu tun. Es war der Einsatz von Menschen für politische Ziele und zwar im Sinne einer Ware. Der Mensch ist zur Ware geworden. Die Kausalität, die Heinsohn darstellt, ist leider wahr. Er tut diesnicht nur bezogen auf Palästina, sondern auf viele Krisenherde dieser Welt. Es ist ein schreckliches Menschenbild, das man hieran erkennt. Die Zahlen sind also beredt, im wahrsten Sinne des Wortes. Es sind nicht nur leblose Zahlen, sondern hinter diesen Zahlen verbergen sich menschliche Tragödien.

Wenn man jetzt in ökonomischen Kategorien von Grenznutzen und Grenzschäden argumentiert, wäre es für eine Familie schlimmer, ein Einzelkind zu verlieren, da sie dann gar keine Nachkommen mehr hätten als eines von acht Kindern. Selbst wenn zwei oder drei der acht Kinder vorzeitig umkämen, wäre dies bitter, aber es bleibt der Trost der verbliebenen Kinder…

Kultur ist auch ein Ergebnis von quantitativem Verhalten: je häufiger ein Verhalten auffindbar, desto stärker wird es verinnerlicht, aus welchen Gründen und mit welchen Mechanismen auch immer. Das widerstrebt dem eingeübten westlich-normierten Menschen- und Familienbild.

Das entspricht ein wenig der Logik des Ökonomie-Nobelpreisträgers Gary Becker, der sich zum Beispiel mit Verbrechen im Rahmen von Nutzen-Erwägungen auseinandergesetzt hatte. Bei einer 10%igen Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden und einer zu erwartenden Gefängnisstrafe von zum Beispiel 2 Jahren, entscheidet sich ein ökonomisch denkender Krimineller – bei einer risikoneutralen Betrachtung – ab einem Gewinn von x also zu einer Straftat. In dem Sinne argumentiert Becker. Verbrechen als unternehmerische Entscheidung jenseits von Moral, abhängig von Höhe der Strafe (bad) und des Ertrags (good) sozusagen.

Zum Glück gibt es eine eingeübte Gefühls-, Denk- und Verhaltensweise in unserer westlichen Kultur. Die geht eben von der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens aus, vor allem aber auch der Familie. Übertragen auf die Tierwelt versucht eine Herde ihren Bestand zu wahren, durch Flucht zum Beispiel. Es ist sozusagen naturgegebenes Verhalten. Wir warden denaturiert, wenn wir unsere Nachkommenschaft opfern. Das ist ein klarer Denaturierungsprozess, der auch mit der Armut zu tun hat. Die Armut denaturiert und entwürdigt den Menschen. Damit wird man entmenschlicht.

Stichwort Entwürdigung: auf den Philippinen oder in Mexiko werden teilweise brave Familienväter für 1000 Dollar zu Killern, weil sie sonst ihre Familie nicht durchbringen könnten. Die Armut entwürdigt ja auch hier.

Das ist mir zu weit weg, denn wir reden von Deutschland. Ich bin Historiker und beschäftige mich mit der Wirklichkeit, wie sie ist. Die zu erfassen, ist schon schwer genug. Aber mit konstruierten Fällen zu argumentieren: also da muss ich passen. Die Wirklichkeit der Wirklichkeit zu ermitteln, ist schwer genug. Was ich immer feststelle, ist, dass die vermeintliche Originalität meiner Argumentation nur darin besteht, das Wirkliche an der Wirklichkeit zu benennen. Und viele – Stichwort Vogel Strauß – weigern sich, die Wirklichkeit der Realität anzuerkennen.

Die Logik von Heinsohn, wonach…

… Keine Logik, das sind Beweisführungen.

Ok, ich nehme dieses Argument auf: je mehr Kinder ein Land bei gleichzeitig schwachem Wirtschaftswachstum hat, umso eher ist es bereit oder gar gezwungen, Kriege zu führen. Jetzt ist andersherum ein Land also entsprechend kriegsmüde und kriegsunfähig, wenn es überaltert. Wird diese Logik durch Drohnen und die Computerisierung des Krieges ausgehebelt, wenn denn Drohnen die „Drecksarbeit“ machen?

Auch das sind wieder konstruierte Fälle. Was ist die Kriegsführung von demokratischen Staaten, allen voran der USA? Es ist der Einsatz von Material, was man den USA schon lange vor den Drohnen vorgeworfen hatte. Die Darstellung der amerikanischen Kriegsführung bezeichnete man als Zitat: „feige“. Zitatende. Woran bestand also die vermeintliche Feigheit? Dass man Material einsetzte und eben keine Menschen? Die Bomber zuerst, dann die Artillerie zuerst und erst dann, wenn es sicher schien, das eigene Personal. Das kann man nur dann feige nennen, wenn man nicht versteht, was die Antriebskräfte sind. Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass in Demokratien Politiker nur dann wiedergewählt werden, wenn sie der eigenen Bevölkerung entweder Gutes tun oder Übel vermeiden. Der schonende Umgang mit der eigenen Bevölkerung ist in einer Demokratie also strukturell programmiert. Die Nicht-Wahl ist garantiert, wenn man ein Himmelfahrtskommando nach dem anderen entsendet. Hitler hatte bekanntlich die Demokratie ausgesetzt, so dass er die deutsche Bevölkerung als Kanonenfutter missbrauchen konnte. Das ist ein zweiter Effekt: Diktatoren können neben anderen Bevölkerungen auch die eigene als Kanonenfutter hernehmen, was in einer Demokratie nicht möglich ist, weil xyz gewählt werden wollen.

…wobei man aber auch sagen muss, dass Demokratien mit relativ geringen Geburtenraten und aufgeklärter Bevölkerung einhergehen…

Unabhängig von den Geburtenraten wird mit dem knappen Gut eigene Bevölkerung anders umgegangen. Der Spruch „So schnell schießen die Preußen nicht“ resultiert ja auch aus der ökonomischen Notwendigkeit… Israel ist eine Demokratie und hat eine sehr hohe Geburtenrate. Die Behauptung ist also falsch.

…, weil die Ausbildung von Soldaten teuer ist und deren Verlust eben auch Kosten versenkt…

Natürlich. Mit oder ohne Wehrpflicht kostet ein Heer immer Geld, wenn auch bei Wehrpflicht etwas weniger. Auch hier muss also eine Konzession gemacht werden: Beteiligung an der Macht durch das allgemeine Wahlrecht. Durch die allgemeine Wehrpflicht war die Tür geöffnet für das allgemeine Wahlrecht: diejenigen, die – in Anführungszeichen – sterben dürfen, muss man politisch beteiligen. Es geht nicht anders, auch das ist eine große Errungenschaft. Der Zynismus der allgemeinen Wehrpflicht bestand darin, dass man den Soldaten zum Nulltarif bekam. Aber die andere Seite der Medaille war, dass man den früheren Untertanen zum Bürger machen musste. Das war also Schlüssel für die politische Partizipation. Anfang war die Französische Revolution.

Sie haben ein Buch ein Buch zum Themenkomplex Willy Brandt geschrieben. Was fasziniert Sie am 4. Bundeskanzler?

Ich habe ihn selbst erlebt, schon als Schüler interviewt, weil sein zweiter Sohn Lars auf meiner Schule war. Als er Regierender Bürgermeister habe ich ihn im Alter von 16 oder 17 interviewt. Er war damals schon für Westberliner eine Ikone. Seinen Weg hatte ich natürlich weiterverfolgt, so dass er mich interessierte. Hinzu kam, dass er als Kanzler auf einem Gebiet sehr aktiv war, über das ich sehr viel geforscht habe, nämlich die deutsch-israelischen Beziehungen. Da hat er eine Rolle wahrgenommen, da habe ich sozusagen die Wirklichkeit der Wirklichkeit gesehen, erlebt und gefühlt. Das aufzuarbeiten, interessierte mich, vor allem die große Gestik des Kniefalls. Es war klar, dass auf dem Altar der Ostpolitik, die ich absolut richtig fand und finde, die traditionelle Israelpolitik aufgegeben wurde. Ich hatte das erlebt. Im Zusammenhang mit dem Kniefall war dies auch zu beobachten. Die Delegation in Warschau um Brandt hatte keinen einzigen jüdischen Vertreter dabei. Sie waren, obwohl sie gern mitgekommen wären, abgedrängt worden. Stattdessen sind dann die Falken mitgenommen worden. Aus sozialdemokratischer Sicht ist das zwar eine wichtige Organisation, aber angesichts der Geschichte hätte sich das gehört, zumal der großartige Kniefall ja auch am Ghettomahnmal stattfand. Dann stellte ich fest, dass Brandts Entourage die Dimension gar nicht bewusst gewesen war. Ergebnis meiner Forschung war außerdem, dass die polnischen Offiziellen gar nicht wollten, dass Brandt zum Ghettomahnmal ging. Der nächste Schritt war der Umgang mit dem nahöstlichen Terrorismus – absolut zynisch. Das fing schon bei einer Strategiebesprechung zu Beginn der sozial-liberalen Koalition im Februar 1970 an, als Willy Brandt sagte, dass Israelpolitik – Zitat – „ohne Komplexe“ – Zitatende – betrieben werde. Das sagt eigentlich alles. Dies bedeutet nämlich, dass die Israelpolitik vorher, also von der Union geführt, komplexbeladen war (das waren die alten Nazis im sozialdemokratischen Verständnis). Aber unter den vermeintlichen alten Nazis – in der Regierung vor Brandt also – gab es ganz aktive Aussöhnung. Diese wurde dann beendet. Zynisch wurde das im Zusammenhang mit dem Olympiamassaker 1972 sichtbar, wo die überlebenden Terroristen nach ein paar Wochen befreit wurden in einer – wie ich erforscht hatte, deuten alle Indizien darauf hin – konzertierten Aktion mit den Palästinensern. Das Allerschlimmste war während des Jom-Kippur-Krieges, als die Existenz des jüdischen Staates Spitz auf Knopf stand, sich die Bundesregierung geweigert hatte, den Amerikanern zu erlauben, Waffennachschub über die Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. Auf der einen Seite gab es bei Brandt also die großartige Ostpolitik, auf der anderen eine katastrophale und verwerfliche Israel-, Nahost- und Antiterrorpolitik. Es geht also auch darum, die Wirklichkeit der Wirklichkeit zu erkennen. Das heißt nicht, dass Brandts Verdienste dadurch perdu, also verloren, wären, aber die Gesamtheit des Geschehens und einer Person darzustellen, das ist die Aufgabe eines Historikers, auch des guten Journalisten. Ich erinnere an das Diktum der New York Times: „All the news that´s fit to print“. Dann kommt der nächste Schritt, das Motto des Berliner „Tagesspiegels“: „Rerum cognoscere causas“ – die Gründe/Ursachen herauszufinden. Das habe ich auch versucht, herauszufinden. Warum ausgerechnet der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Willy Brandt und viele Sozialdemokraten, diese gegenüber Juden und Israel zynische Politik betrieben haben. Das müsste man weiter ausführen und ist im Buch beantwortet. Die Analyse geht da über Brandt hinaus. Unter allen sozialdemokratischen Kanzlern, also unter Schmidt und Schröder, waren die Beziehungen zu Israel dramatisch gespannt. Es geht dabei nicht darum, die jüdische Spatzen- oder Nabelperspektive zu betonen, sondern mit dem jüdischen Thema geht in der deutschen Geschichte die Grundsatzfrage der Moral in die Tagespolitik und in die Geschichtspolitik ein. Ich betrachte dies nie aus der Nabelperspektive eines betroffenen Juden. Das wäre zu eng und einseitig. Aber gerade die, die als Verkörperung der Moral auftreten, sehr viel mehr als ihre politischen Konkurrenten, ausgerechnet die machen eine solch zynische Antiterror- und Israelpolitik.

Hätten Sie vor 25 Jahren über Brandt vielleicht etwas anders geschrieben? In einem Interview mit dem Historiker Andreas Rödder in Mainz während des Frühjahrs 2017 sagte mir dieser, wie man in einem Vierteljahrhundert über zum Beispiel Helmut Kohl urteile, hänge nicht nur an Fakten und geschichtswissenschaftlichen Methoden, sondern auch an der Disposition von uns, an der Disposition der Historiker wie der der Leser.

Nein, mir war es damals völlig klar. Meine Perspektive ist die internationale Ebene, das nationale Handeln also im internationalen Kontext zu lesen. Wenn also Willy Brandt Ostpolitik betrieb mit der Sowjetunion und Polen, dann kann man nicht daran vorbei, dass die jüdische und israelische Perspektive eine Rolle spielt. Ich hatte in meinen drei Jahren im israelischen Militär hautnah miterlebt, wie die israelische Publizistik diese Ostpolitik lobte, aber anmerkte, dass damit eine Vernachlässigung des Verhältnisses zu Israel einherging, da der Hauptpartner für Brandt nun Moskau gewesen war. Die Sowjetunion war 1970 faktisch im Krieg mit Israel am Suezkanal, weil die Sowjetunion die Schutzmacht Ägyptens war und Ägypten drauf und dran war, den Abnutzungskrieg gegen Israel zu verlieren. In dem Augenblick kommt dann die sowjetische Luftwaffe ins Spiel. Es gab damals regelrechte Luftschlachten zwischen der UDSSR und Israel, es waren beinahe kriegsähnliche Zustände, als solche nicht deklariert, aber dennoch. Das heißt, dass, wenn die Bundesrepublik mit der Sowjetunion ins Geschäft kommen wollte, dann konnte sie nicht gleichzeitig Israel hofieren. Das war eine ganz einfache und nüchterne Rechnung. Aber wenn Sie die israelisch-jüdische Welt erlebt haben, war die Ansicht, dass Ostpolitik zwar prima sei, aber Israel und weltweit die Juden dafür den Preis zu zahlen hatte. Damals hätte ich also das Buch über Brandt genauso geschrieben, vielleicht gar mit noch mehr Engagement oder Zorn. Heute bin ich darüber nicht zornig, beschreibe es zurückhaltend.

Meine Anmerkung über die veränderte Perspektive bezog sich ja auch auf Helmut Kohl, nun ist er im Gegensatz zu Brandt noch längst keine 25 Jahre tot.

Bei den relevanten Themen, die über Krawattenmode, Essensgewohnheiten oder was Kohl über Heiner Geißler oder Rita Süssmuth sagte, ist vieles bekannt, da nun Akten freigegeben worden sind. Mich interessiert die Makroebene. Da werden wir – diese Vorhersage wage ich – keine neuen Erkenntnisse bekommen. Die amerikanischen, französischen und britischen Akten kennen wir, auch die sowjetischen sind weitgehend freigegeben und veröffentlicht. Man kann das alles nachlesen. Was wollen wir, was das Welthistorische betrifft, noch Neues bekommen. Das ist das eine, die reine Akkumulation der Fakten. Die Bewertungen ändern sich mit den Menschen. Wenn sich Fragestellungen ändern, liegt das an der Änderung der Menschen und ihrer normativen Ausrichtung. Unsere normativen Akzente verschieben sich. Ich bin da sehr skeptisch, was das Neue an der Geschichtswissenschaft betrifft. Oft wiederholen sich viele Historiker selber. Andreas Rödder ist eine der wenigen löblichen Ausnahmen. Wenn Sie sich Bücher zu bestimmten Themen ansehen, so erscheint oft zu einem Sachverhalt die hundertste Veröffentlichung. Das halte ich nur dann für sinnvoll, wenn neue Fakten herauskommen. Ich gebe ein konkretes Beispiel: wir haben eine Fülle von Hitler-Biographien, manche sind sogar sehr gut. Was soll ich mit dem hunderttausendsten Hitler-Buch…

…der Grenznutzen ist dann marginal…

Ich habe einen Kollegen, den ich sehr schätze, der zurzeit an einem Hitler-Buch schreibt, wobei ich ihn frage: „Warum machst Du das eigentlich?“ Allerdings gibt es manchmal, bezogen auf Hitler, neue Fakten, so von Thomas Weber „Hitlers erster Krieg“. Weber hat sich die Mühe gemacht, die Legenden um Hitlers Soldatentum und seinen Antisemitismus nachzuprüfen. Die Behauptung, sein Antisemitismus sei in Wien geprägt worden, ist Humbug. Das hat schon Brigitte Hamann widerlegt. Weber zeigt auch, wie Hitler Nazi wurde, ein schöner Titel. Das zeigt, dass die Münchner Zeit 1918/19 dazu geführt hat, wie Hitler Nazi wurde. Weber hat auch im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg erforscht, was an der weltgeschichtlichen Perspektive nichts ändert. Hier war ein begrenztes Thema mit weltgeschichtlicher Bedeutung. Aber was kann man noch herauskommen.? Ob Hitler nun homosexuell oder impotent war – so what?! Das interessiert mich nicht die Bohne.

Beim Thema Motivation möchte ich einhaken. Bei Alfred Hitchcock ist folgende Anekdote überliefert: während der Dreharbeiten zum Film I confess hatte Hitchcock den Schauspieler Montgomery Clift anzuweisen. Clift als Anhänger des sogenannten Method Actings interessierte sich für die Beweggründe. Als er Hitchcock während einer Szene fragte, aus welcher Motivation er nun über die Straße gehen solle, antworte Hitchcock: „Um auf die andere Straßenseite zu kommen“. Hitchcock sozusagen als Vertreter der nüchternen wirklichen Wirklichkeit, Clift als Anhänger einer Motivlehre… Bezogen auf Biographien wie die Hitlers könnten sich ja in Analogie hierzu auch Leser für Motive interessieren.

Mich interessiert nicht die Person Hitler, sondern der Zusammenhang vielleicht der persönlichen Entwicklung und den welthistorischen Folgen. Nun zur erfreulicheren Figur Helmut Kohl: in 25 Jahren wird er als Kanzler der Einheit dastehen, als zweiter Kanzler der Einheit. Wolffsohn schmunzelt
Der erste Kanzler der Einheit war bekanntlich Bismarck. Auch das ist bekannt, sicher gibt es auch dort manches Neue: so von Fritz Stern damals über Bismarck. Es brachte neue Teilerkenntnisse, aber das Bismarck-Bild hat sich doch nicht verändert. Freilich, diese oder jene Interpretation. Na toll.Nebbich Bezogen auf das Kohl-Bild wird dieses abhängig von der politisch-ideologischen Perspektive des Betrachters – des Lesers wie des Schreibenden – abhängen. Insofern schlagen wir die Schlachten der Gegenwart mit Blick auf Vergangenes.

Das war insofern – zumindest sinngemäß – auch Andreas Rödders Antwort in dem damaligen Interview.

Rödder und ich sind uns da sehr nahe, schätzen uns. Seine Bücher finde ich sehr gut, ein origineller, bienenfleißiger Historiker, ein interessanter Zeitgenosse, ein kluger Kopf.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten für eine Legislatur von fünf Jahren einen beliebigen Posten wählen: Bürgermeister, Senator, Präsident, Kanzler, was auch immer. Worauf fiele Ihre Wahl? Was würden Sie umsetzen wollen?

Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich machen konnte und durfte. Keine Alternative, definitiv nicht. Das ist keine Koketterie. Ich bin mir dessen bewusst, dass es ein ungeheures Privileg ist. Ich will es mit einem scheinbar prosaischen Bild beantworten. Beim Fußball sind 22 Menschen auf dem Feld. Diejenigen, die auf der Tribüne oder vor dem Fernseher sind, haben einen viel besseren Überblick, ohne dass sie rennen, sich im Dreck wälzen müssen, ohne dass sie vom Gegner gestoßen oder verletzt würden. Insofern habe ich einen traumhaften Beruf ausgeübt: zu beobachten, ohne selbst in die Arena steigen zu müssen. Das ist schon fast verantwortungslos, aber vielleicht notwendig, auf jeden Fall ist es ein Privileg.

Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Professor Wolffsohn

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