Sehr geehrter Herr Martenstein, Sie gehören zu den bekanntesten und einflussreichsten deutschen Kolumnisten. Ihre Kolumnen in ZEIT und TAGESSPIEGEL behandeln häufig den alltäglichen Wahnsinn in Berlin. Warum ist die Hauptstadt ein so dankbares Thema für einen Kolumnisten?
Erstaunlicherweise muss man als Kolumnist seinen Gegenstand oder sein Thema schon mögen, selbst wenn man sich darüber lustig macht. Zwischen Spott und Liebe sehe ich keinen grundsätzlichen Widerspruch. Berlin ist eine Stadt, die nicht sonderlich gut funktioniert. Das hat ja auch kürzlich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer festgestellt. Er ist häufig in Berlin. Daraufhin gab es eine Empörungswelle aus der Politik, während viele, die in Berlin leben, mir gesagt haben: „Der Palmer kennt sich ja gut aus.“ Martenstein schmunzelt.
Viele Berliner haben inzwischen einen grimmigen Sarkasmus entwickelt, wenn es um die Infrastruktur der Stadt geht, selbst beim Anmelden eines Autos oder gar Beerdigungen. Es gab einen Fall, wo die Trauergemeinde am Sarg auf die Beerdigung warten musste, weil irgendein amtliches Dokument immer noch nicht da war. So etwas passiert hier. Als Autor hier zu leben, ohne darüber zu schreiben, ist schwierig.
Ich selbst hatte das beim Notar in meiner Kleinstadt (Anm. Arnsberg) mitbekommen. Der sagte mir, dass die kleinstädtischen Behörden sehr viel schneller arbeiten als solche in Berlin, was Umschreibungen von Immobilien zum Beispiel angeht.
Früher war Berlin für das Tempo berühmt. Heutzutage eher für Langsamkeit: Langsamkeit des Verkehrs, Langsamkeit der Verwaltung, Langsamkeit politischer Entscheidungsprozesse: alles dauert hier extrem lang.
Meiner Ansicht – ich wohne 500 km entfernt – nach gibt es in Berlin ein Missverhältnis: einerseits ist die Hauptstadt herausragend, was Kulturveranstaltungen angeht, hier genießt sie Weltruf. Politisch ist sie eine herausragende Mitspielerin in Europa, aber wirtschaftlich ist Berlin ein relativer Zwerg, sogar im Vergleich zu kleineren Städten wie Frankfurt, Stuttgart und München, aber erst recht im Vergleich zu Paris, London und New York. Das Missverhältnis wirkt, um es in einer Analogie auszudrücken, wie jemand, der zu Stresemannhose und Budapester Schuhen ein fleckiges und verwaschenes T-Shirt trägt. So etwas fiele doch ebenso ins Auge…
Auf jeden Fall ist Berlin widersprüchlich, immer schon gewesen. Das, was Sie da ansprechen, kann man mit einer lustigen Tatsache illustrieren. Irgendeine Institution rechnet regelmäßig aus, welchen Effekt die Hauptstädte für das Bruttosozialprodukt ihres Landes haben. Frankreich wäre ohne Paris wirtschaftlich deutlich schwächer. Das gilt natürlich auch für London und Großbritannien. Sogar für Rom und Italien gilt das, mit Abstrichen. Das einzige größere europäische Land, das reicher wäre, wenn die Hauptstadt morgen im Boden versänke, ist Deutschland.
Ist Berlin in diesem Sinne typisch deutsch, dass es für eine Mittelmacht zu groß ist und für eine bedeutende Macht hingegen zu klein ist?
In Deutschland gibt es ja Föderalismus, das unterscheidet uns von einigen anderen europäischen Ländern. Es gibt von Alters her selbstbewusste Residenzstädte und Hansestädte. Berlin ist, ähnlich wie Wien, die Endmoräne eines ehemaligen Großreiches. Das Problem Berlins besteht allerdings nicht darin, dass es vielleicht zu groß wäre. Berlin wird seit vielen Jahren schlecht regiert. Die politischen Eliten in Berlin sind abgeschottet, Außenstehende dringen selten in diesen Zirkel ein. Politische Karrieren beginnen in den Bezirken. Michael Müller zum Beispiel hat sich in Tempelhof hochgearbeitet. Solche Menschen hegen oft einen gewissen Unwillen gegenüber denen, die von außen kommen. Die CDU hat es sogar geschafft, Wolfgang Schäuble als Regierenden Bürgermeister von Berlin zu verhindern, obwohl er dazu bereit gewesen wäre. Das heißt, dass Berliner Parteien sogar ziemlich sichere Wahlsiege verhindern, um die eigene Klientelwirtschaft nicht zu gefährden. Sie betrachten die Stadt als ihren Schrebergarten, manche denken auch schrebergartenartig. Geprägt worden sind viele noch in der Zeit der Berliner Mauer. Da das Leistungsprinzip ausgesetzt. Wenn man Geld brauchte, rief man einfach in Bonn an. Bonn konnte das Leuchtfeuer der Freiheit ja nicht herunterkommen lassen. Auch jüngere Politiker sind durch diese Lehrmeister geprägt worden. Es gab hier nie ein Gefühl für Verantwortung. Die lag ja bei den Besatzungsmächten von damals und in Bonn.
Das Prinzip Produktivität ist insofern außer Kraft gesetzt worden, weil ein Anruf beim reichen Onkel genügte, um zu erhalten, was man wollte. Es war also insofern gelebte Normalität, sich in dieser Weise zu verhalten, so dass man sich hierfür auch nicht genierte….
Hemmungen, um Subventionen zu bitten, sind in Berlins Politik schwach ausgeprägt. Man sieht ja auch heute eine erstaunliche Wirklichkeitsferne. Berlin gilt ja als wirklich unternehmerfeindlich. Investoren wollen hierher, weil Berlin Lebensqualität bietet und ein gutes Image hat. Aber wenn sie sehen, was ihnen bürokratisch abverlangt wird, zucken viele zurück. Manche schaffen es trotzdem. Die Motivation, nach Berlin zu kommen, muss stark sein, um sich mit den Widrigkeiten hier auseinandersetzen zu wollen.
Wenn man an den Google-Campus denkt, ist mir schon im vergangenen Herbst aufgefallen, dass es eine Stadt als Triumph feiert, diesen abzublocken, allein weil man Angst vor Mietsteigerungen hatte…
Man denkt antikapitalistisch, zumindest in der Berliner Regierung,
ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass ohne Steuereinnahmen durch die
Kapitalisten wenig geht. Martenstein lacht
Es gibt Kabarettnummern im Verhältnis der Politik zu Unternehmern. So
hat man vor einigen Jahren, in einer Schuldenkrise, eine Menge
städtischer Wohnungen verkauft und damit Milliarden eingenommen. Einer
der Motoren dieses Verkaufs war Michael Müller, damals, bevor er
Regierender Bürgermeister wurde. Jetzt verkündet er, der gleiche Mann,
dass man diese Wohnungen doch zurückkaufen muss. Es ist noch nicht klar,
wo der Kaufpreis liegt – wahrscheinlich zwischen 5 und 7 Milliarden
Euro, manche sprechen von 10 Milliarden, man weiß es nicht. Es ist
jedenfalls einer der schlechtesten Deals, die eine Stadt je getätigt
hat. Man will damit die Wohnungsnot bekämpfen, obwohl durch den Rückkauf
dieser Wohnungen keine einzige neue Wohnung entsteht. Gleichzeitig
klagen Menschen, die hier bauen wollen, wie schwer man es ihnen macht.
Privatem Wohnungsbau, der ja etwas Kapitalistisches ist, steht man ja
skeptisch gegenüber, ohne in der Lage zu sein, selbst genug Wohnraum zu
schaffen. Dann kommt es zu Deals wie diesem Rückkauf. Ich weiß nicht,
was das soll. Ebenso wenig scheinen die Beteiligten zu wissen, was das
soll. Nein – es soll gute Stimmung vor den nächsten Berliner Wahlen
bringen. Dass es die Probleme nicht löst, ist schnurzpiepegal.
Und die Idee, sternförmig nach Brandenburg – verbunden mit guten Zugverbindungen – zu gehen, könnte ja Möglichkeiten eröffnen…
Ja, das wird auch als menschenfeindlich angesehen. Weil man Menschen dazu nötigt, ihr angestammtes Quartier zu verlassen und an den Stadtrand zu ziehen. Warum der Nazi-Vergleich mit Lagerhaft in Brandenburg da noch nicht verwendet wurde, verstehe ich fast nicht. Aber wenn eine Familie mit zwei Kindern hier lebt, ist es für die keineswegs unattraktiv, im Umland ein Haus mit Garten zu haben. In anderen Großstädten ist das ja auch üblich, dass man innerhalb von 20 Minuten in die Innenstadt fährt, um zu arbeiten oder ins Kino oder ins Theater zu gehen. Mit Lagerhaft lässt sich das nicht vergleichen. __
Andersherum kenne ich die Perspektive aus der kleinen Stadt, die wiederum per Zug mit der Metropolregion Ruhr gut verbunden ist. Innerhalb von 25 bis 30 Minuten ist man in Dortmund (von Arnsberg aus). Meinem Bürgermeister hatte ich, da er gerade vor einem Jahr ins Amt kam, den Vorschlag gemacht, aktiv im Ruhrgebiet, wo die Lebensqualität überschaubar ist, Bürgern anzubieten, aufgrund der guten Anbindung und höheren Lebensqualität sowie deutlich besseren Schulen, nach Arnsberg zu kommen…
Dann kommt im Falle Berlin das Argument, die Steuern gingen dann ja nach Brandenburg, was man dem benachbarten Bundesland nicht gönnt. Es sind jetzt seit der Vereinigung Deutschlands ungefähr 30 Jahre verstrichen. Dennoch lässt die Verbesserung der Anbindung ins Umland auf sich warten. In diesen 30 Jahren sind einige Verbindungen eher schlechter geworden, was ich beurteilen kann, weil ich ein Haus in Brandenburg habe. Früher gab es ab und zu S-Bahn-Krisen, heute sind wir in einer permanenten S- und U-Bahn-Krise. Ein Ende ist nicht absehbar. Das gehört auch zu den Widersprüchen der Stadt: sie propagiert Umweltbewusstsein und ist für den öffentlichen Nahverkehr. Sie ist aber nicht in der Lage, etwas dafür zu tun. Man schafft es zwar, den Menschen das Autofahren madig zu machen. Aber man schafft es nicht, Alternativen anzubieten. Das Fahrrad kann natürlich niemals eine Mobilitätsalternative für Ältere sein. Man wird nicht 80jährigen sagen können: „Fahr doch 20 Kilometer mit dem Rad.“
Nur auf dem Fahrrad kann man die Verkehrs-Infrastruktur nicht aufbauen. Eltern werden dies wissen. Manchmal muss man für die Kleinen viel Gepäck mitnehmen. Es gibt viele hochfliegende Wünsche, aber wenig Kompetenz, sie zu realisieren. Nicht, dass die hiesige Koalition das Wort Fortschritt nicht dauernd im Munde führte. Dabei bleibt es dann oft.
Meine Beobachtung, was Berlin angeht, ist, dass viele junge Menschen in der Provinz an sehr guten Schulen ausgebildet worden waren, dann nach Berlin kommen, um an den herausragenden Unis der Stadt studieren, wobei das Niveau Berliner Schulen nicht ausreicht, um an einer Berliner Uni studieren zu können. Vielfach schämen sich die Neu-Berliner, die aus soliden Verhältnissen mit profunder Bildung in die Hauptstadt kommen, dann aber ihrer provinziellen Herkunft. Finsterwalde, Stralsund, Suhl, Neheim-Hüsten und Schwenningen bildeten sie aus. Dann aber entsteht ein Komplex, ehrgeizig assimiliert, all die Spuren zu verwischen, die jemanden als ehemaligen Provinzler ausweisen könnten. Vielleicht entstehen gerade aus dem Ehrgeiz heraus Karrieren, aus dem Ehrgeiz, sich maximal von seiner alten Ausbildungsstätte zu distanzieren…
Das ist nicht spezifisch berlinisch. Berlin ist immer eine Stadt gewesen, in die unterschiedlichste Menschen hineinströmten, und diese Bevölkerungsgruppen sind fast wie Stämme, die sich ein Gebiet teilen. Man muss sich überlegen, welche Gruppen da nebeneinanderleben: da gibt es die, die vor der Bundeswehr geflohen sind, als es die Wehrpflicht noch gab. Dann gibt es die Berliner Türken, und die neuen Migranten. Ost- und Westberliner haben oft immer noch verschiedene Lebensgefühle. Die autonome Szene rekrutiert sich häufig aus Kleinstädten. Klar, in Berlin kann man auf den Putz hauen, wie es in Villingen-Schwenningen nicht möglich wäre. Dazu kommen all die Start-up-Leute. All diese Gruppen haben sehr unterschiedliche Profile. Was fehlt, ist eine Stadtgesellschaft mit gemeinsamer Identität. In Mittelstädten ist das eher vorhanden, zum Beispiel in Mainz, wo ich geboren worden bin. Da gibt es ein Gemeinschaftsgefühl für die Stadt, eine Art Stadtpatriotismus. Das gibt es in Berlin nicht in dieser Weise. Hier kämpfen verschiedene Interessengruppen gegeneinander, das Verbindende fehlt.
Also ist das ein bisschen so wie bei einer Subkultur, ich würde es als Subnormalität deklarieren. In den Milieus finden die Gruppen ganz unterschiedliche Dinge normal, wobei es keine übergeordnete Normalität gibt, die alles zusammenklammert? In Berlin kann man das ja auch an Wahlergebnissen ersehen. Dahlem wählt komplett anders als Friedrichshain, dies wiederum komplett anders als Marzahn und so weiter…
Das ist natürlich nicht nur ein Problem, sondern auch eine Stärke. Wenn man in Berlin einen Kilometer spazieren geht, sind die Geschäfte, Wohnhäuser und Menschen manchmal ganz anders. Aber es sollte auch ein Gefühl für das Gemeinsame geben.
Kennen Sie den Woody-Allen-Film „Midnight in Paris“? Dort ist es ja auch so, dass Owen Wilson in seiner Rolle um die Ecke biegt und auf einmal im Jahr 1920 landet, ohne den Übergang bemerkt zu haben. Auf einmal sieht er Hemingway…
…und Picasso.
Zu Ihrem Schreibstil: er ist ein wenig polemisch, im positivsten Sinne des Wortes. Könnten Sie sich vorstellen, dass mit Polemik, Ironie, möglicherweise Sarkasmus Erkenntnisse besser freigelegt werden als mit reiner Sachlichkeit?
Zunächst einmal ist es unterhaltsam. Martenstein lacht. Ein sachlicher Text kann sehr klug sein. Aber er wird ja nicht so gern gelesen wie ein Text, der mit Humor arbeitet. Ich bin zu meinem Stil gekommen, weil ich selbst gern solche Texte lese. Man versucht, das zu kopieren, was man mag, wenn man zu schreiben anfängt.
Als Beispiel gebe ich Ihre Kolumne mit der „Ossi-Quote“ an. Was passiert also, wenn sich auf eine öffentliche Stellenausschreibung hin ein Ostdeutscher und…
… ein Migrant, eine Frau und ein Behinderter melden. Welche Quote toppt die andere? Anlass war, dass eine Grüne eine Art Quote für Ostdeutsche gefordert hat.
Das meine ich damit: reine Sachlichkeit miede ja ein solches Thema. Sie legen damit etwas frei…
…naja, ich war ja sachlich dabei…
Es ist ja ein wenig wie Extremwertrechnen in der Mathematik. Was passiert also in einem extremen Fall?
Beim Schreiben drehe ich das Rad einfach weiter, um eine Umdrehung. Was passiert dann? Als die Frauenquoten sich durchgesetzt haben, war mir irgendwie klar, dass bald für andere Gruppen ebenfalls Quoten kommen werden. Am Ende läuft es auf eine quotierte Gesellschaft hinaus, in der sich eigentlich Stellenbesetzungen per Computer automatisch ergeben. Am Bildschirm käme nach Eingabe der Quoten-Kriterien ein Name. Bewerbungsgespräche sind unnötig. Die Entwicklung geht ja auch dahin. Ich sehe keinen Grund, warum es zum Beispiel nicht auch bald eine Migrantenquote geben sollte. Eine Frau mit Migrationshintergrund hat dann die Doppelquote.
Ähnlich wie beim Eistanzen: zählt der Rittberger mehr als ein doppelter Toeloop?
Darf man sich dann auf zwei Quoten hin bewerben: auf die Frauen- und die Migrantenquote? Oder darf man sein Los nur einmal in die Trommel werfen? Solche Fragen werden kommen.
Bei Diskriminierung ist ex-post teilweise schwer herauszufinden, ob man tatsächlich diskriminiert wurde oder ob man sich dies vielleicht nur einzureden versucht, weil es Diskriminierung in anderen Fällen tatsächlich gibt.
Das ist eine interessante Frage. Wenn man zu einer diskriminierten Gruppe gehört, ist die Versuchung groß, sein Leben ganz im Lichte von Diskriminierung zu sehen. Aber auch bei Nicht-Diskriminierten besteht das Leben nicht nur aus Triumphen. Wenn man auf Ablehnung stößt, könnte es vielleicht auch an einem selbst gelegen haben.
Wenn Sie die Wahl hätten, für ein politisches Amt zu kandidieren, genau für eine Legislatur: welches Amt sollte es sein und was wäre Ihre Agenda?
Martenstein lacht. Das ist lustige Frage. Früher hätte ich gesagt: Kultursenator. Außenminister ist ein schöner Job. Man kommt rum und ist beliebt. Außer Guido Westerwelle war jeder deutsche Außenminister beim Volk beliebt. Weil jeder geliebt werden will, wäre das wohl meine Wahl. Klaus Kinkel war auch mal Außenminister und beliebt, obwohl er kein auffälliger oder charismatischer Politiker war. Wie sich das bei Heiko Maas entwickeln wird, weiß ich nicht. Er war ja als Justizminister eine kontroverse Person, zumindest Konservative mochten ihn überhaupt nicht. Weil ich mehrere Fremdsprachen spreche, wäre ich qualifiziert.
Vor einiger Zeit hatte der TAGESSPIEGEL ein Projekt über Generationen. Sie schrieben ja aus der Perspektive eines 60jährigen, Ihre Kollegen entsprechend aus dem Blickwinkel anderer Generationen. Teilen Sie den Befund, dass die heute Jungen extrem alt daherkommen?
Naja, mit 25 wollten wir doch alle älter daherkommen, als wir waren. Ich habe mit 25 überhaupt nicht begriffen, wie toll es ist, jung zu sein. Als ich 30 wurde, hatte ich mich darüber gefreut. Ich dachte, endlich bei den Erwachsenen angekommen zu sein. Mit 60 ist es mit den Perspektiven vorbei, da sucht man sich eher den Arzt aus als den nächsten Job. Es ist der normale Lauf der Dinge. Im Alter wird man zwar klüger, aber das nützt einem nicht wirklich.
Wäre ich eine gute Fee, die Ihnen folgendes Arrangement anböte: ab heute wieder 25 – nähmen Sie an?
Die spontane Antwort ist Ja, wobei ich ja meine Frau und die Kinder mitnehmen möchte. Dann würde ich das machen. Ich weiß nicht, wie meine Frau mit dem großen Altersunterschied zu einem 25jährigen klarkäme. Allerdings: wenn ich dann auch den mentalen Zustand von 25 hätte, na ja. Es ist ein alter Menschheitstraum, mit all den Erfahrungen des Alters in einen jungen Körper zurückzugehen. Wunderbar. Aber wieder so dumm zu sein, wie man es mit 25 war – nein. Das wäre mir nicht angenehm. Da wäre ich wieder furchtbar links und würde unkritisch zu allem Ja und Amen sagen, wenn nur meine Peer Group dafür wäre.
Ist es mit jenseits der 50 leichter, auch dagegen zu sein?
Mir ist es leichter gefallen. Wenn ich zurückblicke, war ich als junger Mensch eher konformistisch. Mit dem Alter stellt sich bei manchen auch finanzielle Unabhängigkeit ein. Am Anfang der Karriere will man vor allem dazu gehören. Später ist einem das etwas egaler. Mit 50 habe ich Ersparnisse gehabt, ich konnte nicht ins Bodenlose fallen. Emeritierte Professoren hauen nach Ende ihrer akademischen Karriere gern auf den Putz, weil die Pension da ist. Flaubert hat gesagt, dass ein freier Schriftsteller Grundbesitz braucht, sonst sei der nicht frei. Für einen Angestellten mit kleinen Kindern ist geistige Freiheit schwieriger. Wer sich ohne finanziellen Hintergrund Freiheit leistet, ist wirklich mutig.
Sie hatten angedeutet, ein junges Kind zu haben. Ist für einen erfolgreichen Autor wie Sie die sogenannte Work-Life-Balance möglich?
Wenn man ein kleines Kind hat, ist man bei der Arbeit nie frei von schlechtem Gewissen. Wie man dieses Dilemma löst, weiß ich nicht. Aber sich ganz auf eine Seite zu schlagen, nur Kind oder nur Arbeit, wäre für mich schrecklich. Wir Männer sind, wenn wir Vaterschaft ernst nehmen, heute in einem ähnlichen Dilemma wie Frauen vor 50 Jahren. Man kann manches besser machen, es müsste in Betrieben mehr Kitas geben.
Stellen Sie sich vor, die Lindenstraße würde in Berlin neu aufgelegt und Sie wären der Drehbuchautor – würden Sie so ein Angebot annehmen? Welche Typen müssten in Berlin vorkommen?
Ich glaube, dass ich das annähme, obwohl ich kein besonders erfahrener Drehbuchschreiber bin. Man bräuchte für die Serie einen Politiker – vielleicht von der SPD – außerdem die Figur eines Autonomen, dann die eines verzweifelten Start-up-Unternehmers. Eine autonome Streetfighterin wäre auch was, am besten die Tochter des Politikers. Außerdem natürlich ein Spandauer Rentnerehepaar mit Kleingarten, das die Welt überhaupt nicht mehr versteht. Man müsste den Ost-West-Aspekt hineinbringen, nicht mit Stasigeschichten. Hinzu käme noch ein alerter Kultursenator, der versucht, den SPDler abzusägen. Abends müssten sie sich dann alle an der Döner-Bude treffen.
Wäre das ein Klischee? Übertreiben Sie?
Mit den Dönerbuden? Die Wurstbude Curry 36 ist eine Berliner Institution, da treffen sich alle. Gegenüber gibt es den „Gemüsedöner“, meistens mit Warteschlangen von 30 Metern oder mehr. Das ist schon Berlin.
Tun Ihnen Politiker leid? In der Martenstein-Lindenstraße kämen ja auch ein bis zwei Politiker vor. Kann man den Beruf länger als 8 bis 10 Jahre durchhalten?
Ich habe ein paar Politikerportraits geschrieben. Da werden 15-Stunden-Tage heruntergerissen. Einerseits ist das bewundernswert, andererseits unheimlich. Zeit zum Nachdenken und Lesen fehlt. Man sucht sich den Beruf aus, daher hält sich mein Mitleid in Grenzen. Die Terminkalender von Politikern müsste man wirklich entschlacken. Damit sie nicht so gehetzt daherkommen. Das war ein Vorteil der Monarchie, an der ja nicht alles schlecht war: Könige konnten sich mehr Muße genehmigen. Eine Gestalt wie Friedrich II. finde ich sehr eindrucksvoll. Nebenbei ein Land zu regieren, während man Flötenkonzerte gibt, mit Philosophen diskutiert und literarische Texte produziert. Zuletzt haben so etwas noch französische Präsidenten machen können. Den SPD-Politiker Peer Steinbrück fand ich gut, weil er sehr belesen ist. Deswegen war er im Politikbetrieb ein Fremdkörper, weil er Wahrheiten einfach mal offen aussprach. Es kann für Politiker riskant sein, die Wahrheit zu sagen.
Eine ganz andere Frage: kam mit der Jahrtausendwende so eine Art Bedrückung, indem man überfordert mit dem damals neuen und unbeschriebenen Jahrhundert war? Ein leeres Blatt ist ja auch für Schriftsteller unerträglich. War der 11.September der erste Eintrag auf das leere Blatt? Jetzt, 19 Jahre später, blickt man sorgenvoll auf das Jahr 2100 mit zwei Szenarien: entweder versinken wir in einem Meer von Plastik, einem Meer, das bis nach Berlin reichen wird oder wir erleben den Untergang des Abendlandes. Wie kann man aus diesen zwei Düster-Szenarien die Luft herauslassen?
Naja, vielleicht muss die Luft nicht unbedingt raus. Es sind ja reale Gefahren. Ich halte die Gefahr eines ökologischen Kollaps nicht für ein Hirngespinst. Dass Europa seine Identität verlieren könnte, wenn es eine Politik der offenen Grenzen praktiziert, halte ich ebenso wenig für ein Hirngespinst. Ich würde Europa und seine Kulturen vermissen, obwohl ich auch andere Kulturkreise schätze. Alles gelassen sehen? Klingt gut, ist aber nicht immer richtig.
Es wird ja aufgeschaukelt. Die eine Seite überhöht die Ereignisse zu einem Untergang des Abendlandes, die andere kontert mit Mikroplastik und Klimawandel horrenden Ausmaßes…
Jeder hat seine Lieblings-Apokalypse. Apokalyptisches Denken ist eine Konstante der Geschichte. Waldsterben und Angst vor dem Atomkrieg waren in den 1980ern modern. Rückblickend kann man sagen, dass man selten in einer so sicheren Zeit lebte wie während des Kalten Krieges.
99 Luftballons war ja auch ein Lied aus der Zeit…
Jetzt haben wir also die sogenannte Migrationskatastrophe neu auf der Speisekarte. Es gibt da ja durchaus Gefahren, die nicht aus der Luft gegriffen sind. Das ist meistens so. Die Gefahren sind real, aber der Weltuntergang ist zum Glück unwahrscheinlich. Auch in den 1980er Jahren war ja ein Atomkrieg nicht unmöglich. Man konnte darauf hoffen, dass der nächste sowjetische Herrscher nicht ein totaler Psychopath ist. Es ist dort tatsächlich, nach Stalin, nie ein Irrer an die Macht gekommen. Trump ist beunruhigend, weil er sein Temperament nicht im Griff hat, sehr gefährlich bei einem Politiker. Ich glaube trotzdem nicht an den Weltuntergang, allein schon aus Selbstschutz.
Das Jahr 2000 scheint ja ernüchternd gewirkt zu haben wie ein leerer weißer Raum. Mit dem 11.September hatte man das erste Großereignis.
Damals platzte die Illusion, dass überall die Demokratie siegt und eine Welt ohne Großkonflikte entstehen könnte. Aber, wie gesagt: Apokalypsen verschaffen auch eine gewisse Befriedigung, so lange sie nur in der Phantasie stattfinden. Warum geht man denn in Horrorfilme? Ich mag Horrorfilme und Katastrophenfilme. „The day after“ und dergleichen. Das beruhigt. Man geht mit dem Gefühl nach Hause, dass es nur Phantasie und nach dem Kino vorbei ist.
Welche Art Horrorfilm mögen Sie? Splatter? Teenie-Horror à la Halloween oder dunkle mysteriöse Waldfilme? Vielleicht Zombie-Streifen?
Splatter mag ich meistens nicht, eher Psycho-Thriller. Aber die Splatter-Seitenlinie Zombie mag ich schon sehr. Der Film „Zombie“ von George Romero war ja gesellschaftskritisch. Die Überlebenden flüchten in die Kunstwelten eines Einkaufszentrums. Underdogs stürmen die Konsumwelt. Die Zombie- Serie „The walking dead“ mag ich auch. Menschen, die selbst zu Gejagten einer anderen, ähnlichen Spezies geworden sind, das hat einen anthropologischen Aspekt. So war`s, als Homo Sapiens und Neandertaler und andere um die Weltherrschaft kämpften, wobei, füchte ich, eher Homo Sapiens die Rolle der Zombies gespielt hat. Die Leute überleben nur in Kleingruppen, zu viel Individualismus ist tödlich. Am Interessantesten sind Zombiefilme, in denen die Zombies wieder anfangen, zu denken und auch auch geistig zu Gegnern werden.
Der Geist der Aufklärung ist also selbst für Zombies ansteckend…
…ja, wenn die Zombies sozusagen ihre Aufklärung erleben. Sie schauten in den Spiegel und sahen, dass sie nackt waren. Eine interessante Weiterentwicklung des Genres.
Thematisch ist mir das vertraut: so hielt ich mal eine Debattenrunde zum Thema ab, so legte ein Referent dar, dass anthropologisch Zombie-Mythen auf religiöse Vorstellungen aus der Karibik zurückgehen. Zombies als Zwielicht-Wesen sozusagen, weder tot noch lebendig.
„Zone One“ von Colson Whitehead ist der beste Zombie-Roman, den ich kenne. Er spielt in New York. Ich wollte mal selbst einen Zombie-Roman schreiben. Als mir „Zone One“ in die Hände fiel, habe ich gemerkt, dass der bestmögliche Zombie-Roman bereits geschrieben ist und habe das Projekt beendet.
Welche Frage ist Ihnen noch nie gestellt worden? Was wäre Ihre Antwort auf so eine Frage?
„Wie schaffen Sie es nur, so wahnsinnig gut auszusehen? Tun Sie etwas dafür?“ Meine Antwort wäre: „Nein“. Martenstein lacht
Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Martenstein.