Hans-Martin Esser trifft Alexander Kissler: „Merkel setzt ja sehr bewusst das Mittel des schlechten Deutsch ein, weil sie kein Deutsch kann…“

Alexander Kissler, Quelle: Kissler.de

Gespräch mit dem Leiter des Kulturteils der Monatszeitschrift Cicero über Phrasen, Framing, „Wir schaffen das“-Sätze, sein neues Buch („Widerworte – warum mit Phrasen Schluss sein muss“), die Applaus-Spirale, Wohlstandsdekadenz, Normalität heute und im Mittelalter und die Tendenz, öffentlich anders zu sprechen als privat.

Sehr geehrter Herr Kissler, Sie haben kürzlich ein Buch über die Kultur des Widerspruchs geschrieben, wobei wesentlicher Bestandteil die Kontemplativseite des Widerspruchs, nämlich Phrasen, gewesen ist. Derjenige, der Phrasen verwendet, will ja möglicherweise Widerspruch vermeiden. Worum geht es konkret in Ihrem Buch?

Es geht darum, dass man sich mit Phrasen gegen Widerspruch immunisiert. Phrasen sind strategisch eingesetzte rhetorische Operationen, mit denen man ein Basta bemäntelt als Diskussionsbeitrag. Politische Phrasen sind Basta-Wörter. Sie simulieren Nachdenklichkeit, sie geben vor, dass sie eine Debatte eröffnen wollen, dabei wollen sie diese schließen oder erst gar nicht entstehen lassen. Sie haben hohen moralischen Überschuss bei geringer inhaltlicher Füllung. Mutti aller Phrasen ist natürlich „Wir schaffen das.“.

Es werden praktisch die Felder vermischt…

Genau.

Man geht also aus dem Feld Politik in das missverständliche Feld Moral, um Dinge zu umschiffen oder nicht auszusprechen.

Um sich der Mühe des argumentativen Begründens zu entziehen. Zum Beispiel durch die Phrase „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“. Der Satz, der eigentlich eine These ist, erweckt den Eindruck, dass derjenige, der widerspricht, ein Unmensch sei. Dabei ist der Satz „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“ eine Behauptung, der man widersprechen kann, ohne ein schlechter Mensch zu sein. Alles im Leben ist begrenzt.

Wie erkennt man den Phrasendrescher? Was ist neben „Wir schaffen das“ noch eine beliebte Phrase?

Eine beliebte Phrase lautet „Das ist alternativlos“. Da wird eine einzelne politische Meinung oder Maßnahme dem Bereich des Für und Wider entrückt. Es ist eine entpolitisierende Formel, die von Politikern verwendet wird, um ihre Politik der Kritik zu entziehen. Das hat bei Frau Thatcher schon nicht geklappt. Mit diesem Spruch hatte sie die Privatisierung der englischen Staatsbahn begründen wollen, die bekanntlich keineswegs alternativlos war. Bei Frau Merkel ist ihre Migrationspolitik auch nicht alternativlos. Phrasen sind darauf angelegt, sofortigen Zuspruch zu ernten. Deshalb nenne ich sie den Wackeldackel auf den Hutablagen unserer Debattenwägen. Man hört eine Phrase und nickt sofort. Ein anderes Beispiel: „Gewalt ist keine Lösung“. Da nicken einige schnell. Gemeint ist allerdings: „Wir würden gern in einer Welt leben, in der Gewalt keine Lösung wäre.“ Oftmals ist Gewalt faktisch doch eine Lösung. Viele politische Unrechtssysteme konnten nur mit Gewalt beendet werden. Und was bliebe von der Demokratie ohne Gewaltmonopol des Staates?

Was treibt Menschen an, sich auf diese Worthülsen einzulassen?

Die Phrasen, die ich aufgespießt habe, sorgen für gute Gefühle bei dem, der sie im Munde führt. Mit Sätzen wie „Gewalt ist keine Lösung“, „Wir schaffen das“, „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“ simuliere ich Nachdenklichkeit und erreiche sofortige Zustimmung. Wir alle wollen geliebt werden, wollen Zustimmung ernten. Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn wir zu scheinbar moralisch überlegenen Phrasen greifen. Zudem ist die Phrase nicht nur das einmal gesagte Apercu. Eine Phrase geht durch viele Münder. Man zapft einen Phrasenteich an. Damit ist man auf der sicheren Seite. So kann man immer darauf verweisen, dass bereits XY das zuvor gesagt hatte. Dann nicken alle, weil sie den Satz bereits gehört haben. Die Phrase ist insofern ein Zeichen von Denkfaulheit, bei denen, die zuhören, und von Feigheit bei denen, die sie aussprechen.

Bei uns am Ort (Arnsberg, Westfalen) hatten wir eine Debattenrunde, zu der ich einen bekannten Intellektuellen als Befürworter des Bedingungslosen Grundeinkommens eingeladen hatte. Im Lauf des Abends pries er neben dem Grundeinkommen einen umfassenden europäischen Sozialstaat. Im Publikum wiederum saßen überwiegend Pensionäre und Rentner. Denen sagte er ins Gesicht, man solle ihre Renten massiv kürzen, um Rentenerhöhungen in Südeuropa zu finanzieren. Es gab gerade von diesen Rentnern Applaus, obwohl dezidiert gegen ihre Interessen verstoßen wurde. Ich dachte in dem Moment, dass das doch recht widersinnig war. Hatten die nicht zugehört? Nein, es gab im Publikum so eine Art Applaus-Erwartung, eine Applaus-Normalität. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass diejenigen, die nicht klatschten, Angst hatten, sich damit unmöglich zu machen.

Wir haben leider oft den Fall, dass wir in der Öffentlichkeit da Zustimmung signalisieren, wo wir denken, sie sei erwünscht. Es ist ein großes Problem für unsere Demokratie und Republik, dass wir uns in zustimmungspflichtigen Korridoren bewegen. In der Öffentlichkeit, wenn ich draußen bin, hangele ich mich von einer zustimmungspflichtigen Situation zur nächsten. Daneben gibt es verdammungspflichtige Situationen, die wir alle ablehnen müssen. Die Gesellschaft erscheint zunehmend geteilt in binäre Situationen, und diesen binären Situationen entsprechen binäre Sprachcodes, wie sie in Phrasen zum Ausdruck kommen…

…also Schwarz und Weiß, Gut und Böse…

Genau. Ich denke, es gibt außer Deutschland kaum ein Land, in dem es so extrem läuft. In Deutschland meinen die Deutschen, sie würden zu viele Steuern zahlen. Aber der gute Deutsche zahlt dennoch brav. Der gute Deutsche lässt sich gern vom Staat sagen, wo es langgeht. Und wenn man ihn fragt, ob zum „Wohle der Menschheit“ dies oder jenes getan werden sollte – die Menschheit ist leider auch zur Phrase geworden…

…oder, um Schulen zu bauen…

Sie bekommen in der Öffentlichkeit immer Zustimmung, weil man den Eindruck hat, man bewege sich in dem zustimmungspflichtigen Korridor. Und wenn „Umverteilung“, auch eine Phrase inzwischen, im Sinne von „Gerechtigkeit“, auch eine Phrase, propagiert wird, bekommen Sie in der Öffentlichkeit fast immer Zustimmung. Wer will schon sagen, dass er gegen Gerechtigkeit sei? Aber genau diese Frage muss man stellen: Wer verteilt welches Geld mit welchen Methoden um?

Also haben Sie ein Umkehrbuch zu Nölle-Neumanns Schweigespirale geschrieben. Es gibt ja möglicherweise so etwas wie eine Applaus-Spirale.

Ja, das könnte man sagen.

Bei Sonntags-Umfragen ist es ja immer so gewesen, dass die Grünen stets über 10% lagen, oft sogar weit darüber. Bei zehn Bundestagswahlen sind die Grünen ins Rennen gegangen, allerdings nur einmal mit mehr als 10% am Wahltag. Ein bisschen wie ein Trainingsweltmeister, dem man applaudiert. Man kann vielen Dingen zustimmen, weiß aber, wie teuer das werden wird, so dass viele Wähler am Wahltag darauf verzichten, bei den Grünen das Kreuz zu machen.

Im Moment beklatschen immer mehr Deutsche die oftmals freiheitseinschränkenden Pläne der Grünen. Uns geht es so gut, dass wir uns teure Bio-Mittel leisten und uns wünschen, dass sie dem Anderen auch vorgeschrieben werden. Diese Aufteilung der Gesellschaft in zustimmungspflichtige und verdammungswerte Bereiche ist wirklich ein Problem für unsere Republik, weil die Republik uns alle angeht. Die Foren, auf denen Dinge, die uns gemeinschaftlich angehen, besprochen werden, werden immer kleiner, weil wir uns nur noch in Zustimmungs- oder Verdammungszonen bewegen. Insofern gefällt mir Ihr Wort von der Applaus-Spirale. Ich sehe mein Buch als Anti-Framing-Manual, weil diese 15 Phrasen immer ein tatsächliches Problem so framen, dass es weltanschauungskompatibel ist mit denen, die es äußern.

Nun gibt es in der Normalismus-Forschung Jürgen Link, der als protonormal die Engstirnigkeit bezeichnet, als flexibel normal bezeichnete er einen weiten Korridor, der vieles zulässt. Jetzt könnte man sagen, dass offiziell zwar vieles gehe, aber – wenn man denn „das Falsche“ sagt – der Korridor dann doch nicht so weit ist, vielleicht gar enger gefasst als in den 1950er Jahren.

Wenn man Darstellungen aus dem Mittelalter liest, bekommt man den Eindruck, dass jenseits einer stark hierarchisch geprägten Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen vor Ort größer erscheint, als wir es heute sehen, wenn es um Geschmacksäußerungen geht, um einen Lebenszuschnitt. Natürlich haben wir heute große Freiheiten, die auch ich nicht missen möchte, natürlich wünsche ich mir nicht die Ständegesellschaft zurück. Aber es wächst der moralische Druck. Aus Geschmacks- und Gefühlsurteilen werden moralische Verdikte.

Vielleicht könnte man dies mit der Zeit der Hexenverfolgung vergleichen, die im späten 16. & 17. Jahrhundert um sich griff, also nicht im Mittelalter, sondern erst, als die Reformation einsetzte, allerdings nicht wegen der Reformation, sondern weil die Bevölkerung unsicher war, was sie denn durfte, ähnlich wie die Landesherren mit der neuen oder noch alten Religion sich unsicher waren, was man denn durfte, was normal ist…

…das könnte sein…

…vorher galt das Motto „auf der Alm, da gibt´s koa Sünd“. Die Umbruchstimmung führte vielleicht dazu, obwohl wir heute von einer physischen Hexenverfolgung möglicherweise weit entfernt sind.

Wir blicken zurück auf eine von den 1960ern bis heute währende Liberalisierung und Pluralisierung der meisten Lebensbereiche, sind aber von unserem Mindset die gleichen Menschen wie vor 40, 50 oder gar vor 500 Jahren. Der innere Luther, Calvin oder Bernhard von Clairvaux sitzt noch in uns. Wir sind durch 60 Jahre zunehmender Liberalisierung hindurch, aber auch durch 60 Jahre permanenter Herausforderung, wenn nicht Überforderung. Wir haben heute so viele Wahlmöglichkeiten, dass wir uns lustvoll oder gezwungen dorthin begeben, wo uns die Wahl abgenommen wird. Im Namen der Liberalisierung greift antiliberales Denken um sich, wenn ich an die hysterische Weise denke, in der über den Klimawandel diskutiert wird oder über die Rollen von Mann und Frau in der Öffentlichkeit. Siegreiche Phrasen zeigen, dass wir uns in einer Gesellschaft der eingehegten Pluralität befinden, der orchestrierten Pluralität und der unzulässigen Eigensinnigkeit.

Erniedrigt sich der Phrasensprecher nicht selbst? Man hat ja seit 1949 auf dem Papier Meinungsfreiheit, vielleicht weiß man ja aus Opportunismus sich nicht anders zu erwehren, als mit den Wölfen zu heulen.

Wir haben Meinungsfreiheit. Punkt. Doch womit erzielen Sie soziale Distinktionsgewinne? Nicht dadurch, dass Sie sich absetzen. Sie gewinnen heute eher Terrain, indem Sie sich eingemeinden, anschließen, mitmachen, auf der richtigen Seite stehen. Verbal gibt es noch Paradiesvogel und Querdenker, faktisch nicht. Wir haben längst eine Gilde der Eigenbrötler, eine Kommunität der Paradiesvögel. Im Namen der Pluralität und der Extravaganz haben wir neue Gruppenzwänge ausgebildet.

Man könnte mit Nudging und Repression etwas durchzusetzen. Stellen wir uns vor, wir hätten einen schnöden Interessenverband. Man könnte doch, indem man sich an die Spitze dieses Interessenverbundes eine Person holt, die einer diskriminierten Gruppe angehört, einer Minderheit zum Beispiel oder eine Person, die ein Handicap hat, sei es eine junge Dame mit Behinderung, sei es ein Nicht-Volljähriger. Wenn man so jemandem dann widerspricht, zeigt man ja in erster Linie, dass man unanständig ist, über keine Kinderstube verfügt und den nötigen Respekt vermissen lässt. Wäre es nicht sehr klug, an die Spitze der Bewegung jemanden zu setzen, dem zu widersprechen eine Sauerei wäre?

Das würde die Wände des Meinungsbezirkes noch höher ziehen. Am Boden der Überzeugung, dass wir das vermeintlich Abweichende besonders hochschätzen müssen, steht eine weitere Phrase: „Jeder verdient Respekt“. Sie wird von der Bundeszentrale für politische Bildung, von vielen Politikern vertreten. Aber nicht jeder verdient Respekt, sonst verdiente auch der Respektlose ihn. In der heutigen Alltagssprache spricht man von Respekt für statt dem Respekt vor. Aus dem Dativ wurde Akkusativ, aus zu verdienender Achtung ein Gratisgeschenk für alle…

…das bedingungslose Grundeinkommen sozusagen…

…Das bedingungslose moralische Grundeinkommen heißt Respekt. Es ist wie jedes bedingungslose Grundeinkommen schlecht, weil dadurch der Respektlose animiert wird, in seiner Respektlosigkeit fortzufahren. Er sagt ja nur: „Respektiere meine Respektlosigkeit!“.

Gibt es eine Sittengeschichte der Phrasen oder der Widersprüche? So etwas könnte man ja als Dissertationsthema ausschreiben.

Meine Untersuchung erstreckt sich auf den Zeitrahmen 2015 bis heute. Initiiert wurde sie durch Merkels Satz mit Bezug auf die Flüchtlingskrise, „Wir schaffen das.“ Ein reiner Behauptungssatz, man weiß nicht, wer WIR ist, man weiß nicht, was DAS ist und auch nicht, was SCHAFFEN meint. Eine Sittengeschichte der Phrasen fände ich sehr gut. Wir wissen natürlich, dass es Vorgänger gibt. So von Ambrose Bierce „Des Teufels Wörterbuch“ oder „Das Wörterbuch der Gemeinplätze“ von Flaubert oder „Auslegung der Gemeinplätze“ von Bloy.

Ist es ein Zeichen argumentativer Schwäche, Phrasen zu benötigen? Man denke an die Analogie des klammernden Boxers, dem die Luft weggeht, der ja auch zu unlauteren Methoden greift, um nicht k.o. zu gehen.

Es ist Opportunismus und Bequemlichkeit. Man kaut die Gedankengänge nach, die ein anderer schon hatte. Ich kann mich als Journalist durch Debatten schlängeln, ohne sie wirklich zu begreifen. Indem ich konsequent Virtue Signaling betreibe, das moralisch korrekte Codewort setze, immunisiere ich meinen Text und meine Arbeit gegen Einwände. Hinzu kommt: Wenn Journalisten immer mehr schreiben müssen für weniger Geld und immer seltener Spezialisten sind, ist es oft blanke Not, wenn man zur Phrase greift und das Argument verschmäht. Argumente zu entwickeln und Dinge zu begreifen, kostet Zeit.

Ja gut, aber dies nimmt das Publikum auch dankbar auf. Es gibt ja Sender und Empfänger, Angebot und Nachfrage, Schlüssel und Schloss. Wenn also das Publikum mehr oder weniger eklektizistisch informiert ist, überhaupt Generalist sein müsste, aber dazu keine Lust hat, reicht das ja durchaus aus. Ich provoziere. Man einigt sich also auf die Unwahrheit.

Es reicht in der Öffentlichkeit. Aber ich denke, dass dadurch der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Reden wächst, weil wir in der privaten Auseinandersetzung auf Individualität achten, wie es sie gerade im Derben und Direkten gibt. Phrasen sind Sätze, die nicht wehtun. Aber wo bleibt die Republik, wenn das öffentlich erwünschte Reden und das privat praktizierte Reden so weit auseinanderklaffen, dass es zwei getrennte Bereiche werden? Die Gefahr ist da, dass wir eine phraseologische Elite auf der einen Seite haben und außerhalb dessen eine kunterbunte Welt der Einzelnen in freier Vergemeinschaftung. Wir müssen schauen, dass wir die beiden Felder annähern, dass also die Politik aussteigt aus dem Regiment der Phrasen. Das Risiko wäre allerdings nicht zu verachten, weil man mit Phrasen unfallfrei durch eine politische Karriere kommt.

Sie sprachen jetzt die Spezialisten und Spindoctors der Phraseologie an. Es regen sich ja aktuell viele über Elisabeth Wehling auf, die in Berkeley für Framing zuständig ist. Selbst war ich vor 12 Jahren sehr kurz an der Uni in Berkeley, hatte in diesem Rahmen eine Rhetorikvorlesung besucht, also nicht „Schaka-Schaka“-Manager-Motivations-Rhetorik, sondern im Rahmen klassischer Rhetorik einen Kurs belegt, in dem am Rande auch das alte Thema schlechter Ruf von Rhetorik thematisiert wurde. Nicht zuletzt durch die Sophisten wurde das Hässliche mit rhetorischer Schminke sozusagen aufgehübscht. Genau diesen Vorwurf machen ja auch einige Kritiker Frau Wehling heute, die für die ARD ein „Framing Manual“ erstellt hatte. Ihrem Manual zufolge müsse man Worte aufladen und zur Not ändern, zum Beispiel nicht von Zwangsabgaben für den Rundfunk sprechen, sondern von einer Unterstützung für unseren freien Rundfunk. Fühlt man sich besser, wenn es anders klingt oder ist es Schminke? Gibt man, wenn man mit Worten Wirklichkeiten anders ausleuchtet, nicht zu viel Macht in die Hände von manipulativen Spindoctors?

Framing funktioniert. Es heißt nicht mehr Rundfunkgebühr, sondern Beitrag, obwohl es der gleiche Vorgang ist. Gesellschaftliche Veränderung beginnt oft mit sprachlicher Veränderung. Wir haben in Brandenburg das mutmaßlich verfassungswidrige Paritätsgesetz, das jetzt offiziell, von denen, die es eingebracht hatten, Parité-Gesetz genannt wird. Das Wort hat vorher keiner in Deutschland gehört…

…es gibt ja viele Hugenotten da (Esser schmunzelt)…

Es geht darum, die Trias Égalité, Fraternité, Liberté zu erweitern, zu sagen: Ah, jetzt wird in Brandenburg praktisch die Aufklärung, wird die Französische Revolution vollendet. Das ist furchtbarer Phrasenbullshit, weil man natürlich Gerechtigkeit unter Umgehung des Rechtes nicht herstellen kann. Wer meint, man könne Gerechtigkeit durch Gesetzesbiegung erreichen, der landet erst recht in der Ungerechtigkeit.

Es gehen ja praktisch die 10er Jahre zu Ende, die 20er Jahre des 21.Jahrhunderts fangen an. Wohin wird die Entwicklung gehen, was ist Ihre Prognose für das nächste Jahrzehnt – werden sich die Leute weiterhin einlullen lassen oder wird es eine starke Gegenbewegung geben, vielleicht beides, dass sich ein Teil sagt, es ist ja so bequem und ein anderer Teil sich abspaltet und sagt, dass es einem aber auf den Wecker geht. Was denken Sie?

Alles, was wir jetzt im Jahr 2019 bereden, wird sich rascher ändern, als wir es uns vorstellen können, in dem Moment, wo die bisherigen Anzeichen zur Rezession sich zu einer tatsächlichen Rezession ausweiten. Man kann sich gewisse sprachliche Wohlfühloperationen nur dann leisten, wenn genug Geld auf dem Tisch liegt. Man kann Geld ausgeben für sprachliche Überrumpelungswettbewerbe und Framing-Gutachten und arretierte Meinungszonen, wenn Geld da ist, um sich diese ernsten Späße leisten zu können. Sobald wir uns wirklich fragen müssen, wie gehen wir mit den Arbeitslosen um, wie mit einer Rentnergeneration, die dann vielleicht nur noch 40% Einkommens als Rente hat, stellen sich ganz andere Fragen. Dann kommen wir zurück zu basalen Herausforderungen…

…Ein neuer Existenzialismus….

…aber damit  auch zu einer fundamentalen, gleichwohl hoffentlich auch friedlichen Weise zu kommunizieren.

Es ist so ein bisschen wie bei dem Fußballspiel, wo die Bälle nur hin- und hergeschoben wurden. Das Spiel wäre vielleicht ein wenig interessanter noch gewesen, hätte Hrubesch noch ein paar Pirouetten gedreht, aber sobald ein weiteres Tor gefallen wäre, hätte man all das vergessen könne.

Es war in Gijón, die Schmach von Gijón, 1982. Das 1:0 fällt ganz früh, und es tut sich danach nichts mehr.

Wenn dann dummerweise, ohne Absicht, noch das 2:0 gefallen wäre, die Not also drückt, wäre all das Geschiebe hinfällig gewesen.

Exakt. Ich rede hier keine Not herbei und wünsche mir keine Unruhen, aber klar ist, dass die Phrase deshalb heute quasi unumschränkt herrschen kann, weil abseits der Phrase die Infrastruktur und die Wirtschaft funktionieren. Deswegen kann man sagen, dass die Phrasen nicht dem wirtschaftlichen Gedeihen unseres Landes schaden. Die Phrasen schaden aber sehr wohl dem nachhaltigen Denken. Phrasen verhindern, dass man die Zukunft in den Blick nimmt, weil Phrasen das Denken zementieren. Phrasen frieren den Status Quo ein. Und wenn ich von Menschen umgeben bin, die auf der Basis von Phrasen unser Gemeinwesen organisieren, dann kann ich keine Aufbrüche haben, dann befinde ich mich im argumentativen Stellungskrieg.

Vor 20 Jahren hatten wir mit Gerhard Schröder einen Kanzler, dem man einen Hang zur Phrase nachgesagt hatte. Er war knapp 7 Jahre im Amt, gerade mal halb so lang wie seine noch regierende Amtsnachfolgerin. Er, also Schröder, hat meiner Ansicht nach dennoch, im Gegensatz zu Merkel, einige Errungenschaften vorzuweisen, wobei Merkel doch eigentlich als akribische Arbeiterin gilt, die gar nicht viel reden könne. Warum sind wir in Zeiten der Phrase, wo doch Merkel keine gute Rhetorikerin ist?

Frau Merkel ist die Phrasenkönigin unserer Republik. Merkel setzt sehr bewusst das Mittel des schlechten Deutsch ein, weil sie a) kein Deutsch kann, aber auch b) ihr das zugutekommt, weil sie fast nie auf den Sinn ihrer Sätze festgenagelt wird. Ein solcher Sinn existiert in vielen Fällen nicht. Ich dokumentiere im Buch Aussagen von ihr aus Pressekonferenzen und Talkshows. Sie müssen die Sätze mehrfach lesen, um sich eventuell denken zu können, was sie gemeint haben könnte. Rückfragen von Journalisten unterbleiben in der Regel. Das heißt, wir haben hier an der Spitze eine Politikerin, die das, was sie sagen will, nicht kommunizieren kann und es auch nicht will, weil sie dann viel stärker angreifbar würde. Herr Schröder pflegte eine plastischere und daher viel angreifbarere Sprache, während wir von Frau Merkel mit Phrasen in einem sehr schlechten Deutsch abgespeist werden, die aber bewusst zur Stabilisierung ihrer Regierung eingesetzt werden.

Man könnte dies mit einem Lehrstuhlinhaber vergleichen, der seine Professur eigenen Leistungen zu verdanken hat, aber mit Amtsantritt die Lust am Forschen verliert, in seinen Vorlesungen die eigenen Studenten langweilt, sich kryptisch gibt, ein sinnloses Bullshitsprech mit Endlos-Sätzen pflegt, um nicht angreifbar zu sein, seine Studenten aber in Prüfungen bestehen lässt.

So ist es. Frau Merkel will sich nicht erklären, muss aber reden. Deshalb greift sie zu Phrasen. Das ist alles.

Sehr geehrter Herr Dr. Kissler, ich danke Ihnen für das Interview.

Das Buch „Widerworte – warum mit Phrasen Schluss sein muss“ ist im Handel erhältlich